OGH 10ObS396/01k

OGH10ObS396/01k29.1.2002

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Johannes Zahrl (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Walter Benesch (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Franz S*****, Pensionist, *****, vertreten durch Dr. Reinhard Tögl, Rechtsanwalt in Graz, gegen die beklagte Partei Versicherungsanstalt des österreichischen Bergbaues, 8010 Graz, Lessingstraße 20, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Kriegsgefangenenentschädigung, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 1. August 2001, GZ 7 Rs 167/01k-11, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits- und Sozialgericht vom 26. Juni 2001, GZ 32 Cgs 196/01i-6, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Oberste Gerichtshof stellt gemäß Art 89 Abs 2 B-VG (Art 140 Abs 1 B-VG) beim Verfassungsgerichtshof den Antrag,

im Budgetbegleitgesetz 2001, BGBl I 2000/142, Art 70 (Bundesgesetz, mit dem eine Entschädigung für Kriegsgefangene eingeführt wird [Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz]), in § 1 Z 1 die nachstehende Wortfolge als verfassungswidrig aufzuheben:

"mittelost- oder osteuropäischer Staaten (wie Albaniens, Bulgariens, Polens, der ehemaligen Sowjetunion, Rumäniens, der ehemaligen Tschechoslowakei, des ehemaligen Jugoslawiens)".

Mit der Fortführung des Revisionsverfahrens wird gemäß § 62 Abs 3 VfGG bis zur Zustellung des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes innegehalten.

Text

Begründung

Der am 19. 2. 1926 geborene Kläger, der österreichischer Staatsbürger ist und seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort in Österreich hat, befand sich vom 9. 5. 1945 bis 12. 2. 1946 in englischer Kriegsgefangenschaft.

Mit Bescheid vom 27. 4. 2001 lehnte die beklagte Partei den Antrag des Klägers vom 16. 1. 2001 auf Gewährung der Kriegsgefangenenentschädigung mit der Begründung ab, der Kläger habe sich in englischer Kriegsgefangenschaft und nicht in der Gefangenschaft eines mittelost- oder osteuropäischen Staates befunden, weshalb er nach dem Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz keinen Anspruch auf Leistung habe.

Das Erstgericht wies das vom Kläger gegen diesen Bescheid erhobene, auf die Gewährung der beantragten Leistung gerichtete Klagebegehren unter Hinweis auf die geltende Rechtslage ab.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Es verneinte die vom Kläger geltend gemachten verfassungsrechtlichen Bedenken unter Hinweis darauf, dass es dem Gesetzgeber freistehen müsse, bei Festlegung von Rechtsfolgen zwischen Fallgruppen zu differenzieren, wenn sich im Tatsächlichen ein Anlass für die Differenzierung biete, wenn also der Anlass der Differenzierung der Realität entspreche. Das Defizit zumindest an rechtsstaatlichen Kontrollmöglichkeiten über die Kriegsgefangenenbehandlung durch die in § 1 Z 1 Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz taxativ aufgezählten Staaten sei für sich allein ein Faktum, das historisch zutreffe. Der in der Regierungsvorlage (311 BlgNR XXI. GP, 240) angeführte Umstand, dass diejenigen Personen, die in die Kriegsgefangenschaft osteuropäischer Staaten geraten seien, körperlichen und seelischen Qualen weit über das normale Maß hinaus ausgesetzt gewesen seien, biete genügend Grund dafür, die Gefangenen in westlicher Kriegsgefangenschaft nicht zu bedenken.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung im Sinne einer Klagestattgebung abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt. Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt. In der Revision macht der Kläger geltend, die die unsachliche Differenzierung rechtfertigenden Annahmen des Berufungsgerichtes entbehrten jeglicher Realität.

Rechtliche Beurteilung

Der Senat hat dazu erwogen:

Vorauszuschicken ist, dass das Oberlandesgericht Innsbruck am 25. 9. 2001 zu 25 Rs 82/01x und 25 Rs 93/01i bereits Anträge an den Verfassungsgerichtshof gestellt hat, die im Spruch genannte Wortfolge als verfassungswidrig aufzuheben. Diese Gesetzesprüfungsverfahren sind beim Verfassungsgerichtshof zu den Geschäftszahlen G 308/01 und G 312/01 anhängig.

Auch der Oberste Gerichtshof ist der Ansicht, dass Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 1 Z 1 Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz, BGBl I 2000/142, Art 70, bestehen, und zwar im Hinblick auf den in Art 7 Abs 1 B-VG, Art 2 StGG verfassungsrechtlich verankerten Gleichheitsgrundsatz. Der Oberste Gerichtshof hat daher in den Verfahren 10 ObS 378/01p, 10 ObS 400/01y und 10 ObS 427/01v bereits entsprechende Gesetzesprüfungsanträge an den Verfassungsgerichtshof gestellt und diese wie folgt begründet:

In § 1 Z 1 Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz wird der anspruchsberechtigte Personenkreis folgendermaßen definiert:

"Österreichische Staatsbürger, die

1. im Verlauf des Zweiten Weltkrieges in Kriegsgefangenschaft mittelost- oder osteuropäischer Staaten (wie Albaniens, Bulgariens, Polens, der ehemaligen Sowjetunion, Rumäniens, der ehemaligen Tschechoslowakei, des ehemaligen Jugoslawiens) gerieten, oder

  1. 2. ... oder
  2. 3. ...,

    haben Anspruch auf eine Leistung nach Maßgabe der Bestimmungen dieses Bundesgesetzes.

    § 2 sieht eine Ausschlussbestimmung für diejenigen Personen vor, deren Verhalten in Wort oder Tat mit den Gedanken und Zielen eines freien, demokratischen Österreich unvereinbar war.

    Nach § 4 gebührt Anspruchsberechtigten 12 x jährlich eine monatliche Geldleistung in Höhe von 200 S (bzw nunmehr 14,53 Euro), sofern die Gefangenschaft im Sinne des § 1 mindestens drei Monate andauerte, 300 S (bzw nunmehr 21,8 Euro), sofern die Gefangenschaft im Sinne des § 1 mindestens zwei Jahre andauerte, 400 S (bzw nunmehr 29,07 Euro), sofern die Gefangenschaft im Sinne des § 1 mindestens vier Jahre andauerte und 500 S (bzw nunmehr 36,34 Euro), sofern die Gefangenschaft im Sinne des § 1 mindestens sechs Jahre andauerte. Im vorliegenden Fall ist die Bestimmung des § 1 Z 1 Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz zur Prüfung des vom Kläger geltend gemachten Anspruches heranzuziehen, sodass die Präjudizialität dieser Bestimmung für das Gesetzesprüfungsverfahren gegeben ist.

    Der Gleichheitssatz bindet auch den Gesetzgeber. Im Sinne der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (VfSlg 12.333 uva) lässt der Gleichheitssatz nur sachlich gerechtfertigte Differenzierungen zu. Eine solche Differenzierung setzt relevante Unterschiede im Tatsachenbereich im Sinne objektiver Unterscheidungsmerkmale voraus. Der Gesetzgeber muss an gleiche Tatbestände gleiche Rechtsfolgen knüpfen; wesentlich ungleiche Tatbestände müssen zu entsprechend unterschiedlichen Regelungen führen. Aus dem Gleichheitssatz wurde vom Verfassungsgerichtshof daher in verstärktem Maße auch ein allgemeines Sachlichkeitsgebot für den Gesetzgeber abgeleitet (Mayer, B-VG2 466), wobei auf die objektive Wirkung (den objektiven Gehalt) einer Regelung und nicht auf die Motive des Gesetzgebers abgestellt wird. Liegen differenzierende Regelungen vor, so ist ein Normenvergleich durchzuführen. Es ist zu fragen, ob die jeweils erfassten Sachverhalte so unterschiedlich sind, dass sie die unterschiedlichen Rechtsfolgen rechtfertigen und zu tragen vermögen. Es kann aber auch sein, dass eine Regelung einen komplexen Sachverhalt mit einer Rechtsfolge verknüpft. Diesfalls ist zu fragen, ob die verschiedenen Sachverhaltselemente es trotz ihrer Verschiedenheit zulassen, mit der gleichen Rechtsfolge bedacht zu werden oder ob nicht differenzierte Rechtsfolgen notwendig wären. Jede Sachlichkeitsprüfung von Gesetzen hat zunächst eine derartige Prüfung mit der Relation von Sachverhalt und Rechtsfolge vorzunehmen. Sie kann zum Ergebnis führen, dass diese Regelung schon an sich auf keinem "vernünftigen" Grund beruht. In diesem Falle ist ein Gesetz als gleichheitswidrig anzusehen (Mayer aaO).

    Mit dem Gleicheitsgrundsatz vereinbar wird demgegenüber angesehen, dass der Gesetzgeber bei einer Regelung von einer Durchschnittsbetrachtung ausgeht und auf den Regelfall abstellt; dass dabei Härtefälle entstehen, macht ein Gesetz nicht gleichheitswidrig. Die Maßnahmen zur Entlastung der öffentlichen Haushalte widersprechen an sich nicht dem Gebot der Sachlichkeit, wenn die Belastungen entsprechend weit gestreut werden. Das Ausmaß der hinzunehmenden ungleichen Auswirkungen zwischen Regel- und Härtefall hängt davon ab, ob eine differenzierende Lösung ohne erhebliche Schwierigkeiten vollziehbar ist und welches Gewicht die untschiedlichen Rechtsfolgen haben. Der Gesetzgeber kann in Grenzen einfache und leicht handhabbare Regelungen schaffen, allerdings darf der Eintritt einer Rechtsfolge nicht von Zufälligkeiten abhängen. Insoweit steht dem Gesetzgeber ein rechtspolitischer Gestaltungsspielraum zu, soweit die Regelung nicht exzessiv ist.

    In der Regierungsvorlage zum Budgetbegleitgesetz 2001 (311 BlgNR XXI. GP, 124) wurde der anspruchsberechtigte Personenkreis mit "Österreichische Staatsbürger, die .... im Verlauf des zweiten Weltkrieges in Kriegsgefangenschaft osteuropäischer Staaten gerieten ...." umschrieben. In den Erläuterungen wird ausgeführt, dass diese Personen in vielen Fällen nicht adäquat abgegoltene Arbeitsleistungen unter oft schwierigsten Bedingungen zu erbringen hatten und weit über das Normalmaß hinaus körperlichen und seelischen Qualen ausgesetzt waren; darüber hinaus waren sie bei ihrer Heimkehr nach Österreich mit großen wirtschaftlichen Belastungen konfrontiert. Im Minderheitsbericht der Abgeordneten Josef Edlinger und andere zum Bericht des Budgetausschusses über das Budgetbegleitgesetz 2001 (369 BlgNR XXI. GP, 200) wird darauf hingewiesen, dass die Gefangenen des Ersten Weltkrieges sowie die Gefangenen in westlicher Kriegsgefangenschaft nicht bedacht werden. Am 7. 6. 2001 haben die Abgeordneten Dietachmayr und GenossInnen im Nationalrat einen Antrag auf entsprechende Änderung des Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzes eingebracht.

    Ausgehend von der dargestellten Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes zum Gleichheitsgrundsatz ist nicht erkennbar, warum in der angefochtenen Gesetzesbestimmung der Kreis der Anspruchsberechtigten auf jene Kriegsgefangenen beschränkt wird, die in die Kriegsgefangenschaft mittelost- oder osteuropäischer Staaten (wie Albaniens, Bulgariens, Polens, der ehemaligen Sowjetunion, Rumäniens, der ehemaligen Tschechoslowakei, des ehemaligen Jugoslawiens) geraten sind. Dieser Widerspruch kann im Hinblick auf den eindeutigen Wortlaut auch nicht durch verfassungskonforme Interpretation oder durch Analogie beseitigt werden.

    An anderer Stelle hat der Gesetzgeber die Kriegsgefangenschaft einheitlich betrachtet, so in § 228 Abs 1 Z 1 lit a ASVG bei der Qualifikation von Zeiten als Ersatzzeiten in der Pensionsversicherung und in § 1 Abs 1 des Bundesgesetzes vom 25. 6. 1958 über die finanzielle Hilfeleistung an Spätheimkehrer (BGBl 1958/128). Wie bereits das Oberlandesgericht Innsbruck in den angeführten Beschlüssen vom 25. 9. 2001 näher dargestellt hat, stellte die Gefangennahme durch die "Westalliierten" keinen Ausnahmefall dar. Eine Differenzierung danach, wie die Kriegsgefangenen in einzelnen Staaten behandelt wurden, ist äußerst schwierig; Anhaltspunkte dafür, dass die Kriegsgefangenen der Westalliierten im Regelfall ganz anders (im Sinne von weitaus besser) behandelt worden wären, als die Kriegsgefangenen der in § 1 Z 1 Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz genannten Staaten fehlen.

    Der Oberste Gerichtshof sieht sich daher auch im vorliegenden Verfahren veranlasst, ob der aufgezeigten Bedenken einen entsprechenden Gesetzesprüfungsantrag an den Verfassungsgerichtshof zu stellen.

    Die Anordnung der Innehaltung des Verfahrens beruht auf der im Spruch zitierten Gesetzesstelle.

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