OGH 2Ob92/02x

OGH2Ob92/02x26.6.2003

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Niederreiter als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schinko, Dr. Tittel, Dr. Baumann und Hon. Prof. Dr. Danzl als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj. Sabrina H*****, in Pflege der Pflegemutter Marina S*****, über den Revisionsrekurs des Magistrates der Stadt Wien, Amt für Jugend und Familie als Sachwalter, gegen den Beschluss des Jugendgerichtshofes Wien als Rekursgericht vom 15. Februar 2002, GZ 1 RM 5/02d-85, womit infolge Rekurses der Pflegemutter der Beschluss des Jugendgerichtshofes vom 29. November 2001, GZ 7 P 59/96k-74, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Aus Anlass des Rechtsmittels des Sachwalters werden die Beschlüsse der Vorinstanzen als nichtig aufgehoben.

Dem Erstgericht wird eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Text

Begründung

Das Kind befindet sich ab der siebenten Woche seit seiner Geburt in Pflege der Pflegemutter Marina S*****.

Mit Beschluss vom 28. 5. 1997 wurde dem Amt für Jugend und Familie die Obsorge übertragen.

Die Pflegemutter beantragt die Übertragung der vollen Obsorge an sie, weil sich die leibliche Mutter nur sporadisch um das Kind kümmere und nicht leicht erreichbar sei.

Der Jugendwohlfahrtsträger sprach sich gegen eine Obsorgeübertragung aus.

Das Erstgericht wies den Antrag auf Übertragung der Obsorge an die Pflegemutter ab, ohne die leibliche Mutter zu hören. Die Pflegemutter sei nach Deutschland verzogen und komme nur sporadisch nach Wien. Es bestehe keine Veranlassung, dem Jugendwohlfahrtsträger das Sorgerecht zu entziehen, da weder eine Zustimmung der Kindesmutter vorliege noch eine Übertragung dem Wohl des Pflegekindes diente.

Die Entscheidung des Erstgerichtes wurde lediglich der Pflegemutter und dem Jugendwohlfahrtsträger, nicht aber auch der leiblichen Mutter zugestellt.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Pflegemutter Folge und übertrug die Obsorge über das Kind an sie.

Seit Inkrafttreten des KindRÄG 2001 habe ein Pflegeelternteil nach § 186 Abs 1 ABGB einen subjektiven Anspruch auf Übertragung der Obsorge, wenn das Pflegeverhältnis nicht nur für kurze Zeit beabsichtigt sei und die Übertragung der Obsorge dem Wohl des Kindes entspreche. Eine fehlende Zustimmung der Eltern hindere die Übertragung der Obsorge auf Pflegeeltern nur dann, wenn die Eltern aktuell mit der Obsorge betraut seien und mit dem Unterbleiben der Übertragung der Obsorge an Pflegeeltern das Kindeswohl nicht gefährdet werde. Die fehlende Zustimmung der Kindesmutter zur Übertragung der Obsorge sei ohne Bedeutung, weil die Obsorge bereits in vollem Umfang dem Jugendwohlfahrtsträger übertragen worden sei. Da das Kind bereits sieben Wochen nach seiner Geburt zur Pflegemutter gekommen sei und seither bei ihr lebe, sei das Pflegeverhältnis nicht nur für kurze Zeit beabsichtigt. Es seien keine Gründe dafür ersichtlich, dass eine Übertragung der Obsorge an die Pflegemutter nicht dem Wohl des Kindes entspreche. Die Pflegemutter pflege einen ausreichend intensiven Kontakt zu den Behörden und gebe diesen auch ihre regelmäßigen Aufenthalte in Wien bekannt.

Auch diese Entscheidung wurde lediglich der Pflegemutter und dem Jugendwohlfahrtsträger zugestellt.

Dagegen richtet sich der Revisionsrekurs des Jugendwohlfahrtsträgers mit dem Antrag, die Obsorge weiterhin beim Jugendwohlfahrtsträger zu belassen.

Rechtliche Beurteilung

Anlässlich des Rechtsmittels ist eine den Vorinstanzen unterlaufene Nichtigkeit wahrzunehmen.

Gemäß § 186a ABGB idF Art 1 Z 36 KindRÄG 2001 hat das Gericht einem Pflegeelternpaar (Pflegeelternteil) auf seinen Antrag die Obsorge für das Kind ganz oder teilweise zu übertragen, wenn das Pflegeverhältnis nicht nur für kurze Zeit beabsichtigt ist und die Übertragung dem Wohl des Kindes entspricht. Die Regelungen über die Obsorge gelten dann für dieses Pflegeelternpaar (diesen Pflegeelternteil). Sind aber die Eltern oder Großeltern mit der Obsorge betraut und stimmen sie der Übertragung nicht zu, so darf diese nur verfügt werden, wenn ohne sie das Wohl des Kindes gefährdet wäre (Abs 2 leg cit). Nach Abs 4 leg cit hat aber das Gericht vor seiner Entscheidung die Eltern, den gesetzlichen Vertreter, weitere Erziehungsberechtigte, den Jugendwohlfahrtsträger und jedenfalls das bereits zehnjährige Kind zu hören.

Dieses Anhörungsrecht entfällt nur dann, wenn der Anhörungsberechtigte nicht oder nur mit unverhältnismäßgen Schwierigkeiten gehört werden könnte (§ 181a Abs 2 ABGB, § 186a Abs 4 letzter Satz).

§ 186a Abs 2 ABGB in der Fassung vor der genannten Gesetzesänderung hatte ein Zustimmungsrecht der Eltern oder Großeltern, die die Obsorge über das Kind hatten oder sie einmal gehabt haben, vorgesehen und diesen ein "relatives Vetorecht" gegen die Übertragung eingeräumt (Stabentheiner in Rummel ABGB³ Rz 2 zu § 186a). Durch die Neufassung dieser Bestimmung durch das KindRÄG 2001 sollte das eingeschränkte Vetorecht leiblicher Verwandter in aufsteigender Linie, die irgendwann einmal die Obsorge gehabt hatten, entfallen (EBRV zu Art I Z 34; 296 BlGNR XXI. GP).

Die Entscheidungen der Vorinstanzen übersehen aber, dass den leiblichen Eltern ungeachtet der Änderung des § 186a Abs 2 ABGB durch das KindRÄG 2001 gemäß dem unverändert gebliebenen § 186a Abs 4 ABGB weiterhin ein Anhörungsrecht vor der Entscheidung über eine Obsorgeübertragung zukommt. Der Mutter wurde daher im vorliegenden Fall durch diese Vorgangsweise das rechtliche Gehör im Sinn des Art 6 Abs 1 MRK und des § 477 Abs 1 Z 4 ZPO entzogen. Eine solche Verletzung begründet auch im außerstreitigen Verfahren eine Nichtigkeit (RIS-Justiz RS005915, zuletzt 6 Ob 281/01v).

Das Erstgericht wird daher nach Anhörung der leiblichen Mutter, die aus Anlass eines früheren Obsorgeantrages gehört werden konnte, eine neuerliche Entscheidung zu fällen haben.

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