OGH 1Ob4/01x

OGH1Ob4/01x30.1.2001

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schlosser als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schiemer, Dr. Gerstenecker, Dr. Rohrer und Dr. Zechner als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj Sarah J*****, geboren am *****, infolge Revisionsrekurses des Vaters Burkhard K*****, vertreten durch Dr. Peter Lösch, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts Korneuburg als Rekursgericht vom 5. Oktober 2000, GZ 20 R 181/00h-52, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Schwechat vom 20. Juli 2000, GZ 2 P 49/98s-44, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die angefochtene Entscheidung wird als nichtig aufgehoben und dem Rekursgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Text

Begründung

Das Erstgericht setzte das Besuchsrecht des Vaters der Minderjährigen gegenüber aus und wies dessen Antrag, das Besuchsrecht gerichtlich zu regeln, ab; dem Vater wurde zudem die Aufnahme von Kontakten mit seinem Kind "derzeit" untersagt. Das Gericht stellte fest, die Minderjährige lehne seit April 1999 "jegliche Kontaktaufnahme zu ihrem Vater heftig ab" und begründe dies mit sexuellen Übergriffen ihres Vaters. Es sei zwar nicht feststellbar, auf Grund welcher Vorfälle diese Haltung des Mädchens entstanden sei und ob die Mutter die Einstellung des Kindes zu dessen Vater beeinflusst habe, doch sei die Ablehnung "so ernstlich und tiefgreifend", dass Besuchskontakte auf eine dem Kindeswohl "erheblich abträgliche" Weise erzwungen werden müssten. Die psychologische Beurteilung der Situation durch den Sachverständigen habe der Vater nicht widerlegen können.

Im Rekurs gegen diese Entscheidung wies der Vater darauf hin, dass sich die Minderjährige nur gegen einen "Alleinkontakt" mit ihm ausgesprochen habe, und dem Gutachten des Sachverständigen sei nicht zu entnehmen, dass jeglicher Besuchskontakt dem Wohl des Kindes abträglich sei.

Das Rekursgericht bestätigte, nachdem es die Ergänzung des Gutachtens durch den Sachverständigen veranlasst hatte, den Beschluss des Erstgerichts und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei. Es stellte auf Grund der "ergänzenden Stellungnahme des Sachverständigen" zusätzlich fest, die "Atmosphäre" zwischen dem Mädchen und dessen Vater sei selbst dann "aufs Schwerste belastet", wenn ein sexueller Missbrauch nicht stattgefunden habe und die vom Kind wiedergegebene genitale Berührung seiner Phantansie entspränge. Dass das Mädchen auf die Frage, ob es seinen Vater wiedersehen wolle, einen "klassischen Ambivalenzsatz" kundgetan habe, entspreche dem Lebensalter, "in dem Ablehnung und Neugier nach dem Vater nebeneinander" bestünden. Demnach sei die Aussetzung des Besuchsrechts aus schwerwiegenden Gründen zum Wohl des Kindes geboten.

Der Revisionsrekurs des Vaters ist zulässig und berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Der Vater macht insofern Verfahrensmängel geltend, als mehrere Zeugen zur Frage, ob das Kind gern mit dem Vater mitgegangen sei, nicht vernommen worden seien, und das Sachverständigengutachten nicht mehr die aktuelle Lage wiedergebe, weil es bereits vom September 1999 datiere. Dem ist entgegenzuhalten, dass die vom Vater behaupteten Verfahrensmängel - mit nachvollziehbarer Begründung - be- reits vom Gericht zweiter Instanz verneint wurden und deren neuerliche Geltendmachung vor dem Obersten Gerichtshof auch im Außerstreitverfahren unzulässig ist (EFSlg 82.862 uva).

Die Ausführungen des Vaters, die Mutter sei verpflichtet, positiv auf allfällige Besuche des Vaters einzuwirken, sind gewiss richtig (EFSlg 83.875, 83.866 uva), selbst wenn die Mutter dieser Verpflichtung aber nicht entsprochen haben sollte, würde dies - legte man das Sachverständigengutachten in seiner Gesamtheit, also unter Einschluss der Ergänzung vom 22. 9. 2000 (ON 51) der Entscheidung zu Grunde - nichts daran ändern, dass derzeit eine Anbahnung von Kontakten mit dem Vater dem Kindeswohl abträglich wäre. Das Wohl des Kindes ist aber die oberste Maxime des Pflegschaftsverfahrens (1 Ob 129/00b; EFSlg 83.871, 83.866 uva). Es bedarf auch keiner allgemeinen, nicht fallbezogenen Judikatur des Obersten Gerichtshofs zur Frage, ob für den Fall der Nichtfeststellbarkeit behaupteter sexueller Übergriffe des Besuchsrechtswerbers bei dessen tiefgreifender Ablehnung durch das zu besuchende Kind eine Aussetzung des Besuchsrechts anzuordnen sei: Die Entscheidung, ob ein Besuchsrecht eingeräumt werden soll bzw darf, ist nämlich stets von den Umständen des Einzelfalls abhängig, was auch für die Frage der Entziehung bzw Aussetzung des Besuchsrechts gilt (1 Ob 129/00b; EFSlg 85.707, 83.944 uva).

Dennoch ist die Entscheidung des Rekursgerichts aufzuheben:

Die Minderjährige äußerte sich bei der Befundaufnahme durch den Sachverständigen dahin, sie habe "jetzt keine Angst mehr" vor ihrem Vater, sie wolle aber nicht mehr, dass er "das mache"; wenn jemand dabei sei, der gut auf sie aufpasse, ginge sie zum Vater, weil sie "schauen" wolle, ob er ohnehin noch hoffe, dass sie zu ihm gehe (S 15 des Sachverständigengutachtens). Im Gutachten führte der Sachverständige demgemäß aus, das Kind habe sich gegen einen Alleinkontakt mit seinem Vater ohne Aufsicht durch eine Drittperson ausgesprochen; er folgerte daraus, die beobachtbare Ablehnung des Vaters durch das Kind sei ernst zu nehmen, und eine Kontaktanbahnung entspräche im gegenwärtigen Zeitpunkt angesichts der Reaktionen des Kindes nicht dessen Wohl; eine Besuchsrechtsaussetzung sei bis auf Weiteres zu empfehlen (S 18 f des Gutachtens). Diese äußerst kursorische Begutachtung, die sich in Wahrheit überhaupt nicht mit der Frage auseinandersetzte, warum Besuchskontakte zwischen dem Vater und dem Kind unter Aufsicht durch eine Drittperson nicht möglich sein sollten, nahm das Rekursgericht zum Anlass, eine "ergänzende Stellungnahme" des Sachverständigen einzuholen (S 3 der Rekursentscheidung). Erst diese ergänzende Stellungnahme (ON 51), die wohl als Ergänzungsgutachten zu werten ist, enthält Ausführungen, die sich mit der erwähnten Äußerung des Mädchens auseinandersetzen. Zu diesen ist allerdings festzuhalten, dass es nicht Sache des Sachverständigen ist, den "Wert" seines Gutachtens zu beurteilen; ein Gutachten ist auch grundsätzlich nicht "höherrangig" zu bewerten als die Äußerung eines Kindes im Zuge einer Befundaufnahme, vielmehr ist das Gutachten, das auf einem ganz bestimmten Befund aufzubauen hat, nur eines von vielen Beweismitteln, das ebenso wie alle anderen Beweismittel der freien richterlichen Würdigung unterliegt.

Soweit das Rekursgericht das Ergänzungsgutachten vom 22. 9. 2000 (ON 51) seiner Entscheidung zu Grunde legte und daraus ergänzende Feststellungen traf, hat es das dem Vater zu gewährende rechtliche Gehör verletzt, weil es diesem nicht die Möglichkeit zu einer Stellungnahme eingeräumt hat. Bei der Frage, ob nicht doch die Ausübung eines Besuchsrechts in Anwesenheit einer dritten Person möglich wäre, geht es zweifellos um einen für die wechselseitigen Standpunkte wesentlichen Umstand, zu dem eine Äußerung der davon betroffenen Partei möglich sein muss, ehe die Entscheidung auf eine aus einem solchen Ergänzungsgutachten abgeleitete Tatsache oder Meinung gestützt wird (EvBl 1997/103 uva). Nimmt man insbesondere darauf Bedacht, dass der Sachverständige auch nicht im Ergänzungsgutachten ON 51 konkret auf die Frage eingeht, ob der angestrebte Besuch des Kindes durch den Vater im Beisein einer dritten Person möglich und sinnvoll ist, erweist sich die Rüge des Vaters wegen Verweigerung des rechtlichen Gehörs erst recht als berechtigt, weil es ihm nicht verwehrt bleiben kann, ergänzende Fragen an den Sachverständigen im Sinne der Ausführungen im Revisionsrekurs zu stellen.

Dem Revisionsrekurs ist demnach Folge zu geben und die Entscheidung des Gerichts zweiter Instanz als nichtig aufzuheben. Das Rekursgericht hat das Verfahren im aufgezeigten Sinn - allenfalls im Wege einer mündlichen Rekursverhandlung (SZ 69/74) - zu ergänzen und neuerlich zu entscheiden.

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