OGH 1Ob5/03x

OGH1Ob5/03x28.2.2003

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schlosser als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Gerstenecker, Dr. Rohrer, Dr. Zechner und Univ. Doz. Dr. Bydlinski als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Lucia L*****, vertreten durch Dr. Olaf Borodajkewycz, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei C***** Aktiengesellschaft, ***** wegen Wiederaufnahme eines Verfahrens (Streitwert 19.765,27 EUR sA) infolge Revisionsrekurses der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Rekursgericht vom 6. November 2002, GZ 16 R 234/02b-6, womit der Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 10. September 2002, GZ 28 Cg 71/02w-3, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben; dem Erstgericht wird die Einleitung des gesetzmäßigen Verfahrens über die Wiederaufnahmsklage aufgetragen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Prozesskosten.

Text

Begründung

Die beklagte Partei hatte im Verfahren AZ 29 Cg 79/97v des Landesgerichts für ZRS Wien von der Klägerin die Rückzahlung aushaftender Darlehen im Gesamtbetrag von 355.553 S sA begehrt. In diesem Verfahren, dessen Wiederaufnahme die Klägerin verlangt, wiesen das Erst- und das Berufungsgericht einen Teil des Klagebegehrens (83.577 S sA) ab und erkannten die Klägerin schuldig, der beklagten Partei 271.976 S sA zu zahlen. Die gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts erhobene außerordentliche Revision wies der erkennende Senat mit Beschluss vom 29. 6. 1999 zurück (1 Ob 187/99b). In diesem Verfahren hatte die Klägerin (als Beklagte) eingewendet, die von der beklagten Partei verrechneten Zinsen entsprächen nicht der Vereinbarung, sie überstiegen die "Wuchergrenze", weshalb die Geltendmachung eines 12 % übersteigenden Verzugszinssatzes unzulässig und gemäß § 879 ABGB nichtig sei, die Vereinbarung eines variablen Zinssatzes sei gemäß § 6 Abs 1 Z 5 KSchG unwirksam, und alle Darlehen müssten über die gesamte Laufzeit mit den vereinbarten Zinssätzen von 8,5 bzw 9,5 % abgerechnet werden. In rechtlicher Hinsicht führten die Vorinstanzen aus, die konkreten Zinssätze seien für alle Zinsen vereinbart worden, eine Zinsenanpassungsmöglichkeit sei aber nicht schlechthin unzulässig. Die Anhebung sowohl der Darlehens- wie auch der Verzugs- und Zinseszinsen dürfe aber nur in dem Ausmaß erfolgen, in dem die Bankrate gestiegen sei, und diese müssten in dem Maß gesenkt werden, in dem eine Senkung der Bankrate stattgefunden habe. Mangels entgegenstehender Vereinbarung dürften die Zinsen aber nicht unter den jeweils ursprünglich vereinbarten Zinssatz (8,5 bzw 9,5 % für die Darlehenszinsen und 12 % für die Verzugs- und Zinseszinsen) abgesenkt werden.

Die Klägerin begehrte die Wiederaufnahme des genannten Verfahrens aus dem Grund des § 530 Abs 1 Z 7 ZPO. Durch eine Mitteilung des Pressedienstes der Europäischen Kommission vom 11. 6. 2002 habe sie erfahren, dass die beklagte Partei an einem weitreichenden Preiskartell, dem sogenannten "Lombard-Club", beteiligt gewesen sei, und dabei sei es zu unzulässigen Absprachen über Kreditzinsen zum Nachteil der Verbraucher gekommen. Die zwischen den Banken vereinbarten Zinssätze seien nicht marktkonform gewesen, sondern künstlich hochgehalten worden. Unter Zugrundelegung marktkonformer Zinssätze hätte die Klägerin im wiederaufzunehmenden Verfahren obsiegt.

Das Erstgericht wies die Wiederaufnahmsklage zurück. Die der beklagten Partei vorgeworfenen unzulässigen (sittenwidrigen) "Preisabsprachen" hätten erst nach dem Auslaufen des Richtsätzekartells für Aktiv- und Passivzinsen im Jahre 1989 begonnen, die Darlehensvereinbarungen seien aber schon viel früher getroffen worden. Im Übrigen habe das Erstgericht im wiederaufzunehmenden Verfahren nur solche Zinssatzänderungen als berechtigt erkannt, die den Vereinbarungen entsprechend an die Veränderung des Diskontsatzes geknüpft gewesen seien; das darüber hinausgehende Begehren der beklagten Partei, insbesondere auf Zahlung "banküblicher Verzugszinsen", sei mangels Vereinbarung ohnehin abgewiesen worden. Das der beklagten Partei angelastete Fehlverhalten habe somit keine Auswirkungen auf das Ergebnis des wiederaufzunehmenden Verfahrens; die von der Klägerin benannte neue Tatsache bilde mangels Relevanz keinen tauglichen Wiederaufnahmsgrund.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei. Es könne dahingestellt bleiben, ob die Absprachen im "Lombard-Club" schon vor dem Abschluss der Darlehensverträge stattgefunden hätten, denn ein erheblicher Teil des Zinsenbegehrens der beklagten Partei sei im wiederaufzunehmenden Verfahren ohnehin abgewiesen worden. Das Urteil habe sich auf ein Sachverständigengutachten gestützt, in dem die an die Bankrate angepassten jeweiligen Zinsen berechnet worden seien. Die neue Tatsache, nämlich die Entscheidung der Europäischen Kommission über die Verhängung von Geldbußen, sei erst nach Schluss der Verhandlung erster Instanz des wiederaufzunehmenden Verfahrens eingetreten, weshalb diese Änderung des Tatbestands eine Wiederaufnahmsklage nicht rechtfertige.

Der Revisionsrekurs der Klägerin ist zulässig und berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Die Klägerin behauptet, sie habe erst kürzlich von der Tatsache Kenntnis erlangt, dass die beklagte Partei im Rahmen eines Preiskartells unzulässige Absprachen über Kreditzinsen zum Nachteil der Kreditnehmer getroffen und künstlich hoch gehaltene, nicht marktkonforme Zinssätze unter anderem auch mit ihr vereinbart habe. Mit diesem Vorbringen unterstellte sie der beklagten Partei eine sittenwidrige Vorgangsweise. Entgegen der vom Erstgericht vertretenen und vom Berufungsgericht dahingestellt gelassenen Ansicht lässt sich aus der Beilage B nicht ohne weiteres ableiten, dass unzulässige Zinsabsprachen erst nach dem Abschluss der Darlehensverträge der Klägerin mit der beklagten Partei stattgefunden hätten. Die Abweisung eines Teils des Begehrens der beklagten Partei im wiederaufzunehmenden Verfahren gründet sich auch nicht darauf, dass künstlich hochgehaltene und nicht marktkonforme Zinssätze verrechnet worden seien, sodass aus dieser Abweisung nicht der Schluss gezogen werden kann, das nunmehrige neue Tatsachenvorbringen der Klägerin habe ohnehin schon im wiederaufzunehmenden Verfahren Berücksichtigung gefunden.

Nicht die Entscheidung der Europäischen Kommission vom 11. 6. 2002 ist jene neue Tatsache, auf die sich die Klägerin in ihrer Wiederaufnahmsklage stützt. Vielmehr beruft sie sich als neue Tatsache darauf, dass in unzulässiger (= sittenwidriger) Weise nicht marktkonforme Zinssätze vereinbart und in Rechnung gestellt worden seien. Diese Änderung des Sachverhalts ist aber nach dem Vorbringen der Klägerin nicht erst nach Schluss der Verhandlung erster Instanz im wiederaufzunehmenden Verfahren eingetreten, sodass diese neue Tatsache, von der die Klägerin behauptet, sie hätte eine ihr günstigere Entscheidung im wiederaufzunehmenden Verfahren bewirkt, als Wiederaufnahmsgrund geltend gemacht werden kann. Die Entscheidung der Europäischen Kommission stellt lediglich das - erst nach Schluss der Verhandlung erster Instanz im wiederaufzunehmenden Verfahren entstandene - Beweismittel dar, das sich auf bereits früher vorhandene Tatsachen bezieht (vgl EFSlg 82.315; Kodek in Rechberger, ZPO2 Rz 1 und 5 zu § 530; Fasching, Lehrbuch2 Rz 2063).

Die von der Klägerin neu vorgebrachten Tatsachen sind auch a priori nicht ungeeignet, eine für sie günstigere Entscheidung über den Streitgegenstand des Vorprozesses herbeizuführen, genügt doch schon die Möglichkeit eines günstigeren Ergebnisses (Kodek aaO; Fasching aaO Rz 2068). Dass die Klägerin im wiederaufzunehmenden Verfahren nicht eingewendet hat, ihr seien unzulässige, künstlich hoch gehaltene und damit sittenwidrige Zinsen in Rechnung gestellt worden, schadet nicht. Einer ursprünglich beklagten Partei steht es nämlich frei, mit ihrer Wiederaufnahmsklage auch gänzlich neue Einwendungen gegen den ursprünglichen Klagsanspruch geltend zu machen. Die Einwendungen einer beklagten Partei haben nämlich lediglich das Ziel, den auf einen bestimmten Sachverhalt gestützten Klagsanspruch zu widerlegen. Würde man eine beklagte Partei zwingen, ohne entsprechende Tatsachenkenntnisse leere Einwendungen zu erheben, so würde dies zu einer sinnlosen Belastung des Prozesses führen. Aus diesem Grunde kann einer beklagte Partei, der bestimmte Einwendungen begründende Tatsachen nicht bekannt sind, nach Bekanntwerden dieser Tatsachen nach Abschluss des Vorprozesses die Möglichkeit nicht verschlossen werden, sie mittels Wiederaufnahmsklage gemäß § 530 Abs 1 Z 7 ZPO geltend zu machen (SZ 59/194; Fasching aaO).

Die bereits im Vorprüfungsverfahren ausgesprochene Zurückweisung der Wiederaufnahmsklage erweist sich sohin als unberechtigt.

Dem Revisionsrekurs der Klägerin ist deshalb Folge zu geben; das Erstgericht wird das gesetzmäßige Verfahren unter Abstandnahme von den gebrauchten Zurückweisungsgründen einzuleiten haben.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.

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