OGH 1Ob270/99h

OGH1Ob270/99h23.11.1999

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schlosser als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schiemer, Dr. Gerstenecker, Dr. Rohrer und Dr. Zechner als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj Iris E*****, geboren am *****, infolge Revisionsrekurses des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 11. August 1999, GZ 45 R 543/99g-166, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Fünfhaus vom 1. Juli 1999, GZ 15 P 107/97z-162, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung

Vom 5. Lebensmonat bis zum 11. Lebensjahr lebte die Minderjährige bei ihrem Vater und dessen damaliger Lebensgefährtin Claudia P*****. Der Vater hatte die Obsorge für das Kind inne. Danach befand sich das Kind in Pflege und Erziehung der Stadt Wien, weil der Vater an Alkoholproblemen litt und Haftstrafen zu verbüßen hatte. Während des Heimaufenthalts unterhielt die Minderjährige mit Claudia P***** regelmäßigen Kontakt. Die Mutter kümmerte sich um das Kind überhaupt nicht. Seit 1. 7. 1998 lebt die Minderjährige im Haushalt von Claudia P*****, dem auch drei Halbgeschwister der Minderjährigen angehören. Am 20. 10. 1998 beantragte Claudia P*****, ihr die Vormundschaft über das Kind zu übertragen. Mit Beschluss vom 29. 4. 1999 entzog das Erstgericht dem Vater die Obsorge über sein Kind und bestellte Claudia P***** zur Vormünderin (ON 152).

Der Minderjährigen wurden mit Beschluss des Erstgerichts vom 24. 2. 1999 für die Zeit vom 1. 2. 1999 bis 31. 1. 2002 Unterhaltsvorschüsse von monatlich S 620 - auf Grund eines gegen den Vater bestehenden Unterhaltstitels - und mit Beschluss vom 1. 5. 1999 für die Zeit vom 1. 5. 1999 bis 30. 4. 2002 Unterhaltsvorschüsse von monatlich S 1.650 - auf Grund eines gegen die Mutter bestehenden Titels - gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG gewährt.

Das Erstgericht stellte mit Wirksamkeit vom 30. 6. 1999 diese Unterhaltsvorschüsse ein. Für die Minderjährige würden gemäß § 27 Abs 6 WrJWG Pflegegelder gewährt, was die Zuerkennung von Unterhaltsvorschüssen gemäß § 2 Abs 2 Z 2 UVG ausschließe.

Das Rekursgericht behob infolge Rekurses des Unterhaltssachwalters diesen Beschluss ersatzlos. Es sprach aus, dass der Revisionsrekurs zulässig sei. Die Minderjährige sei kein Pflegekind im Sinne des § 20 WrJWG, weil sie sich in Pflege und Erziehung ihrer Vormünderin befinde. Das für die Betreuung ausbezahlte Pflegegeld betrage gemäß § 27 Abs 6 WrJWG nur S 2.400 monatlich, wogegen der Pflegegeldrichtsatz (auf Grund einer Verordnung der Wiener Landesregierung vom 20. 5. 1999) derzeit S 4.625 betrage. Von einer "vollen Erziehung" im Sinne des § 2 Abs 2 Z 2 UVG könne daher im vorliegenden Fall nicht gesprochen werden. Die Erziehung des Kindes erfolge weder bei einer Pflegefamilie noch in einem Heim oder in einer sonstigen Einrichtung nach § 34 WrJWG. Das Kind werde nicht auf Grund einer vom Jugendwohlfahrtsträger erteilten Pflegebewilligung erzogen, sondern auf Grund familienrechtlicher Bestimmung von seinem Vormund. Die Einstellung der laufenden Titelunterhaltsvorschüsse sei somit nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs des Bundes ist nicht berechtigt.

Nach § 2 Abs 2 Z 2 UVG besteht ein Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse nicht, wenn das Kind auf Grund einer Maßnahme der Sozialhilfe oder der vollen Erziehung nach dem öffentlichen Jugendwohlfahrtsrecht in einer Pflegefamilie, in einem Heim oder in einer sonstigen Einrichtung untergebracht ist. Diese Einschränkung soll - so die Materialien im JAB (199 BlgNR 14. GP, 5) - sicherstellen, dass die Kosten der Unterbringung eines Kindes in einem Heim oder bei Pflegeeltern nicht vom Träger der Jugendwohlfahrtspflege oder der Sozialhilfe, den diese Kosten nach der geltenden Rechtslage treffen, auf den Bund überwälzt werden, weil der Unterhalt des Kindes durch öffentlich-rechtliche Leistungen der Sozialhilfe oder der Jugendwohlfahrtspflege, die vom Unterhaltspflichtigen zu ersetzen sind, abgedeckt (RV 172 BlgNR 17. GP, 24), das Kind also aus öffentlichen Mitteln "voll versorgt wird" (Neumayr, Die neueste Rechtsprechung zum UVG, RPflSlgA 1999/2, 81 [83]).

Grundlegende Voraussetzung für die Möglichkeit der Versagung von Unterhaltsvorschüssen nach dieser Bestimmung ist jedenfalls, dass die Unterbringung "auf Grund einer Maßnahme der Jugendwohlfahrtspflege" (der Sozialhilfe) erfolgt, d.h. es ist eine entsprechende Anordnung mit Kostenfolgen erforderlich (Neumayr aaO). So genügt es etwa nach der Rechtsprechung nicht, dass bloß die Obsorge für ein Pflegekind nach § 186a ABGB Pflegeeltern übertragen, eine Pflegebewilligung nach § 16 JWG erteilt und die Kosten aus Mitteln der Sozialhilfe getragen werden (ÖA 1991, 22), sofern nicht auch die Pflege und Erziehung eines Kindes in einer Pflegefamilie ausdrücklich als Maßnahme der vollen Erziehung statuiert und erfasst wird (so etwa § 14 TirJWG LGBl 1991/18); (nur) in einem solchen Fall kann dann - konsequenterweise - auch die Unterlassung eines Antrags auf Gewährung von Pflegegeld den Unterhaltsvorschussanspruch nicht aufrecht erhalten (ÖA 1996, 127/UV 91).

Wird die Obsorge einem Elternteil - wie hier - entzogen und letztlich einem Vormund übertragen, dann liegt keine "Maßnahme der vollen Erziehung" nach dem öffentlichen Jugendwohlfahrtsrecht vor. Einerseits ging die Initiative zu diesem Schritt nicht von der Jugendwohlfahrtsbehörde aus, andererseits liegen der Obsorgeübertragung großteils dem Wohl der Minderjährigen (§ 178a ABGB) entsprechende familienbezogene Erwägungen (Aufnahme in einen Verband mit drei Halbgeschwistern) zugrunde. Die Übernahme in diesen Wohnungsverband und deren rechtliche Gestaltung in Form der Übertragung der Vormundschaft stellt gerade keine Maßnahme der vollen Erziehung dar, eine solche jugendwohlfahrtsrechtliche Maßnahme sollte vielmehr gerade vermieden werden. Schon daraus folgt, dass die Voraussetzungen einer vollen Erziehungsmaßnahme im Sinne des § 2 Abs 2 Z 2 UVG nicht gegeben sind.

Dazu kommt, dass im hier zur Beurteilung anstehenden Fall - entgegen der zu 7 Ob 5/99g vertretenen Auffassung - auch gar keine bescheidmäßige und damit der Rechtskraft fähige, einen Rechtsanspruch des Empfängers erledigende Pflegegeldzuerkennung vorliegt. Während nämlich nach § 27 Abs 1 WrJWG Pflegeeltern (Pflegepersonen) zur Durchführung der vollen Erziehung - eine solche liegt nicht vor - auf Antrag zur Erleichterung der mit der Pflege verbundenen Lasten Pflegegeld gebührt, diesen also ausdrücklich ein Rechtsanspruch zuerkannt wird (so auch die - nicht veröffentlichten - Materialien zum WrJWG, § 27, S 57), statuiert § 27 Abs 6 WrJWG, dass unter anderem auch Vormündern, in deren Pflege und Erziehung sich das Kind befindet, vom Magistrat unter Berücksichtigung ihrer persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse Pflegegeld bis zur Höhe des Richtsatzes gewährt werden kann. In den bereits genannten Materialien zum WrJWG heisst es zu § 27 Abs 6 wörtlich:

"Gemäß Abs 6 kann der Magistrat dem im Gesetz angeführten Personenkreis nach freiem Ermessen im Rahmen der Privatwirtschaftsverwaltung Beiträge bis zur Höhe des Pflegegeldes gewähren; darauf besteht kein Rechtsanspruch; die Bedürfnisse des Pflegekindes sind jedoch primär von seinem Einkommen und durch die Geltendmachung der Unterhaltsansprüche (Unterhaltsvorschüsse) gegenüber beiden Elternteilen zu decken. Über die Gewährung eines solchen Pflegebeitrags ergeht eine formlose schriftliche Verständigung".

Diese rechtliche Ausgestaltung als nicht bescheidmäßiger Gewährungsakt der Privatwirtschaftsverwaltung entspricht übrigens auch der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs im Zusammenhang mit dem Bundespflegegeldgesetz (BPGG, BGBl 1993/110), wonach Zuerkennungen von Pflegegeldern in der Zeit bis zum 30. 6. 1995 (BGBl 1995/131) über die Stufe 2 hinaus mittels bloßer Mitteilungen (der gewährenden Pflegegeldträger) ebenfalls ohne Bescheidcharakter erfolgten; derartige, über der Stufe 2 liegende Pflegegelder wurden daher vom zuständigen Sozialversicherungsträger bloß als Träger von Privatrechten im Rahmen der Privatwirtschaftsverwaltung gewährt (SSV-NF 10/110 uam).

Daraus folgt, dass jedenfalls den von den Ländern nach ihren jeweiligen Jugendwohlfahrtsgesetzen bloß auf Grund von "Kann-Bestimmungen" und damit ohne Rechtsanspruch gewährten Pflegegeldern kein bescheidmäßiger Zuweisungsakt zugrundeliegt, sodass die in der Entscheidung 7 Ob 5/99g vertretene Rechtsansicht jedenfalls für das WrJWG bei neuerlicher Abwägung sämtlicher rechtlicher Gegebenheiten insoweit nicht als tragendes Argument für eine Einstellung derartiger Unterhaltsvorschüsse auf Grund solcher Pflegegeldgewährungen herangezogen werden kann (siehe zur vergleichbaren Sachlage auch 7 Ob 224/99p). Eine Einstellung nach § 2 Abs 2 Z 2 UVG könnte vielmehr nur dann erfolgen, wenn auch eine rechtliche Verpflichtung des jeweiligen Landes zu Gewährung solcher Pflegegelder (wie beispielsweise in Niederösterreich und in Tirol; siehe hiezu RZ 1997/28 und RZ 1994/10) bestünde. Bloß freiwillig gewährte Zuschüsse welcher Art immer treffen den Jugendwohlfahrtsträger nur wirtschaftlich, aber nicht "nach der Rechtslage". Dass dies - je nach anzuwendendem Landesrecht - zu unterschiedlichen Ergebnissen führen kann, ist eine von den jeweiligen Landesgesetzgebern rechtspolitisch gewollte normative Ausgestaltung, deren Änderung nur der Gesetzgebung und nicht den ordentlichen Gerichten im Rahmen ihrer Rechtsprechung obliegen kann (vgl 1 Ob 78/99y; 7 Ob 224/99p).

Dem Revisionsrekurs ist ein Erfolg zu versagen.

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