OGH 9Ob271/99i

OGH9Ob271/99i17.11.1999

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Maier als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Steinbauer, Dr. Spenling, Dr. Hradil und Dr. Hopf als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Heinz B*****, Koch, *****, vertreten durch Zamponi, Weichselbaum & Partner, Rechtsanwälte OEG in Linz, wider die beklagte Partei Renate Margit B*****, Aushilfskraft, *****, vertreten durch Dr. Klaus Messiner und Dr. Ute Messiner, Rechtsanwälte in Klagenfurt, wegen Aufhebung der Ehe, über den Rekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Landesgerichtes St. Pölten als Berufungsgericht vom 16. April 1999, GZ 10 R 92/99b-46, womit das Urteil des Bezirksgerichtes Haag vom 28. Oktober 1998, GZ 2 C 964/95m-39, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Die Kosten des Rekursverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Die Streitteile schlossen am 14. 9. 1991 die Ehe. Am 11. 10. 1991 wurde der gemeinsame Sohn geboren, den die Beklagte am 26. 7. 1993 im Zustand der Unzurechnungsfähigkeit tötete.

Der Kläger begehrt die Aufhebung der Ehe aus dem Verschulden der Beklagten. Diese habe bereits zum Zeitpunkt der Eheschließung an der letztlich zur Tötung des gemeinsamen Kindes führenden geistigen Erkrankung gelitten. Da der Kläger dies nicht gewusst habe, sei von einem Irrtum über Umstände, die die Person der Beklagten betreffen, iS des § 37 Abs 1 EheG auszugehen. Hätte er von der geistigen Erkrankung der Beklagten gewusst, hätte er sie nie geheiratet. Da die Beklagte dem Kläger ihre psychiatrischen Vorbehandlungen verschwiegen habe, werde das Aufhebungsbegehren auch auf arglistige Täuschung (§ 38 Abs 1 EheG) gestützt.

Die Beklagte beantragte, das Klagebegehren abzuweisen. Sie habe 1991 an keiner geistigen Erkrankung gelitten; auch sei ihr die Möglichkeit des Ausbruchs einer solchen nicht bekannt gewesen. Sie habe dem Kläger nichts verschwiegen. Dieser sei über das Krankheitsbild, das zu den Ereignissen vom 26. 7. 1993 geführt habe, voll informiert gewesen, weshalb der Aufhebungsanspruch überdies verjährt sei.

Das Erstgericht hob die Ehe zwischen den Streitteilen aus dem Verschulden der Beklagten auf. Es stellte nachstehenden Sachverhalt fest:

Die Streitteile, die einander seit dem Winter 1989/90 kennen, leben seit dem 26. 7. 1993 getrennt. Im Rahmen eines Unterbringungsverfahrens wurde bei der Beklagten eine Depression mit hochgradiger Suizidgefahr festgestellt. Vor bzw bei der Eheschließung ist dem Kläger nie eine psychiatrische Erkrankung der Beklagten aufgefallen, sie hat auch nie von einer solchen gesprochen. Etwa 1 1/2 Monate nach der Geburt des Kindes, als die Beklagte zu ihrem Ehegatten nach St. Valentin übersiedelte, fiel dem Kläger eine Veränderung in ihrem Wesen auf. Ein bis zwei Monate nach der Übersiedlung stellte die Mutter der Beklagten fest, dass ihre Tochter an einer Schwangerschaftspsychose leide. Der Kläger hätte die Beklagte nie geheiratet, wenn er gewusst hätte, dass sie psychisch krank sei.

Umfangreiche weitere "Feststellungen" des Erstgerichtes erschöpfen sich in der Zitierung von Parteiaussagen und Sachverständigengutachten, ohne dass erkennbar wäre, ob und inwieweit das Erstgericht den Inhalt dieser Aussagen bzw. Gutachten als erwiesen annimmt.

Das Erstgericht vertrat die Rechtsauffassung, dass der Eheaufhebungsgrund des § 37 Abs 1 EheG im Hinblick auf die bei der Eheschließung bereits bestehende oder in der Anlage vorhandenen Geisteskrankheit verwirklicht sei. Ein Ausschließungsgrund im Sinne des § 37 Abs 2 EheG sei nicht behauptet worden. Dem Kläger sei der Beweis gelungen, dass er die Aufhebungsklage innerhalb der Frist des § 40 EheG erhoben habe.

Das Berufungsgericht hob dieses Urteil über Berufung der Beklagten auf und trug dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf; den Rekurs an den Obersten Gerichtshof erklärte es für zulässig. Es vertrat die Rechtsauffassung, dass Geisteskrankheiten und schwere seelische Erkrankungen im Falle der Dauer, Unheilbarkeit oder doch hochgradigen Unwahrscheinlichkeit einer Heilung als Aufhebungsgrund iS des § 37 EheG in Betracht kämen, wenn sie im Zeitpunkt der Eheschließung zumindest in der Anlage schon vorhanden und dem Partner nicht bekannt gewesen seien und wenn der Irrtum darüber für die Eheschließung kausal gewesen sei. Es fehlten aber Feststellungen darüber, ob die zur Tötung des Kindes führende Geisteskrankheit der Beklagten (und nicht etwa eine andere) bereits im Zeitpunkt der Eheschließung in der Anlage vorhanden, bejahendenfalls, ob sie von Dauer bzw. unheilbar war bzw. ob ihre Heilung hochgradig unwahrscheinlich war, sowie darüber, ob dem Kläger eine solche Anlage bekannt war und - falls nicht - ob er die Beklagte auch bei deren Kenntnis geheiratet hätte. Die höchst rudimentären Feststellungen des Erstgerichtes seien nicht geeignet, insofern Klarheit zu schaffen. Ob die später ausgebrochene Geisteskrankheit zum Zeitpunkt der Eheschließung in der Anlage schon vorhanden war, werde danach zu beurteilen sein, ob bei sachverständiger Würdigung der zum Zeitpunkt der Eheschließung vorliegenden Befunde über die psychische Verfassung der Berufungswerberin die späteren Ereignisse im Sinne einer bestehenden Neigung oder Gefährdung vorhersehbar waren. Es werde also festzustellen sein, ob es ein psychiatrischer Sachverständiger aufgrund der zum Zeitpunkt der Eheschließung vorliegenden Befunde - insbesondere jenen des Landeskrankenhauses V***** - für möglich gehalten hätte, dass die Berufungswerberin später einmal in einem Anfall von "Stillpsychose" ihr zweijähriges Kind töten könnte. Nur wenn aus damaliger fachärztlicher Sicht eine derartige Entwicklung als konkrete Möglichkeit in Betracht zu ziehen gewesen wäre - wobei es nicht darauf ankomme, ob der Kläger oder die Berufungswerberin ohne ärztliche Beratung diese Möglichkeit hätten erkennen können - könne von einer Anlage im Sinne der zitierten Judikatur und damit von einem relevanten Irrtum iS des § 37 Abs 1 EheG die Rede sein. Hingegen reiche die bloß abstrakte Möglichkeit, dass die Berufungswerberin unter dem Einfluss der Geisteskrankheit eine derartige Tat begehen werde, ohne dass irgendwelche konkrete Anzeichen dies zumindest nicht unwahrscheinlich erscheinen ließen, nicht aus, um den Tatbestand des § 37 Abs 1 EheG zu verwirklichen. Nur diese Auslegung des § 37 EheG verhindere, dass nicht nur der Irrtum über zum Zeitpunkt der Eheschließung vorhandene, sondern auch jener über später eintretende Umstände zur Aufhebung berechtigen würde. Andernfalls würde der Aufhebungstatbestand in vom Gesetzgeber nicht beabsichtigte Konkurrenz zu den Scheidungsgründen treten. Sollte daher die Erkrankung der Beklagten erst mit der Geburt des gemeinsamen Kindes - und somit nach der Eheschließung - eine Wendung genommen haben, die nunmehr die spätere Kindestötung vorhersehbar habe werden lassen, wäre zum Zeitpunkt der Eheschließung noch kein relevanter Irrtum des Klägers vorgelegen. Auch von einer arglistigen Täuschung könnte dann keine Rede sein. Im Falle des Vorliegens eines relevanten Irrtums werde sich das Erstgericht eingehender als bisher mit der Frage des Zeitpunktes der Entdeckung des Irrtums gemäß § 40 Abs 2 EheG und damit der Rechtzeitigkeit der Aufhebungsklage auseinanderzusetzen haben.

Der Rekurs an den Obersten Gerichtshof sei zuzulassen, weil die einschlägige Judikatur den Begriff des "Vorhandenseins der Anlage" voraussetze, ohne ihn näher zu erläutern. Damit sei offen geblieben, wie wahrscheinlich oder vorhersehbar der spätere Ausbruch der Geisteskrankheit im Zeitpunkt der Eheschließung gewesen sein müsse.

Gegen diesen Beschluss richtet sich der Rekurs der Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, ihn aufzuheben und das Ersturteil zu bestätigen.

Die Beklagte beantragt, dem Rekurs nicht Folge zu geben.

Der Rekurs ist zulässig, weil die Rechtsausführungen des Berufungsgerichtes der Korrektur bedürfen. Im Ergebnis ist er aber nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Gemäß § 37 Abs 1 EheG kann ein Ehegatte die Aufhebung der Ehe begehren, wenn er sich bei der Eheschließung über solche die Person des anderen Ehegatten betreffende Umstände geirrt hat, die ihn bei Kenntnis der Sachlage und richtiger Würdigung des Wesens der Ehe von der Eingehung der Ehe abgehalten hätten. Die Irrtum muss demnach nicht nur subjektiv für den Heiratswillen des klagenden Ehegatten kausal gewesen sein, indem er den Irrenden "bei Kenntnis der Sachlage" von der Heirat "abgehalten hätte", sondern auch Gründe betreffen, die nach dem gesetzlichen Ehebild ("bei richtiger Würdigung des Wesens der Ehe") den Verlust des Heiratswillens objektiv rechtfertigen würden (Schwimann in Schwimann, ABGB I**2 Rz 2 zu § 37 EheG; Pichler in Rummel, ABGB**2, Rz 4 zu § 37 EheG mwN). Geisteskrankheiten und schwere seelische Erkrankungen kommen dann als Aufhebungsgrund in Betracht, wenn sie unheilbar sind oder ihre Heilung hochgradig unwahrscheinlich ist; dabei reicht es aus, dass die Krankheit zwar erst während der Ehe ausbricht, aber schon zum Zeitpunkt der Eheschließung in ihrer Anlage vorhanden war (SZ 48/1; EFSlg 15.740; EvBl 1955/413; Pichler, aaO, Rz 5 zu § 37 EheG; Schwind in Klang**2, I/1 680). Der objektive Sachverhalt und die subjektive Einstellung des Irrenden dazu sind nach den Umständen zum Zeitpunkt der Eheschließung zu beurteilen. Zur Klärung dieser damals vorgelegenen Umstände sind allerdings alle Erkenntnisquellen heranzuziehen, die im Zeitpunkt des Aufhebungsstreits zur Verfügung stehen. Wenn sich also im Zeitpunkt des Streites feststellen lässt, dass der die Aufhebung bedingende Umstand im Zeitpunkt der Eheschließung schon vorhanden war, genügt dies zur Rechtfertigung des Aufhebungsbegehrens auch dann, wenn dieser Umstand damals objektiv noch nicht erkannt war bzw. noch nicht erkannt werden konnte (Schwind, aaO, 676).

Der Rechtsauffassung des Berufungsgerichtes kann daher in zweifacher Hinsicht nicht gefolgt werden: Zum einen ist es verfehlt, nur solche Umstände als relevant zu erachten, die - wenn auch für einen Sachverständigen - aus den damals vorhandenen Befunden erkennbar waren. Wie eben dargelegt, reicht es vielmehr zur Bejahung des Aufhebungsgrundes aus, wenn aus heutiger Sicht festgestellt werden kann, dass beim beklagten Ehegatten schon zum Zeitpunkt der Eheschließung eine mit hoher Wahrscheinlichkeit unheilbare Geisteskrankheit oder schwere seelische Erkrankung zumindest in ihrer Anlage vorhanden war, wobei es erforderlich ist, dass der klagende Ehegatte in seiner damaligen Situation - hätte er von der Anlage und dem dadurch bedingten Grad der Wahrscheinlichkeit des Ausbrechens der Krankheit und deren möglicher Tragweite gewusst - die Ehe nicht geschlossen hätte.

Zum anderen ist dem Berufungsgericht nicht zu folgen, soweit es die Bejahung des Aufhebungsgrundes davon abhängig macht, dass die allenfalls zum Zeitpunkt der Eheschließung vorhandene Anlage schon damals aus sachverständiger Sicht die tatsächlich eingetretene Folge der Krankheit - nämlich die Tötung des Kindes - als wahrscheinlich erscheinen ließ. Diese Einschränkung des Aufhebungsgrundes auf die Fälle der Vorhersehbarkeit ganz bestimmter Krankheitsfolgen ist nicht sachgerecht, weil sich Geisteskrankheiten und schwere seelische Erkrankungen in mannigfaltiger Weise ausdrücken können und nicht einzusehen ist, dass eine im Sinne der oben erläuterten Rechtslage relevante Krankheitsanlage nur deshalb kein Aufhebungsgrund sein soll, weil zwar der Ausbruch der Krankheit und üblicherweise damit verbundene (relevante) Folgen vorhersehbar waren, nicht aber der Umstand, dass eine ganz bestimmte, letztlich wirklich eingetretene Folge eintreten werde. Im Lichte der oben dargestellten Rechtslage ist vielmehr ausschließlich darauf abzustellen, ob die nunmehr ausgebrochene Krankheit (nicht aber die konkrete Auswirkung der Kindestötung) schon zum Zeitpunkt der Eheschließung zumindest in ihrer Anlage vorhanden war und dass der Kläger in seiner damaligen Situation bei Kenntnis dieser Anlage und der damit verbundenen Wahrscheinlichkeit eines Krankheitsausbruchs mit relevanten Folgen die Ehe geschlossen hätte oder nicht. Sind diese Voraussetzungen zu bejahen, ist entgegen der Meinung des Berufungsgerichtes der Aufhebungsgrund auch dann verwirklicht, wenn die Erkrankung der Beklagten erst mit der Geburt des Kindes eine Wendung nahm, die konkret die Kindestötung als vorhersehbar erscheinen ließ. Der vom Berufungsgericht zu Recht betonte Grundsatz, dass für die Beurteilung des Irrtums auf den Zeitpunkt der Eheschließung abzustellen ist, wird dadurch nicht in Frage gestellt.

Auch nach der hier vertretenen Rechtsauffassung erweisen sich die Ausführungen des Berufungsgerichtes, wonach die "Feststellungen" des Erstgerichtes, die großteils über das unreflektierte Referieren von Aussagen und Sachverständigengutachten nicht hinausgehen, ergänzungsbedürftig sind. Es werden konkrete Feststellungen über die bei der Beklagten ausgebrochene Erkrankung sowie über deren Heilungsaussichten und darüber zu treffen sein, ob diese Erkrankung schon zum Zeitpunkt der Eheschließung zumindest in ihrer Anlage vorhanden war, wie wahrscheinlich der Ausbruch der Krankheit mit relevanten Folgen war und ob der Kläger - hätte er von einer allenfalls vorhandenen Anlage und der damit möglicherweise verbundenen Folgen gewusst - in seiner damaligen Situation die Ehe eingegangen wäre. Auch zur Behauptung des Klägers, die Beklagte habe ihn über das Vorliegen eines Aufhebungsgrundes arglistig getäuscht (§ 38 Abs 1 EheG), werden konkrete Feststellungen zu treffen sein, wobei zu beachten sein wird, dass eine arglistige Täuschung durch die Beklagte von vornherein nur dann in Betracht kommen kann, wenn für sie selbst das Vorhandensein einer im erläuterten Sinn relevanten Krankheit (oder der Anlage dazu) erkennbar war. Bei Bejahung eines im erläuterten Sinn relevanten Irrtums des Klägers oder einer Täuschung durch die Beklagte sind ferner - im Hinblick auf die bestrittene Rechtzeitigkeit der Klageführungen - Feststellungen darüber zu treffen, wann der Irrtum oder die Täuschung vom Kläger entdeckt wurde (§ 40 Abs 2 EheG). Dabei wird zu beachten sein, dass die Frist des § 40 EheG dann zu laufen beginnt, wenn dem Ehegatten so wesentliche Tatsachen bekannt geworden sind, die bei vernünftiger Überlegung für die Geltendmachung der Aufhebung als ausreichend angesehen werden können. Ob der Ehegatte die rechtliche Tragweite der ihm bekannt gewordenen Umstände, insbesondere seine daraus abzuleitende Berechtigung, die Aufhebung der Ehe zu verlangen, kannte, ist hingegen für den Beginn der Ausschlussfrist ohne Bedeutung (EFSlg 57.076). Der vom Kläger beantragte Ausspruch des Verschuldens der Beklagten - dieser Ausspruch wurde vom Erstgericht mit keinem Wort begründet - setzt voraus, dass die Beklagte den Kläger iS des § 38 EheG täuschte oder - im Falle des § 37 EheG - dass sie bei Eingehung der Ehe den Aufhebungsgrund kannte.

Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens ist in § 52 Abs 1 ZPO begründet.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte