OGH 1Ob174/03z

OGH1Ob174/03z1.8.2003

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schlosser als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Gerstenecker, Dr. Rohrer, Dr. Zechner und Univ. Doz. Dr. Bydlinski als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj. Tamás Zoltán S*****, geboren am *****, infolge außerordentlichen Revisionsrekurses der Mutter Veronika Ilona K*****, unbekannten Aufenthalts, vertreten durch Dr. Hans Wagner, Rechtsanwalt in Wien, als Abwesenheitskurator, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 28. April 2003, GZ 44 R 236/03m-29, folgenden

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 14 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

Text

Begründung

Die Mutter ist Ungarin. Ihr am 27. 2. 1992 unehelich geborener Sohn ist gleichfalls ungarischer Staatsangehöriger. Die Mutter ist seit mehreren Jahren unbekannten Aufenthalts. Sie wird durch einen Abwesenheitskurator vertreten. Der nunmehr in Österreich verheiratete Vater zog mit dem Minderjährigen 1996 endgültig nach Wien. Die Mutter hatte dieser "Auswanderung" zugestimmt.

Der Vater beantragte die Übertragung der alleinigen Obsorge.

Die Mutter wendete sich gegen dieses Begehren.

Das Erstgericht entzog der Mutter die "elterliche Aufsicht" und sprach aus, dass die Obsorge für den Minderjährigen künftig allein dem Vater zukomme.

Das Rekursgericht bestätigte diesen Beschluss "mit der Maßgabe", es werde festgestellt, "dass die Obsorge für den mj. Tamás ..., geboren am 27. 2. 1992, auf den Vater ... übergegangen ist." Den ordentlichen Revisionsrekurs ließ es nicht zu. Nach § 72 Abs 1 des ungarischen FamilienG - Nr. IV/1986 - stehe den Eltern die "elterliche Aufsicht" auch nach deren Trennung gemeinsam zu. Dieses Gewaltverhältnis kraft Gesetzes nach ungarischem Recht sei gemäß Art 3 des Haager Minderjährigenschutzabkommens (MSA) in allen Vertragsstaaten anzuerkennen. Allerdings hätten die Behörden des Staats, in dem der Minderjährige seinen gewöhnlichen Aufenthalt habe, gemäß Art 1 und Art 2 MSA die nach ihrem innerstaatlichen Recht vorgesehenen Maßnahmen zum Schutz der Person und des Vermögens des Minderjährigen zu treffen. Demnach sei auch der § 145 Abs 1 ABGB anwendbar. Die Mutter des Minderjährigen sei schon mehr als sechs Monate unbekannten Aufenthalts. Deshalb übe der andere Elternteil allein die Obsorge aus, was auf dessen Antrag gemäß § 145 Abs 2 ABGB festzustellen sei. Weil das Obsorgerecht der Mutter kraft Gesetzes erloschen sei und die Obsorge nach ungarischem Recht in diesem Fall dem unehelichen Vater zustehe, bedürfe es keines konstitutiven gerichtlichen Entziehungsakts. Der ordentliche Revisionsrekurs sei nicht zulässig, weil "keine Frage von der in § 14 Abs 1 AußStrG genannten Qualifikation zu lösen" gewesen sei.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist unzulässig.

1. Ungarn ist nicht Vertragsstaat des Haager Minderjährigenschutzübereinkommens (Mayr in Rechberger, ZPO² § 110 JN Rz 8). Gemäß Art 13 Abs 1 MSA ist das Übereinkommen jedoch auch auf Minderjährige anzuwenden, die - wie hier - zwar einem Nichtvertragsstaat angehören, ihren gewöhnlichen Aufenthalt jedoch in einem Vertragsstaat haben (4 Ob 63/03y; 1 Ob 17/02k). Nach Art 1 MSA sind die Behörden des Staates, in dem der Minderjährige seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, vorbehaltlich der Bestimmungen der Art 3, 4 und 5 Abs 3 MSA dafür zuständig, Maßnahmen zum Schutz der Person und des Vermögens des Minderjährigen zu treffen. Darunter fallen auch Obsorgeregelungen (4 Ob 63/03y; 1 Ob 17/02k; 2 Ob 117/00w; 8 Ob 106/98s; 8 Ob 1519/93 = RZ 1994/53). Grundlage der Entscheidung ist stets das Kindeswohl, dessen Beachtung, sofern es - wie hier gemäß § 71 Abs 1 des ungarischen Gesetzes über die Ehe, die Familie und die Vormundschaft (Nr. IV/1952 idF Nr. IV/1986) - auch im Heimatstaat berücksichtigt wird, selbst ein gesetzliches Gewaltverhältnis im Sinne des Art 3 MSA nach den tieferstehenden Erwägungen verdrängen kann (1 Ob 17/02k; 7 Ob 596/90 = SZ 63/204).

Gemäß Art 3 MSA ist ein gesetzliches Gewaltverhältnis nach dem Heimatrecht des Minderjährigen - so eine Obsorgeregelung, bei der schon das Gesetz an einen Sachverhalt eine bestimmte Rechtsfolge knüpft, ohne dass ein Gericht oder eine Behörde einzugreifen hat (4 Ob 63/03y) - anzuerkennen. Deshalb darf der Aufenthaltsstaat eine Schutzmaßnahme nur anordnen, wenn der Heimatstaat dieselbe Angelegenheit entweder nicht durch ein gesetzliches Gewaltverhältnis geregelt hat (4 Ob 63/03y) oder den Eingriff in ein solches Gewaltverhältnis selbst gestattet (2 Ob 117/00w; inhaltlich ebenso 4 Ob 63/03y). Ist der Aufenthaltsstaat danach für die Anordnung einer Schutzmaßnahme kompetent, so sind die Voraussetzungen, der Inhalt und die Wirkungen der Übertragung der Obsorge gemäß Art 2 MSA nach österreichischem Recht zu beurteilen (4 Ob 63/03y; 1 Ob 17/02k; 8 Ob 1519/93 = RZ 1994/53). Diese Kompetenz darf im Übrigen nicht mit der Befugnis des Aufenthaltsstaats zur Anordnung von Sofortmaßnahmen zur Hintanhaltung bzw Bewältigung einer aktuellen ernstlichen Gefährdung des Minderjährigen gemäß Art 8 MSA verwechselt werden.

2. Gemäß § 72 Abs 1 des ungarischen Gesetzes über die Ehe, die Familie und die Vormundschaft (Nr. IV/1952 idF Nr. IV/1986) üben die Eltern eines Kindes die elterliche Aufsicht, die der Obsorge nach österreichischem Recht gleichzuhalten ist, auch nach deren Trennung gemeinsam aus. Nach § 72 Abs 3 dieses Gesetzes ist die gemeinsame elterliche Aufsicht auf Antrag eines Elternteils zu beenden, wenn "die Eltern nicht mehr miteinander kooperieren können", soweit das "auch im Hinblick auf die Entwicklung des Kindes" geboten ist. Ist ein Elternteil unbekannten Aufenthalts, so ruht dessen elterliche Aufsicht gemäß § 91 Abs 1 lit b der erörterten ungarischen Rechtsquelle schon kraft Gesetzes. Das ungarische Recht ordnet daher den Eingriff in das gesetzliche Gewaltverhältnis der gemeinsamen elterlichen Aufsicht auch dann an, wenn ein Elternteil unbekannten Aufenthalts ist. Unter dieser Voraussetzung ist aber nach den Erwägungen unter 1. für eine Obsorgeregelung als Schutzmaßnahme nach Art 1 MSA das innerstaatliche Recht maßgebend. Gemäß § 145 Abs 1 ABGB ist ein Elternteil bei gemeinsamer Obsorge beider Elternteile allein mit der Obsorge betraut, wenn der andere Elternteil - wie hier - seit mindestens sechs Monaten unbekannten Aufenthalts ist. Das ist gemäß § 145 Abs 2 ABGB auf Antrag des Elternteils, auf den die Obsorge nach § 145 Abs 1 ABGB überging, festzustellen.

3. Der angefochtene Beschluss beruht auf der voranstehend erläuterten Rechtslage. Die Entscheidung hängt daher nicht von der Lösung einer erheblichen Rechtsfrage nach § 14 Abs 1 AußStrG ab.

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