OGH 10ObS255/01z

OGH10ObS255/01z25.9.2001

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Steinbauer und Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Peter Scheuch und Dr. Peter Zeitler (beide aus dem Kreis der Arbeitgeber) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Hubert S*****, Trafikant, ***** vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, gegen die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft, Wiedner Hauptstraße 84 - 86, 1050 Wien, vertreten durch Dr. Paul Bachmann und andere, Rechtsanwälte in Wien, wegen Feststellung der Erwerbsunfähigkeit, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 27. April 2001, GZ 7 Rs 27/01v-19, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts St. Pölten als Arbeits- und Sozialgericht vom 6. April 2000, GZ 6 Cgs 21/99s-12, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Der am 7. April 1956 geborene Kläger hat den Beruf eines Zahntechnikers erlernt, diesen Beruf jedoch wegen zunehmender Sehverschlechterung aufgegeben. Seit November 1980 betreibt er eine Trafik. Der Kläger ist nicht mehr in der Lage, dieser Tätigkeit als Trafikant nachzugehen, da er Schwierigkeiten hat, Geldscheine und Münzen zu erkennen; er kann auch keine Aufschriften oder Preise lesen.

Beim Kläger besteht eine hochgradige Herabsetzung des Sehvermögens, die sich durch Korrektur nicht bessern lässt. Der Ausfall der Netzhautmitte lässt zwar eine grobe Orientierung im Raum, auch in fremden Räumen zu. In beleuchteten Räumen kann sich der Kläger relativ sicher bewegen; er ist beispielsweise imstande, ein Fenster oder eine Tür wahrzunehmen. Bei direktem Blickkontakt kann er jedoch eine Person nicht erkennen. Die Wahrnehmung kleinerer Gegenstände und deren zielgerichtetes Erfassen sowie Lesen sind dem Kläger praktisch nicht möglich.

Der Kläger verfügt nicht mehr über ein wirtschaftlich nutzbares Sehvermögen. Es sind ihm nur mehr Tätigkeiten möglich, die einem hochgradig Sehbehinderten möglich sind. Eine Besserung ist nicht möglich. Eine allfällige Verschlechterung ist nicht vorhersehbar; sie ist am linken Auge möglich.

Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in Österreich gibt es nicht mehr als 100 Arbeitsplätze für Blinde bzw fast Blinde. In der Regel handelt es sich dabei um geschützte Arbeitsplätze, die fallweise an Blinde vergeben werden. Berufe, die auch von Blinden ausgeführt werden können, sind zB der Telefonist und der Heilbademeister und Heilmasseur.

Bei der Tätigkeit eines Telefonisten ist eine betriebliche Einschulung von einigen Wochen erforderlich. Der Arbeitsplatz eines blinden Telefonisten muss aber so adapiert sein, dass er von einem Blinden zu bedienen ist. Berufsvoraussetzungen sind sprachliches Ausdrucksvermögen, rasche Arbeitsweise. Die Arbeitshaltung ist sitzend.

Im Bereich Heilbademeister und Heilmasseur kann eine Ausbildung auch nur im Teilbreich Heilmasseur absolviert werden. Die Ausbildung zum Heilmasseur erfolgt in Kursen, wobei die Kursdauer mindestens 270 Unterrichtsstunden beträgt. Es besteht auch die Möglichkeit einer viersemestrigen Ausbildung zum gewerblichen Heilmasseur.

Für Telefonisten und Heilmasseure gibt es zwar in Österreich jeweils insgesamt mehr als 100 Arbeitsplätze, aber für normal Sehende und nicht für Blinde bzw fast Blinde; bei den Arbeitsplätzen für Blinde bzw fast Blinde handelt es sich in der Regel um geschützte Arbeitsplätze, bei denen ein Entgegenkommen des Dienstgebers erforderlich ist.

Mit Bescheid vom 15. Jänner 1999 stellte die beklagte Partei fest, dass Erwerbsunfähigkeit gemäß § 133 GSVG nicht vorliege.

Das Erstgericht gab dem dagegen erhobenen, auf Feststellung der Erwerbsunfähigkeit gerichteten Klagebegehren statt. Der Kläger sei außerstande, einem regelmäßigen Erwreb nachzugehen; aufgrund seiner Beeinträchtigung sei eine Verweisung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt nicht möglich.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei nicht Folge. Wenn auch der Beruf Telefonist ein gängiger Verweisungsberuf in den Fällen der geminderten Arbeitsfähigkeit sei, besage dies nicht, dass der Beruf bei Prüfung der Erwerbsfähigkeit als sogenannter "Blindenberuf" mit einem diesbezüglich eingeschränkten Arbeitsmarkt heranzuziehen wäre. Vielmehr komme es bei der Prüfung der wirtschaftlichen Verwertbarkeit des Restes an Sehvermögen auf die wirtschaftliche Verwertungsmöglichkeit in allen möglichen Berufssparten an. Bei einem hochgradig Sehbehinderten sei auf die "Blindenberufe" nicht Bedacht zu nehmen, weil dabei überhaupt kein Sehrvermögen erforderlich sei. Überdies würden die heutzutage benützten Telefonanlagen mit EDV-Unterstützung und optischen Informationen Anforderungen stellen, die über die dem Kläger verbliebene Leistungsfähigkeit hinausgehen. Da der Kläger auch nicht in der Lage sei, zB Befunde von behandelnden Ärzten zu lesen, scheide auch die Verweisung auf eine Heilmasseurtätigkeit aus.

Mangels Verweisbarkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sei der Kläger somit als erwerbsunfähig anzusehen.

Gegen dieses Urteil richtet sich die unbeantwortete Revision der beklagten Partei aus den Revisionsgründen der unrichtigen rechtlichen Beurteilung, der Mangelhaftigkeit des Verfahrens und der Aktenwidrigkeit mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne einer Klagsabweisng. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Rechtliche Beurteilung

Die nach § 46 Abs 3 Z 3 ASGG zulässige Revision (RIS-Justiz RS0084930) ist im Sinne des Eventualantrags berechtigt.

In ihrer Rechtsrüge vertritt die Revisionswerberin den Standpunkt, dass die sogenannten "Blindenberufe" wie Telefonist, Heilmasseur, Heilbademeister, Phono- und Stenotypisten, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in ausreichender Anzahl vorkämen; dass derartige Arbeitsplätze faktisch nur fallweise an Blinde vergeben würden sei irrelevant. Vielmehr komme es nur darauf an, ob Blinde trotz ihrer Behinderung den Beruf ausüben könnten.

Diesen Ausführungen ist beizupflichten.

Bei der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit nach § 133 Abs 1 GSVG ist das Verweisungsfeld mit dem gesamten Arbeitsmarkt ident (SZ 62/196 = SSV-NF 3/152 ua; RIS-Justiz RS0086401). Nur die gänzliche Unfähigkeit, einem regelmäßigen (selbständigen oder unselbständigen) Erwerb nachzugehen, kann zur Zuerkennung einer Erwerbsunfähigkeitspension führen. Maßgeblich ist daher allein, ob es auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Berufe gibt, die der Versicherte aufgrund seiner noch vorhandenen körperlichen und geistigen Fähigkeiten zumutbar ausüben kann (RIS-Justiz RS0086458).

Die Existenz von "Blindenberufen" zeigt, dass auch Blinde und ebenso fast Blinde in der Lage sind, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vorkommende Berufe auszuüben, ohne dass durchwegs ein besonderes Entgegenkommen des Dienstgebers erforderlich wäre; gewisse behinderungsbedingte Einschränkungen werden im Allgemeinen in der Wirtschaft toleriert.

Entscheidende Bedeutung für die Verweisbarkeit des Klägers kommt damit der Frage zu, ob er in der Lage ist, eine auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in ausreichender Anzahl vorkommende Tätigkeit auszuüben oder nicht, wobei er sich erforderlichenfalls auch einer entsprechenden zumutbaren Einweisung oder Einschulung unterziehen müsste (vgl SSV-NF 8/84 und DRdA 2001/34 [Radner] zur Nachschulung von Facharbeitern).

Aufgrund der vom Gericht erster Instanz getroffenen Feststellungen kann diese Frage aber nicht beantwortet werden. Demnach gibt es für Telefonisten und Heilmasseure in Österreich jeweils insgesamt mehr als 100 Arbeitsplätze, aber "keinen ausreichenden Arbeitsmarkt für Blindenberufe (mehr als 100 Arbeitsplätze). ... Es handelt sich in der Regel vielmehr um geschützte Arbeitsplätze, die fallweise an Blinde vergeben werden." Aus diesen Feststellungen kann nur abgeleitet werden, dass üblicherweise solche Arbeitsplätze nicht mit blinden Personen besetzt werden, während nichts für die entscheidende Frage zu gewinnen ist, ob der Kläger in der Lage ist, mit der ihm verbliebenen Leistungsfähigkeit - allenfalls nach zumutbarer Einweisung oder Einschulung - den Anforderungen auf solchen Arbeitsplätzen des allgemeinen Arbeitsmarktes zu genügen. Für eine Verweisbarkeit ist noch zu berücksichtigen, dass auf dem gesamtösterreichischen Arbeitsmarkt eine ausreichende Anzahl von dem Leistungskalkül des Klägers entsprechenden Arbeitsplätzen vorhanden sein muss. Dabei ist auf die (auch vom Berufungsgericht angesprochenen) Entwicklungen in der Arbeitswelt Bedacht zu nehmen. Eine Anzahl von zumindest hundert Arbeitsstellen in ganz Österreich ist für eine Verweisung ausreichend (SSV-NF 7/37 ua). Ob der Versicherte in der Lage ist, einen konkreten Arbeitsplatz zu erlangen, ist ohne Belang.

In diesem Sinn erweist sich das Verfahren in berufskundlicher Hinsicht als ergänzungsbedürftig, weshalb die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben sind. Da es offenbar einer Verhandlung in erster Instanz bedarf, um die Sache spruchreif zu machen, war die Sozialrechtssache an das Erstgericht zurückzuverweisen.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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