OGH 5Ob8/03t

OGH5Ob8/03t11.3.2003

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofes Hon. Prof. Dr. Langer als Vorsitzende und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Floßmann und Dr. Baumann und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofes Dr. Hurch und Dr. Kalivoda als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj Simon H*****, geboren am *****, vertreten durch die Mutter Nicole H*****, beide: ***** die Mutter vertreten durch Dr. Ingrid Gaßner, Rechtsanwältin in Bludenz, über den Revisionsrekurs des Vaters Alexander B*****, vertreten durch Dr. Michael Battlogg, Rechtsanwalt in Schruns, gegen den Beschluss des Landesgerichtes Feldkirch als Rekursgericht vom 8. November 2002, GZ 1 R 230/02k-33, womit der Beschluss des Bezirksgerichtes Bludenz vom 11. Oktober 2002, GZ 5 P 55/01x-29, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Text

Begründung

Simon H***** ist das uneheliche Kind von Nicole H***** und Alexander B*****, die bis zum Frühjahr 1999 eine Lebensgemeinschaft unterhielten. Das Kind befand sich seit seiner Geburt in Pflege und Erziehung der Mutter. Seit dem Auszug des Vaters aus der gemeinsamen Wohnung hielt sich das Kind durchschnittlich ca zwei bis drei Tage pro Woche beim Vater auf und übernachtete auch bei ihm.

Vom 28. 2. 2001 bis 29. 3. 2001 befand sich die Mutter in Untersuchungshaft. Während dieser Zeit betreute die mütterliche Großmutter das Kind. Mit Urteil vom 22. 1. 2002 zu 24 Hv 2/02p des Landesgerichtes Feldkirch wurde die Mutter wegen des Vergehens des teils vollendeten, teils versuchten schweren Betruges nach den §§ 146, 147 Abs 2 und 15 StGB und des Vergehens des Diebstahls nach § 127 StGB zu einer Geldstrafe in der Höhe von 300 Tagessätzen (EUR 4.500) sowie zu einer auf eine Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt. Gleichzeitig wurde Bewährungshilfe angeordnet und der Mutter die Weisung erteilt, sich einer psychotherapeutischen und psychosozialen Behandlung und Betreuung für mindestens ein Jahr zu unterziehen. Für die Entrichtung der Geldstrafe wurde ein Zahlungsaufschub bis 1. 12. 2002 bewilligt. Dem Strafakt ist nicht zu entnehmen, dass das Kind in die Straftaten der Mutter in irgend einer Weise einbezogen gewesen wäre.

Im Rahmen des Strafverfahrens wurde ein psychoneurologisches Gutachten eingeholt. Nach diesem liege bei der Mutter eine Persönlichkeitsstörung, die zu sozialen Verhaltensauffälligkeiten führe, vor. Bei günstigen Umfeldkonstellationen werde ein günstiger Verlauf prognostiziert. Es seien in den letzten Monaten entsprechende soziale Anpassungsversuche festzustellen. Unter intensiver psychotherapeutischer und psychosozialer Behandlung und Betreuung sei eher nicht zu befürchten, dass die Mutter auch in Zukunft Straftaten verüben werde.

Seit Sommer 2000 wohnt die Mutter und ihr erwachsener Bruder in der Wohnung der mütterlichen Großmutter. Seit 26. 6. 2001 ist die Mutter bei der Gemeinde B***** als Wohnungswerberin vorgemerkt.

Beim Hausbesuch der Sachbearbeiterin der Bezirkshauptmannschaft B***** vom 10. 4. 2001 machte die Wohnung einen sehr unordentlichen und schmutzigen Eindruck, es mussten aber von der Jugendwohlfahrtsbehörde keine Maßnahmen gesetzt werden. Bei einem angekündigten Hausbesuch von einem IfS-Familienarbeiter am 31. 7. 2001 war die Wohnung ebenfalls unordentlich.

Die Mutter ist berufstätig, ihre Dienstzeiten ändern sich wöchentlich. Während ihrer berufsbedingten Abwesenheit wird das Kind von der mütterlichen Großmutter betreut. Ab Herbst 2002 soll das Kind eine Spielgruppe besuchen. Simon sucht die Nähe der Mutter. Zwischen ihnen besteht eine gute emotionale Bindung. Die Mutter ist die primäre Bezugsperson.

Auch der Vater ist eine wichtige Bezugsperson des Kindes. Er ist seit 28. 6. 2002 verheiratet und bewohnt mit seiner Gattin eine ca 100 m2 große Vierzimmerwohnung in F*****, die auch über einen Gartenanteil mit Spielmöglichkeiten verfügt. Die Gattin des Vaters ist berufstätig. Der Dienstplan des Vaters als Rettungsfahrer wechselt wöchentlich, wobei er durchschnittlich vier Tage pro Woche frei hat. Während seiner berufsbedingten Abwesenheit könnte das Kind von der väterlichen Großmutter, einer Kindergärtnerin, betreut werden, in der Folge von seiner Schwiegermutter, die im selben Haus wie der Vater lebt und teilzeitbeschäftigt ist.

Im Sommer 2001 stimmte die Mutter gegenüber der väterlichen Großmutter zunächst zu, dass das Kind mit ihr und der Familie einige Tage am Comosee verbringen könnte. Vor der Abreise erklärte die Mutter aber, dass sie am folgenden Tag einen Termin beim IfS habe. Auch die Vereinbarung, dass der Vater das Kind im Rahmen seines Besuches mitnehmen könne, hielt die Mutter unter Hinweis auf einen Arzttermin nicht ein. Die väterliche Großmutter wies den Vater an, das Kind jedenfalls mitzubringen. Ohne Zustimmung und Wissen der Mutter wurde das Kind vom Vater nach einem Besuch zur väterlichen Großmutter an den Comosee gebracht. Die Mutter und ihre Verwandten mussten das Kind aus Italien abholen, da die väterliche Großmutter es ablehnte, das Kind nach Österreich zurückzubringen.

Die vereinbarten 14-tägigen Besuche fanden vom 26. 12. 2001 bis 5. 2. 2002 nicht statt, da der Vater überraschend einen längeren Urlaub antreten konnte. Am Besuchstag 13. 2. 2002 war das Kind krank. In der folgenden Woche fand der Besuch auch nicht statt, da die Mutter den Termin vergessen hatte. Einen Nachmittagstermin lehnte der Vater unter Hinweis auf andere Termine ab. 14 Tage später übte er das Besuchsrecht für nur eine Stunde aus, da die Mutter für die gleiche Zeit einen Termin zur Anpassung orthopädischer Schuhe für das Kind erhalten hatte. 14 Tage später vergaß die Mutter neuerlich einen Besuchstermin. Zwei Besuchstermine wurden vom Vater abgesagt, weil er krank bzw auf einem Praktikum war. Wegen der nur unregelmäßigen Kontakte zwischen Vater und Kind ist eine gewisse Unsicherheit beim Kind entstanden. Zweimal lehnte das Kind es ab, mit seinem Vater mitzugehen. Angebote der Mutter, die Besuche in ihrer Wohnung durchzuführen, lehnte der Vater ab.

Am 22. 5. 2001 beantragte der Vater, der Mutter die Obsorge des Minderjährigen zu entziehen und auf ihn zu übertragen. Diesen Obsorgeentziehungsantrag zog der Vater in der Tagsatzung vom 5. 2. 2002 im Hinblick auf den Umstand zurück, dass sich offensichtlich die Lebensverhältnisse bei der Mutter stabilisiert hätten.

Am 10. 4. 2002 stellte der Vater neuerlich den Antrag auf Entzug der Obsorge und Übertragung der Obsorge auf ihn.

Das Erstgericht wies den Antrag des Vaters ab, da keine akute Gefährdung des Kindeswohls erwiesen sei. Es könne auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Mutter beharrlich Besuchskontakte des Vaters zum Kind vereitle. Allein günstigere Wohnverhältnisse oder bessere Entwicklungsperspektiven des Kindes beim Vater könnten einen Entzug der Obsorge nicht rechtfertigen. Für den Verbleib des Kindes bei der Mutter spreche nicht nur der Grundsatz der Kontinuität der bisher ordnungsgemäßen Erziehung, sondern auch die größere emotionale Nähe des Kindes zu ihr und der Umstand, dass sie seine primäre Bezugsperson sei.

Das Rekursgericht bestätigte diesen Beschluss. In rechtlicher Hinsicht führte es aus, dass den Stellungnahmen von IfS-Familienarbeit und der Bezirkshauptmannschaft B***** entgegenzuhalten sei, dass sich seit dieser Beurteilung die Verhältnisse bei der Mutter verbessert hätten. Ausschlaggebend für die Entziehung der Obsorge sei das Kindeswohl. Eine Gefährdung des Kindeswohls sei dann anzunehmen, wenn die Obsorgepflichten objektiv nicht erfüllt oder subjektiv gröblich vernachlässigt worden seien oder wenn der mit der Obsorge betraute Elternteil durch sein Gesamtverhalten schutzwürdige Interessen des Kindes ernstlich und konkret gefährde. Auf Grund der Stellungnahme der Bezirkshauptmannschaft B***** sei zum jetzigen Zeitpunkt und mit dem gegebenen Informationsstand eine Kindeswohlgefährdung auszuschließen. Die Mutter habe sich seit der strafgerichtlichen Verurteilung wohlverhalten. Dass sie wegen Nichtbezahlung der Geldstrafe eine Ersatzfreiheitsstrafe antreten müsste, bleibe Spekulation. Es könne nicht in Abrede gestellt werden, dass das Kind auch beim Vater gut aufgehoben wäre und dort dessen Entwicklungsmöglichkeiten gefördert würden. Allerdings könne dieser Umstand allein nicht die Änderung der bisherigen Obsorgeregelung rechtfertigen.

Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei, da keine Rechtsfragen von erheblicher Bedeutung zu lösen gewesen seien.

Dagegen richtet sich der Revisionsrekurs des Vaters mit einem Abänderungsantrag.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig und im Sinne des in jedem Abänderungsantrag enthaltenen Aufhebungsantrags auch berechtigt.

Grundsätzlich ist die Entscheidung, welchem Elternteil die Obsorge für ein Kind zu übertragen ist, immer eine Frage des Einzelfalls (vgl RIS-Justiz RS0007101). Dies ist aber dann nicht der Fall, wenn auf das Kindeswohl nicht ausreichend Bedacht genommen wird (vgl 5 Ob 56/02z, 4 Ob 186/01h).

Das Gericht darf die Obsorge für das Kind ganz oder teilweise entziehen, wenn das Wohl des Minderjährigen gefährdet ist (§ 176 Abs 1 ABGB). Nach ständiger Rechtsprechung ist ein Wechsel in den Pflege- und Erziehungsverhältnissen nur dann vorzunehmen, wenn das Kindeswohl gefährdet ist, dieser also im Interesse des Kindes dringend geboten ist. Bei der Beurteilung dieser Frage ist grundsätzlich ein strenger Maßstab anzulegen (RIS-Justiz RS0048699, RS0047841). Die Änderung der Obsorgeverhältnisse darf nur als Notmaßnahme angeordnet werden (5 Ob 56/02z, RIS-Justiz RS0047841 [T 10]). Es genügt, dass die elterlichen Pflichten (objektiv) nicht erfüllt oder (subjektiv) gröblich vernachlässigt worden sind oder die Eltern durch ihr Gesamtverhalten das Wohl des Kindes gefährden (RIS-Justiz RS0048633). Bei der Entscheidung ist nicht nur von der momentanen Situation auszugehen, sondern sind auch Zukunftsprognosen zu stellen (RIS-Justiz RS0048632).

Wendet man die oben dargelegten Grundsätze auf den vorliegenden Rechtsfall an, so erweist sich die Sache als noch nicht entscheidungsreif. Nach der Stellungnahme des IfS-Familienarbeit, der sich die Bezirkshauptmannschaft B***** anschloss, wird empfohlen, die Obsorge auf den Vater zu übertragen und sie der Mutter zu entziehen, da die Entwicklungsperspektiven des Kindes beim Vater insgesamt deutlich günstiger seien (ON 9). Aus dem im Strafakt erliegenden psychiatrisch-neurologischen Gutachten des Sachverständigen Dr. J***** ergibt sich, dass die Mutter aus psychiatrisch-neurologischer Sicht eine Persönlichkeitsstörung habe, die zu sozialen Verhaltensauffälligkeiten führten. Es lägen anhaltende Charakteranomalien und Verhaltensmuster vor, deren Verläufe sich in Abhängigkeit von den Lebensumständen ändern könnten. Unter ungünstigen Bedingungen könne es zu neuerlichen Verhaltensauffälligkeiten und Strafhandlungen kommen, beim günstigen Verlauf zu einer Resozialisierung. Es seien gute Voraussetzungen da, um die sozialen Bedingungen zum Positiven zu ändern (AV des Erstgerichtes ON 15). Die Stellungnahme der Bezirkshauptmannschaft B***** vom 21. 6. 2002 (ON 23, ohne allerdings neuerliche Erhebungen vor Ort durchzuführen) schließt lediglich im Hinblick darauf, dass im letzten halben Jahr keine Meldungen in Bezug auf Gefährdung oder Vernachlässigung eingegangen seien, darauf, "dass eine Gefährdung des Kindeswohles zu diesem Zeitpunkt und mit diesem Informationsstand auszuschließen" sei (aus ON 28 ergibt sich der letzte Hausbesuch vor ca 1 ½ Jahren). Die Bezirkshauptmannschaft hielt die bereits erfolgte Stellungnahme aufrecht.

Die Vorinstanzen haben nun den Schluss der Bezirkshauptmannschaft, dass eine Gefährdung des Kindeswohls auszuschließen sei, weil im letzten halben Jahr keine Meldungen über eine Gefährdung oder Vernachlässigung eingegangen seien, ohne weitere Erhebungen ihren Entscheidungen zu Grunde gelegt und sich mit dem im Strafverfahren eingeholten psychologischen Gutachten (mit ganz anderem Gutachtensauftrag) begnügt. Auf dieser Grundlage kann weder eine allfällige Gefährdung des Kindeswohls, noch die momentane Familiensituation beurteilt, geschweige denn eine taugliche Zukunftsprognose erstellt werden. Es ist unumgänglich, dass im fortzusetzenden Verfahren die Feststellungsgrundlage durch Einholung eines Gutachtens aus dem Bereich der (Jugend)Psychologie und (Jugend)Psychiatrie verbreitert wird. Dies ist im konkreten Einzelfall notwendig, um sowohl das (aktuelle) Verhältnis zwischen dem Kind und seinen Eltern als auch die Erziehungs- und die Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes zu objektivieren. Erst dann wird beurteilt werden können, ob das Wohl des Kindes im Hinblick auf die Straftaten der Mutter und das Ergebnis des im Strafverfahren erstatteten Gutachtens beim Verbleib der Obsorge bei der Mutter gefährdet ist oder nicht.

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