OGH 10ObS43/02z

OGH10ObS43/02z16.4.2002

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Schramm sowie durch die fachkundigen Laienrichter Dr. Peter Hübner (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Ernst Boran (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Adolf S*****, vertreten durch Dr. Reinhard Tögl, Rechtsanwalt in Graz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, Roßauer Lände 3, 1092 Wien, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Kriegsgefangenenentschädigung, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 20. November 2001, GZ 8 Rs 196/01g-9, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits- und Sozialgericht vom 29. August 2001, GZ 36 Cgs 141/01f-5, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird teilweise Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden teilweise abgeändert, sodass die Entscheidung - unter Einschluss des bestätigten Ausspruchs - insgesamt zu lauten hat:

"Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei ab 1. 1. 2002 eine Entschädigung für Kriegsgefangenschaft im Betrag von monatlich 14,53 EUR zwölfmal jährlich zu leisten.

Das Klagemehrbegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei eine Kriegsgefangenenentschädigung vom 1. 1. 2001 bis 31. 12. 2001 zu zahlen, wird abgewiesen."

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 333,12 EUR (darin 55,52 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der am 21. 4. 1922 geborene Kläger ist österreichischer Staatsbürger und war von Oktober 1944 bis September 1945 in Marseille, Frankreich, in amerikanischer Kriegsgefangenschaft.

Der Kläger stellte am 31. 1. 2001 bei der Beklagten, von der er eine Pensionsleistung bezieht, den Antrag auf Gewährung der Kriegsgefangenenentschädigung. Mit Bescheid vom 8. 2. 2001 lehnte die Beklagte den Antrag mit der Begründung ab, der Kläger sei nicht - wie vom Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz als Anspruchsvoraussetzung gefordert - in die Kriegsgefangenschaft eines mittelost- oder osteuropäischen Staates geraten.

Das Erstgericht wies das vom Kläger gegen diesen Bescheid erhobenen, auf die Gewährung der beantragten Leistung ab 1. 1. 2001 gerichtete Klagebegehren unter Hinweis auf die geltende Rechtslage ab. Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Es könne als allgemeinkundig angesehen werden, dass eine Kriegsgefangenschaft in dem in § 1 Z 1 Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz angeführten "östlichen Bereich" Europas wesentlich härter gewesen sei, als eine Kriegsgefangenschaft im Bereich der westlichen Alliierten; dies zeige schon ein oberflächlicher Vergleich der Zeiten der Anhaltung als Kriegsgefangener in den beiden genannten Bereichen, wie auch ein Vergleich der Todesfälle im Verlauf der Kriegsgefangenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. Es sei daher davon auszugehen, dass im Machtbereich der UdSSR angehaltene Kriegsgefangene wesentlich größeren physischen und psychischen Belastungen ausgesetzt gewesen seien als die im Bereich der westlichen Alliierten angehaltenen Kriegsgefangenen. Die Einschränkung der Kriegsgefangenenentschädigung auf Kriegsgefangene, die in "mittelost- und osteuropäischen Staaten" angehalten worden seien, sei daher sachlich und geografisch nachvollziehbar, weshalb eine Gleichheitswidrigkeit nicht vorliege. Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung im Sinn einer Klagestattgebung abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt. Die Beklagte beteiligte sich am Revisionsverfahren nicht.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist teilweise berechtigt.

Mit Wirkung vom 1. 1. 2001 wurde das in Art 70 Budgetbegleitgesetz 2001, BGBl I 2000/142 enthaltene Bundesgesetz, mit dem eine Entschädigung für Kriegsgefangene eingeführt wird (Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz - KGEG) in Kraft gesetzt. Dieses Gesetz räumt in seinem § 1 Z 1 österreichischen Staatsbürgern, die "im Verlauf des Zweiten Weltkrieges in Kriegsgefangenschaft mittelost- oder osteuropäischer Staaten (wie Albaniens, Bulgariens, Polens, der ehemaligen Sowjetunion, Rumäniens, der ehemaligen Tschechoslowakei, des ehemaligen Jugoslawiens) gerieten" einen Anspruch auf Kriegsgefangenenentschädigung ein.

Der Revisionswerber macht in seinem Rechtsmittel die Gleichheitswidrigkeit dieser Bestimmung geltend. Die Bestimmung ist jedoch nicht verfassungswidrig:

Der Verfassungsgerichtshof wies mit Erkenntnis vom 8. 3. 2002, G 308/01 ua, Anträge des Oberlandesgerichtes Innsbruck, die Wortfolge "mittelost- oder osteuropäischer Staaten (wie Albaniens, Bulgariens, Polens, der ehemaligen Sowjetunion, Rumäniens, der ehemaligen Tschechoslowakei, des ehemaligen Jugoslawiens)" in § 1 Z 1 KGEG, Art 70 Budgetbegleitgesetz 2001 als verfassungswidrig aufzuheben, ab. Der Gerichtshof führte im Wesentlichen aus, dem Gesetzgeber komme es in der Frage, in welchem Umfang er die unterschiedlichen Erscheinungsformen kriegs- und verfolgungsbedingter Haft und Anhaltung im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg als entschädigungswürdig erachte, ein weiter - letztlich wohl von politischen Bewertungen geprägter - Beurteilungsspielraum zu. In welchem Ausmaß die der zur Prüfung gestellten Entschädigungsregelung allenfalls zugrundeliegende politische Bewertung geteilt werde, sei jedenfalls keine Frage der Verfassungsmäßigkeit der Norm. Es könne dem Gesetzgeber daher aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht entgegengetreten werden, wenn er vorweg - mit Blick auf die Entschädigung für die Sklaven- und Zwangsarbeit des nationalsozialistischen Regimes (vgl hiezu AB 255 BlgNR 21. GP, Allgemeiner Teil, zum Versöhnungsfonds-Gesetz) - nur jenen Kriegsgefangenen eine Entschädigung zukommen lassen wollte, die typischer Weise unter vergleichbaren menschenunwürdigen Bedingungen angehalten worden seien. Es lasse sich auch nicht sagen, dass der Gesetzgeber die historischen Gegebenheiten grob verkannt hätte, wenn er davon ausgegangen sei, dass eine derartige Vergleichbarkeit in erster Linie mit den ehemaligen Kriegsgefangenen der ost- und mittelosteuropäischen Staaten bestehe. Für welchen Zeitraum es dem Gesetzgeber unter gleichheitsrechtlichen Gesichtspunkten gestattet wäre, eine Begünstigung der hier zu beurteilenden Art für bloß eine Gruppe der ehemaligen Kriegsgefangenen zu gewähren, müsse aus Anlass dieses Verfahrens nicht abschließend geklärt werden, weil mittlerweile die Entschädigungszahlungen mit Wirkung vom 1. 1. 2002 auf alle Kriegsgefangenen ausgeweitet worden seien und der Gesetzgeber durch diese Art der stufenweisen Einführung seinen rechtspolitischen Gestaltungsspielraum keinesfalls überschritten habe. Es begegne daher auch keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn der Gesetzgeber eine Regelung getroffen habe, die - ohne Bedachtnahme auf die besonderen Bedingungen der Anhaltung in jedem Einzelfall - nur daran anknüpfe, von welchem Staat der Betroffene als Kriegsgefangener angehalten worden sei, weil es nämlich mit dem Gleichheitssatz vereinbar sei, wenn der Gesetzgeber von einer Durchschnittsbetrachtung ausgehe und dabei auch eine pauschalierende Regelung treffe. Es werde ein solches Gesetz nicht schon deshalb gleichheitswidrig, weil dabei Härtefälle entstünden. Mit Wirkung vom 1. 1. 2002 wurde § 1 Z 1 KGEG dahin neu gefasst, dass nun österreichische Staatsbürger, die im Verlauf des Ersten oder Zweiten Weltkrieges in Kriegsgefangenschaft gerieten, Anspruch auf eine Kriegsgefangenenentschädigung haben (Z 1 des Bundesgesetzes, mit dem das Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz geändert wird, BGBl I 2002/40). Die Entschädigung wird zwölfmal jährlich als monatliche Geldleistung in Höhe von - seit 1. 1. 2002 - 14,53 EUR (bei mindestens dreimonatiger Gefangenschaft), 21,80 EUR (bei mindestens zweijähriger Gefangenschaft), 29,07 EUR (bei mindestens vierjähriger Gefangenschaft) bzw 36,34 EUR (bei mindestens sechsjähriger Gefangenschaft) gewährt (§ 4 Abs 1 KGEG), und zwar ab Beginn des Monats, in dem der Antrag gestellt wurde, (längstens) bis zum Ableben des Anspruchsberechtigten (§ 5 KGEG). Gemäß § 21a KGEG idF der Z 3 BGBl I 2002/40 ist die Leistung nach diesem Bundesgesetz, wenn die durch das BGBl I 2002/40 begünstigten Personen bis zum 31. 12. 2002 einen Antrag auf Zuerkennung der Leistung stellen, bei Vorliegen der Voraussetzungen, frühestens ab 1. 1. 2002 zu erbringen. Dies gilt auch für Anträge, die vor dem 1. 1. 2002 eingebracht wurden, unabhängig davon, ob über sie bereits rechtskräftig entschieden wurde oder nicht.

Die Entschädigung ist durch Antrag geltend zu machen, in dem die anspruchsbegründenden Voraussetzungen nachzuweisen sind (§ 15 Abs 1 KGEG). Der Antrag ist prinzipiell beim leistungszuständigen Pensionsversicherungsträger einzubringen, der darüber mit schriftlichem Bescheid zu entscheiden hat. Im Fall der Ablehnung des Antrags kann der Betroffene die ordentlichen Gerichte als Arbeits- und Sozialgerichte im Weg der sukzessiven Kompetenz anrufen (§ 14 Abs 2 KGEG).

Die Arbeits- und Sozialgerichte werden in Sozialrechtssachen grundsätzlich im Rahmen der durch die sukzessive Zuständigkeit vorgegebenen und begrenzten Entscheidungskompetenz tätig. Im Rahmen dieser sukzessiven Kompetenz ist es aber nicht die Aufgabe der Arbeits- und Sozialgerichte, die von den Sozialversicherungsträgern erlassenen und von den Versicherten bekämpften Bescheide im Rahmen eines Rechtsmittelverfahrens zu überprüfen, sondern die Entscheidung ist vom Gericht völlig neu und unabhängig vom Verwaltungsverfahren zu treffen (SSV-NF 7/30, 5/50, 2/42 mwN ua; Kuderna, ASGG2 Anm 1 zu § 67; Fink, Die sukzessive Zuständigkeit im Verfahren in Sozialrechtssachen 7 ff und 492 f; Fasching/Klicka in Tomandl, SV-System 713 ua). Das Gericht hat die Sache nach allen Richtungen selbständig zu beurteilen, wobei alle Änderungen (auch Gesetzesänderungen) jedenfalls bis zum Schluss der Verhandlung in erster Instanz zu berücksichtigen sind (SSV-NF 10/113 mwN). Ändert sich die Rechtslage nach dem Urteil der ersten oder zweiten Instanz, dann ist im Einzelfall zu prüfen, ob Übergangsvorschriften regeln, welche Norm nun anzuwenden ist (EvBl 1977/219; EvBl 1995/94 uva; Kodek in Rechberger, ZPO2 § 503 Rz 5 und § 482 Rz 11). Der Kläger zählt nicht zu den durch die Stammfassung des § 1 Z 1 KGEG begünstigten Personen, weil er im Verlauf des Zweiten Weltkrieges nicht in die Kriegsgefangenschaft eines mittelost- oder osteuropäischen Staates, sondern in Frankreich in amerikanische Kriegsgefangenschaft geriet. Wohl aber gehört er zu den durch § 1 Z 1 KGEG nF begünstigten Personen, weil nunmehr mit Wirkung ab 1. 1. 2002 im Verlauf des Zweiten Weltkriegs als Kriegsgefangene Angehaltene - ohne jede Differenzierung - eine Entschädigung erhalten. Die Höhe der dem Kläger nach dem KGEG - im Hinblick auf den Tag der Antragstellung - ab 1. 1. 2002 zu gewährende monatliche Geldleistung beträgt 14,53 EUR, weil seine Kriegsgefangenschaft länger als drei Monate, aber weniger als zwei Jahre andauerte (§ 4 Abs 1 KGEG). Zufolge der oben genannten Übergangsregelung des § 21a KGEG ist die neue Rechtslage bereits im vorliegenden Verfahren anzuwenden. All dies führt zu dem spruchmäßigen Ergebnis.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a und Abs 2 ASGG.

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