OGH 10ObS100/99z

OGH10ObS100/99z9.11.1999

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ehmayr und Dr. Hopf sowie durch die fachkundigen Laienrichter Dipl. Ing. Walter Holzer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Andrea Svarc (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Ing. Robert H*****, vertreten durch Dr. Alois Obereder, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, Friedrich Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Berufsunfähigkeitspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 16. Dezember 1998, GZ 7 Rs 309/98g-41, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 8. Mai 1998, GZ 12 Cgs 266/96m-34, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der am 8. 5. 1955 geborene Kläger besuchte eine Höhere Technische Lehranstalt (Nachrichtentechnik) und legte dort am 15. 6. 1974 die Reifeprüfung ab. Nach einem abgebrochenen Studium arbeitete er bis 19. 9. 1989 als EDV-Fachkraft (Nachrichtentechniker, PC-Betreuer) und war dabei kollektivvertraglich in die Verwendungsgruppe IV bzw vorübergehend (1. 8. bis 9. 9. 1987) sogar in die Verwendungsgruppe V eingestuft.

Der Kläger leidet insbesondere an einer tiefgreifenden neurotischen Persönlichkeitsstörung bei Verdacht auf genotypische Belastung. Auf Grund seines eingeschränkten Gesundheitszustandes ist er nur mehr für leichte geistige und körperliche Arbeiten, unter Ausschluss von ständigem besonderen Zeitdruck, geeignet. Für diese Arbeiten ist Anlernbarkeit und Einordenbarkeit gegeben. Dieser Zustand besteht seit Antragstellung.

Da die "Halbwertszeit des Wissens" in der EDV-Branche sehr kurz ist, hätte sich der Kläger ständig fortbilden müssen. Er war jedoch den Anforderungen der fachlichen Weiterbildung (an EDV-Fachkräfte) in den Verwendungsgruppen IV bzw V auf Grund seines psychischen Leidenszustandes nicht mehr gewachsen. Es war ihm nur mehr möglich "Wissenserwerb im Sinne der Verwendungsgruppe II zu tätigen."

Mit Bescheid vom 18. 11. 1996 lehnte die beklagte Partei den Antrag des Klägers vom 26. 7. 1996 auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension ab. Der Kläger könne weiter seine bisherige Tätigkeit bzw eine Tätigkeit in der gleichen Berufsgruppe ausüben.

Dagegen richtet sich die Klage auf Gewährung der Berufsunfähigkeitspension in gesetzlicher Höhe ab 1. 8. 1996.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren unter Zugrundelegung des eingangs wiedergegebenen Sachverhaltes ab. Dabei vertrat es die Rechtsauffassung, dass ein Versicherter nur auf die Ausübung solcher Berufe verwiesen werden dürfe, mit denen kein unzumutbarer sozialer Abstieg verbunden sei. Sei ein Versicherter jahrelang vor dem Stichtag nicht mehr in einem Beschäftigungsverhältnis gestanden, dann sei bei der Prüfung der Verweisbarkeit der soziale Wert wesentlich, den die Kenntnisse und Fähigkeiten, die bei der zuletzt ausgeübten Beschäftigung von Bedeutung gewesen seien, unter den Verhältnissen zur Zeit des Stichtages haben. Durch die lange Absenz vom Arbeitsmarkt seien die Kenntnisse und Fähigkeiten des Klägers zur Zeit des Stichtages (1. 8. 1996) soweit abgesunken, dass er nur noch in die Verwendungsgruppe II des Kollektivvertrages einzustufen sei. Die Verweisbarkeit des Klägers in diese Verwendungsgruppe sei (auf Grund des Leistungskalküls) gegeben; ein unzumutbarer sozialer Abstieg finde dabei nicht statt. Der Kläger sei daher nicht berufsunfähig im Sinne des § 273 Abs 1 ASVG.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Unter Zugrundelegung der erstgerichtlichen Feststellungen und der vom Berufungsgericht ergänzend getroffenen Feststellung, dass damit zu rechnen sei, dass ein Versicherter, der - bezogen auf die Beschäftigung des Klägers in den Verwendungsgruppen IV oder V - keine fachliche Weiterbildung betreibe (bzw betreiben könne), nur mehr Hilfskrafttätigkeiten bzw Tätigkeiten, wie sie in der Verwendungsgruppe II vorkommen, leisten könne, verneinte es in rechtlicher Hinsicht gleichfalls eine Berufsunfähigkeit des Klägers und trat der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichtes bei. Es mache keinen Unterschied, ob ein Versicherter gesundheitsbedingt in einen weniger qualifizierten Beruf wechsle oder gesundheitsbedingt keine Arbeitsleistungen mehr erbringen könne. Der Kläger habe mangels Weiterbildung seinen früheren fachlichen Standard nicht halten können. Abstellend auf die maßgeblichen Verhältnisse am Stichtag sei er nur mehr in die Verwendungsgruppe II einordenbar. Damit sei aber auch eine Verweisung auf die Verwendungsgruppe I eines Kollektivvertrages möglich, ohne dass damit ein unzumutbarer sozialer Abstieg verbunden sei.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung im Sinne der Stattgebung des Klagebegehrens abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagte erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Aus den Feststellungen des Erstgerichtes ist abzuleiten, dass der Kläger auf Grund seines psychischen Gesundheitszustandes die von ihm zuletzt (bis September 1989) ausgeübte Berufstätigkeit einer EDV-Fachkraft, die in die Verwendungsgruppen IV bzw (vorübergehend) V eines Kollektivvertrages eingeordnet war, nicht mehr ausüben kann. Es ist daher von entscheidender Bedeutung, auf welche anderen Berufstätigkeiten er verwiesen werden darf. Gemäß § 273 Abs 1 ASVG gilt als berufsunfähig der Versicherte, dessen Arbeitsfähigkeit infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Bei der Bestimmung des Verweisungsfeldes nach dieser Bestimmung ist von jenem Angestelltenberuf des Versicherten auszugehen, den dieser zuletzt ausgeübt hat. Dieser Beruf bestimmt das Verweisungsfeld, das heißt die Summe aller Berufe, die derselben Berufsgruppe zuzurechnen sind, weil sie eine ähnliche Ausbildung und gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten verlangen (SSV-NF 2/73, 2/92 ua). Weder der Wortlaut noch der Zweck der angeführten Bestimmung bieten einen Anhaltspunkt dafür, dass die zuletzt ausgeübte Berufstätigkeit nur deshalb nicht maßgebend ist, weil sie schon längere Zeit zurückliegt (SSV-NF 3/108).

Den Vorinstanzen ist darin beizupflichten, dass der Versicherte innerhalb seiner Berufsgruppe nicht auf eine Berufstätigkeit verwiesen werden darf, deren Ausübung für ihn einen unzumutbaren sozialen Abstieg bedeuten würde. Hiefür ist die Einschätzung der Allgemeinheit maßgebend (SSV-NF 3/108).

Es entspricht der Lebenserfahrung, dass Berufstätige, die - wie der Kläger - ihren Beruf längere Zeit nicht ausgeübt haben, später nur mehr in geringer eingestuften Berufstätigkeiten eingesetzt werden, also gleichsam "von vorne beginnen" müssen. Dies kann nach ständiger Rechtsprechung bei der Frage der Zumutbarkeit eines sozialen Abstiegs nicht unberücksichtigt bleiben, weil es nicht gerechtfertigt wäre, für den Pensionsanspruch jene Behandlung außer Betracht zu lassen, die dem Versicherten im Berufsleben tatsächlich zu Teil würde (ARD 4292/21/91; RIS-Justiz RS0084296). Stand ein Versicherter jahrelang vor dem Stichtag nicht in einem Beschäftigungsverhältnis, dann ist bei der Prüfung der Verweisbarkeit der soziale Wert wesentlich, den die Kenntnisse und Fähigkeiten, die bei der zuletzt ausgeübten Tätigkeit von Bedeutung waren, unter den Verhältnissen zur Zeit des Stichtages haben (SSV-NF 3/108, 6/135, 9/48, 12/32; ARD 4978/14/98; 10 ObS 164/99m).

Die Einstufung einer Tätigkeit in einen Kollektivvertrag kann ein Indiz für die Einschätzung der Allgemeinheit bilden und zur Beurteilung des sozialen Wertes einer Tätigkeit herangezogen werden. Kann auf die Einstufung in einem Kollektivvertrag zurückgegriffen werden, ist entscheidend, in welche Berufsgruppe zur Zeit des Stichtags eine Tätigkeit eingestuft würde, für die jene Ausbildung und jene Fähigkeiten verlangt werden, über die der Versicherte in seiner zuletzt ausgeübten Berufstätigkeit verfügte. Führt diese Ausbildung oder führen diese Kenntnisse und Fähigkeiten unter den Verhältnissen, die am Stichtag bestehen, zur Einstufung in eine niedrigere Beschäftigungsgruppe als zu der Zeit, in der die Berufstätigkeit ausgeübt wurde, so ist von dieser Einstufung und nicht von der Einstufung zur Zeit der Ausübung dieser Tätigkeit auszugehen (SSV-NF 3/108).

Aus den Feststellungen des Erstgerichtes folgt, dass der Wert der Ausbildung, Kenntnisse und Fähigkeiten des Klägers, die für die bis September 1989 ausgeübte Beschäftigung von Bedeutung waren, mangels weiterer Fortbildung und Berufsausübung am Stichtag nur mehr dem sozialen Wert einer Einordnung des Klägers in "die Verwendungsgruppe II" entspricht. Es ist nicht nur gerichtsbekannt, sondern es ergibt sich auch aus dem vom Erstgericht eingeholten berufskundlichen Sachverständigengutachten (ON 12, AS 45) dass sich darin beispielsweise noch einfache Datenerfassungs- und Evidenztätigkeiten, routinemäßige PC-unterstützte Dokumentationsarbeiten etc finden, die der Verwendungsgruppe II des Rahmenkollektivvertrages für Angestellte der Industrie oder der Beschäftigungsgruppe 2 des Kollektivvertrages für die Handelsangestellten Österreichs angehören. Dass diese Tätigkeiten auch dem medizinischen Leistungskalkül des Klägers am Stichtag entsprechen, wird vom Revisionswerber nicht in Abrede gestellt. Ein unzumutbarer sozialer Abstieg ist damit nicht verbunden (vgl SSV-NF 12/32). Das Problem einer Verweisung des Klägers auf Berufe der niedrigeren Verwendungsgruppe I bzw Beschäftigungsgruppe 1 stellt sich damit ebensowenig wie eine (unzulässige) Verweisung eines Angestellten auf Arbeitertätigkeiten (SSV-NF 3/123, 4/101).

Der Haupteinwand des Revisionswerbers, es sei auf die letzte "freiwillige" Beschäftigung ungeachtet der langen Dauer der Arbeitslosigkeit vor dem Stichtag und demzufolge auch nicht auf die Verhältnisse am Stichtag abzustellen, ist nicht berechtigt. Dass der Kläger seit September 1989 keine Beschäftigung mehr ausgeübt, sondern Arbeitslosengeld bezogen hat, kann ihn nicht besser stellen als den Versicherten, der sich trotz Eintritt der Berufsunfähigkeit entschliesst, weiterhin berufstätig zu bleiben (SSV-NF 7/51; 10 ObS 2308/96a). Bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen für die Zuerkennung einer Pension aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit gegeben sind bzw ob Berufsschutz vorliegt, ist ausschließlich auf die Verhältnisse des durch die spätere Antragstellung ausgelösten Stichtages abzustellen (SSV-NF 3/27, 3/89). Die gesundheitsbedingte Aufgabe eines qualifzierten Berufes ist bei der Beurteilung der Berufsunfähigkeit dann nicht mehr zu berücksichtigen, wenn der später ausgeübte Beruf überwiegt oder doch schon mehrere Jahre ausgeübt wurde (Schrammel in Tomandl, Die Minderung der Leistungsfähigkeit im Recht der Sozialversicherung 63 [74]). Andernfalls hätte der Versicherte früher (nämlich bei Eintritt des Versicherungsfalles der geminderten Arbeitsfähigkeit) um die Gewährung der Berufsunfähigkeitspension ansuchen müssen (SSV-NF 8/45). Am vorliegenden, durch die Antragstellung ausgelösten Stichtag 1. 8. 1996 war der soziale Wert der Ausbildung, Kenntnisse und Fähigkeiten des Klägers, die für die letzte, bis September 1989 ausgeübte Beschäftigung von Bedeutung waren, wie bereits ausgeführt, mangels fachlicher Fortbildung in den Folgejahren erheblich abgesunken. Entgegen der Auffassung des Revisionswerbers kann aber bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit nicht von einer früheren Einordnung in bestimmte Verwendungsgruppen ausgegangen werden, für die am Stichtag die Qualifikation fehlte (vgl auch SSV-NF 3/13, 3/41, 10/11). Vom zuletzt ausgeübten Beruf wird auch im Fall des Klägers ausgegangen, dies aber unter Berücksichtigung des sozialen Wertes der Ausbildung, Kenntnisse und Fähigkeiten am Stichtag. Dass dem Kläger eine für die Verwendungsgruppen IV oder V erforderliche Weiterbildung nicht mehr möglich ist, steht der vorstehenden Beurteilung nicht entgegen, sondern ist letztlich einer der entscheidenden Gründe, weshalb der soziale Wert der Ausbildung, Kenntisse und Fähigkeiten seit der letzten Beschäftigung bis zum Stichtag erheblich abgesunken ist.

Zusammenfassend wurden von den Vorinstanzen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Berufsunfähigkeitspension nach § 273 Abs 1 ASVG zu Recht verneint. Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte