OGH 10ObS265/99i

OGH10ObS265/99i9.11.1999

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ehmayr und Dr. Steinbauer sowie die fachkundigen Laienrichter Dipl. Ing. Walter Holzer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Andrea Svarc (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei mj. Salar B*****, geboren am 27. Dezember 1986, vertreten durch seine Mutter Fatemeh-Alsatat B*****, beide *****, vertreten durch Dr. Hermann Sperk, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Land Wien, Magistrat der Stadt Wien, Magistratabteilung 12 - Sozialamt, 1010 Wien, Gonzagagasse 23, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Pflegegeld, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 28. April 1999, GZ 7 Rs 385/98h-37, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 27. April 1998, GZ 15 Cgs 166/97d-21, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird teilweise Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass sie lauten:

Die beklagte Partei ist schuldig, dem Kläger ab 1. 9. 1997 ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 4 nach dem Wiener Pflegegeldgesetz von S

8.535 monatlich, unter Anrechnung des halben Erhöhungsbetrages der Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder S 7.710 monatlich zu zahlen. Das Mehrbegehren auf Zahlung eines höheren Pflegegeldes ab 1. 9. 1997, insbesondere eines solchen in Höhe der Stufe 6, wird abgewiesen.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit S 4.058,88 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten S 676,48 Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der am 27. 12. 1986 geborene Kläger bezog seit 1. 7. 1993 vom beklagten Land auf Grund eines Bescheides vom 19. 9. 1994 (hinsichtlich der Stufe 2) sowie einer Mitteilung vom selben Tag (hinsichtlich der Stufe 5) ein Pflegegeld nach dem WPGG in Höhe der Stufe 5.

Mit Bescheid der beklagten Partei vom 1. 7. 1997 wurde der Antrag auf Erhöhung des Pflegegeldes abgewiesen und ausgesprochen, dass dem Kläger ab 1. 9. 1997 ein Pflegegeld der Stufe 4 von monatlich S 8.535, unter Anrechnung des halben Erhöhungsbetrages der Familienbeihilfe von monatlich S 7.710 gebührt.

Das Erstgericht wies das dagegen erhobene, auf Gewährung eines höheren Pflegegeldes gerichtete Klagebegehren ab. Es gelangte zu dem Ergebnis, dass der Pflegebedarf des Klägers nach § 4 WPGG iVm mit §§ 1 bis 4 der Wiener EinstV durchschnittlich 165 Stunden monatlich betrage, also nicht mehr als 180 Stunden monatlich, weshalb auch das Erfordernis der dauernden Beaufsichtigung nicht veranschlagt werden könne. Das Pflegegeld der Stufe 4 sei aber von der beklagten Partei anerkannt.

Das Berufungsgericht gab der vom Kläger erhobenen Berufung nicht Folge und billigte die Rechtsansicht des Berufungsgerichtes.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision der klagenden Partei ist nur im Ergebnis teilweise berechtigt.

Der Revisionsgrund der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens (§ 503 Z 2 ZPO) liegt nicht vor; diese Beurteilung bedarf nach § 510 Abs 3 dritter Satz ZPO keiner Begründung. Dem Revisionswerber sei nur in Kürze entgegen gehalten, dass Mängel des Verfahrens erster Instanz, die vom Berufungsgericht verneint wurden, nach ständiger Rechtsprechung in der Revision nicht neuerlich geltend gemacht werden können (SSV-NF 7/74 mwN ua). Mit allen jenen Berufungsausführungen, die den Bedarf des Klägers nach dauernder Beaufsichtigung dartun wollten, brauchte sich das Berufungsgericht aus rechtlichen Gründen nicht auseinander zu setzen, wie die Besprechung der Rechtsrüge darzulegen sein wird.

Soweit mit dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung (§ 503 Z 4 ZPO) der Anspruch des Klägers auf ein höheres Pflegegeld als das der Stufe 4 begründet werden soll, ist die Revision nicht berechtigt.

Die Argumente des Revisionswerbers laufen dahin hinaus, das autistische Syndrom und die geistige Retardation des Kindes seien der Grund dafür, dass ihn die Mutter "permanent" bzw "rund um die Uhr" also 24 Stunden täglich beaufsichtigen müsse, woraus sich ein Pflegebedarf von 720 Stunden monatlich errechne.

Diese Überlegungen verkennen die schon vom Erstgericht zutreffend dargestellte Rechtslage. Zunächst ist auch auf § 3 Abs 3 der WEinstV hinzuweisen, wonach der Pflegebedarf bei Personen zwischen dem dritten und fünfzehnten Lebensjahr insoweit nicht anzunehmen ist, als die notwendigen Verrichtungen auch von Personen, die sich auf der dem jeweiligen Lebensalter entsprechenden Entwicklungsstufe befinden, nicht selbständig vorgenommen werden können (vgl SSV-NF 10/96 = SZ 69/210 mwN). Letztlich ist aber ausschlaggebend, dass die Zeit der reinen Beaufsichtigung eines Pflegebedürftigen bei der Ermittlung des Betreuungsaufwandes nach § 1 WEinstV überhaupt nicht in Anschlag zu bringen ist, weil das Erfordernis der dauernden Beaufsichtigung oder eines gleichzuachtenden Pflegeaufwandes nur entscheidend wird, wenn der Pflegebedarf schon ohne diese Beaufsichtigung durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt (§ 4 Abs 2 Stufe 6 WPGG, ebenso BPGG) und davon abgesehen nach § 4 WEinstV (ebenso EinstV zum BPGG) die Anleitung und die Beaufsichtigung von Menschen mit geistiger oder psychischer Behinderung bei der Durchführung der in den §§ 1 und 2 angeführten Verrichtungen der Betreuung und Hilfe selbst gleichzusetzen, nicht aber darüber hinaus gesondert zu veranschlagen ist (dazu ausführlich 10 ObS 447/97a = SSV-NF 12/23). Die zuletzt zitierte Bestimmung mit der Anordnung der "Gleichsetzung" zeigt aber auch, dass zwischen Anleitung und Beaufsichtigung auf der einen Seite und Betreuung und Hilfe auf der anderen Seite grundsätzlich ein qualitativer Unterschied besteht. Der Oberste Gerichtshof hat dazu in einem ähnlich gelagerten Fall ausgesprochen, dass die Vermeidung der Selbstgefährdung an sich eine "Eigenleistung" jedes - auch behinderten - Menschen darstellt, die nicht als selbständige Pflegeleistung iSd §§ 1 und 2 EinstV und damit als "pflegebedingte Mehraufwendung" (§ 1 WPGG, ebenso BPGG) durch Pflegegeld abgegolten werden soll. Unter Bedachtnahme auf die vom Erstgericht zitierten Bestimmungen der § 4 WPGG und §§ 1 bis 4 WEinstV ergibt sich aber kein 180 Stunden monatlich übersteigender Pflegebedarf des Klägers; auch der Revisionswerber versucht diesen lediglich aus dem Erfordernis dauernder Beaufsichtigung abzuleiten, lässt aber außer Acht, dass der Pflegeaufwand bereits ohne Berücksichtigung der Beaufsichtigung 180 Stunden übersteigen müsste, um zusätzlich berücksichtigt zu werden (so auch 10 ObS 374/97s, 10 ObS 389/98y ua). Den weiteren, sich mit freiheitsbeschränkenden Maßnahmen gegen Behinderte beschäftigenden Ausführungen des Berufungsgerichtes (Seiten 6 bis 8 des angefochtenen Urteils) kommt mangels entsprechender Tatsachengrundlage keine Relevanz zu, so dass sich ein Eingehen darauf ebenso erübrigt wie auf die diese Auffassung bekämpfenden Revisionsausführungen.

Abschließend ist noch darauf hinzuweisen, dass auch die im Hinblick auf die rückwirkend mit 1. 1. 1999 in Kraft getretene Novelle zum WPGG, Wiener LGBl 1999/44, neue Rechtslage beim gegenständlichen Sachverhalt zu keinem für den Kläger günstigeren Ergebnis führen kann. Auch in der neuen Fassung setzen die Stufen 5 bis 7 voraus, dass der Pflegebedarf durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt.

Damit hat es jedoch zusammenfassend bei der mit Bescheid vom 1. 9. 1997 erfolgten Zuerkennung des Pflegegeldes der Stufe 4 zu bleiben und es ist somit das auf eine darüber hinausgehende Pflegegeldzuerkennung gerichtete Klagebegehren abzuweisen. Berechtigt ist die Revision im Ergebnis nur insoweit, als das Berufungsgericht offenbar fälschlich annahm, es habe einer "Wiederherstellung" des angefochtenen Bescheides über ein Pflegegeld der Stufe 4 nicht bedurft. Wie oben dargestellt, wurde der Differenzbetrag zwischen der Stufe 2 und der Stufe 5 des Pflegegeldes seinerzeit nicht mit Bescheid, sondern - im Sinne der damaligen Rechtslage (§ 4 Abs 4 WPGG in seiner Stammfassung) - als privatrechtliche Naturobligation auf Grund einer bloßen Mitteilung ohne Rechtsanspruch und ohne Klagemöglichkeit gewährt (vgl SSV-NF 8/71 zu dem vergleichbaren § 4 Abs 4 BPGG aF; SSV-NF 12/23; 10 ObS 374/97s). Über den Rechtsanspruch des Klägers auf Pflegegeld der Stufe 4 wurde hingegen erstmals mit dem angefochtenen, durch die Klage jedoch außer Kraft getretenen Bescheid abgesprochen. In teilweiser Stattgebung der Revision war dem Kläger nunmehr das Pflegegeld der Stufe 4 mit Urteil zuzuerkennen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG; Bemessungsgrundlage ist jedoch nur 50.000 S (§ 77 Abs 3 ASGG).

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