OGH 4Ob188/99x

OGH4Ob188/99x13.7.1999

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Kodek als Vorsitzenden und durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Graf, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Griß und Dr. Schenk sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Vogel als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Dorothea R*****, vertreten durch Dr. Willibald Rath und andere Rechtsanwälte in Graz, wider die beklagten Parteien 1. J*****gesellschaft mbH, *****, 2. I***** AG, *****, beide vertreten durch Kaan, Cronenberg & Partner, Rechtsanwälte in Graz, wegen 200.000 S sA (Revisionsinteresse 66.666,67 S sA), infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 4. März 1999, GZ 4 R 279/98a-29, mit dem das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 12. Oktober 1998, GZ 13 Cg 149/97p-24, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, daß die Entscheidung des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

Die Beklagten sind zur ungeteilten Hand schuldig, der Klägerin die mit 25.654,14 S bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens (darin 3.062,02 S USt und 7.282 S Barauslagen) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die Klägerin nahm im Juli 1996 an einer Opernreise teil, die mit einem Bus der Erstbeklagten durchgeführt wurde. Die Zweitbeklagte ist Haftpflichtversicherer der Erstbeklagten.

Bei der Rückkehr am 21. 7. 1996, um 2.30 Uhr, hielt der Fahrer den Bus im Bereich des Hotels I***** am Bahnhofsvorplatz in G***** an, der zu dieser Zeit umgebaut wurde. Der Bus stand weniger als 1 m von der Gehsteigkante entfernt; die Gehsteigkante war zwischen 3 und 10 cm hoch. Die Ausstiegsstelle war im Unfallszeitpunkt dunkel und die Gehsteigkante kaum sichtbar. Beim Aussteigen trat die Klägerin auf die Gehsteigkante und kam zum Sturz. Auch eine weitere Person stürzte.

Die Klägerin erlitt einen Außenknöchelspitzenbruch Typ A sowie einen fadenförmigen Bruch des Innenknöchels rechts ohne Verschiebung. Zusätzlich kam es zu einer Prellung mit Weichteilschädigung der über dem Knöchel liegenden Hautbereiche. Wegen einer Entzündung und Infektion mit Hauskeimen konnte der Bruch nicht chirurgisch versorgt werden. Die Behandlung mußte durch Ruhigstellung, Medikamente, Auflegen von Eis und späterer Physiotherapie erfolgen. Vor allem durch die Hautprellung litt die Klägerin unter Schlafstörungen; der Heilungsverlauf verzögerte sich. Es kam zu Komplikationen, so daß die Klägerin am 29. 7. 1996 stationär aufgenommen werden mußte. Nach 4 Wochen wurde sie nach Hause entlassen.

Bis Oktober 1996 mußte die Klägerin Gehhilfen (Krücken, Stützstrümpfe) verwenden. Medizinisch ist die Verletzung ausgeheilt. Spät- und Dauerfolgen sind, abgesehen von einer "Schmerzschonhaltung auf Erwartungsbasis", nicht zu erwarten. Die Klägerin hatte 14 Tagen starke, 15 Tage mittlere und 45 Tage leichte Schmerzen. Seit dem Unfall ist ihre Lebensqualität beeinträchtigt. Sie kann nicht mehr Schi laufen; auch beim Reisen und Wandern unterliegt sie Einschränkungen. Vor dem Unfall wurde sie bei der Führung ihres Zwei-Personen-Haushalts zweimal wöchentlich von einer Haushaltshilfe unterstützt; seit dem Unfall kommt die Haushaltshilfe täglich.

Die Klägerin begehrte zunächst - unter Einräumung eines Mitverschuldens von einem Drittel - 180.000 S sA; nunmehr macht sie 200.000 S sA geltend. Das Alleinverschulden treffe den Buslenker. Alleinige Sturzursache sei die von diesem gewählte gefährliche Ausstiegsstelle gewesen. Die Klägerin habe beim Aussteigen nicht mit einer Gefahrenstelle wie der Gehsteigkante rechnen können, die für sie wegen der Dunkelheit nicht erkennbar gewesen sei.

Die Beklagten beantragen, das Klagebegehren abzuweisen. Die Ausstiegsstelle sei eben und auch für das Aussteigen älterer und womöglich gehbehinderter Personen geeignet gewesen. Der Ausstiegsbereich sei selbst in der Nacht ausreichend ausgeleuchtet, so daß für jeden Fahrgast die in rund 3,5 m Entfernung liegende Gehsteigkante leicht erkenn- und passierbar gewesen sei. Der Busfahrer habe das Schadensereignis trotz aller erdenklichen Sorgfalt nicht abwenden können. Der Unfall sei den Beklagten wegen der großen Entfernung zwischen Ausstiegsstelle und Gehsteigkante nicht zurechenbar.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Dem Buslenker hätte auffallen müssen, daß die Fahrgäste durch die Wahl der Distanz zwischen Ausstiegstreppe und Gehsteigkante beim Aussteigen gefährdet waren. Den Beklagten sei es nicht gelungen, den Entlastungsbeweis nach § 9 Abs 2 EKHG zu erbringen. Die Klägerin treffe kein Mitverschulden, weil der Unfallsort im Unfallszeitpunkt dunkel und die Gehsteigkante kaum sichtbar gewesen sei. Die Klägerin sei von anderen Fahrgästen nach vorne gedrängt worden. Das Schmerzengeld sei angemessen; für die Haushaltshilfe hätten die Beklagten einen Betrag von 27.000 S anerkannt. Die Aufwandsentschädigung für Wegekosten, Heilbehelfe udgl. habe das Gericht nach § 273 ZPO mit 3.000 S festgesetzt.

Das Berufungsgericht sprach der Klägerin 133.333,33 S sA zu, wies das Mehrbegehren ab und sprach - aufgrund eines Antrags nach § 508 ZPO - aus, daß die ordentliche Revision zulässig sei. Die schweren Verletzungen und daraus folgenden Schmerzen rechtfertigten das zugesprochene Schmerzengeld. Der Schaden der Klägerin sei jedoch den Beklagten nicht zur Gänze zuzurechnen. Jeder Fußgänger müsse beim Gehen "vor die Füße schauen". Die Klägerin sei in eigenen Angelegenheiten sorglos gewesen. Es sei nicht hervorgekommen, daß die Gehsteigkante auch bei entsprechender Aufmerksamkeit nicht zu sehen gewesen wäre. Nach dem festgestellten Sachverhalt sei der Unfallsort im Unfallszeitpunkt dunkel und die Gehsteigkante (wenn auch) kaum (so doch) sichtbar gewesen. Beim Zusammentreffen von Erfolgshaftung mit Verschuldenshaftung sei § 1304 ABGB anzuwenden. Infolge der - nicht zu vernachlässigenden - Sorglosigkeit der Klägerin beim Aussteigen aus dem Autobus sei der Schaden zu teilen; nach den Umständen des Falles sei ein Verhältnis von 1 : 2 zu Lasten der Beklagten angemessen, zumal die Gehsteigkante auf Grund der Lichtverhältnisse zur Zeit des Unfalls nur schwer zu erkennen gewesen sei. Die Klägerin hätte besonders vorsichtig sein müssen, um das Hindernis erkennen zu können. Dies müsse angesichts der schwierigen Sichtverhältnisse zwar von ihr verlangt werden, lasse ihr Verschulden aber doch geringer erscheinen. Auch ein allfälliges - vom Erstgericht nicht erörtertes - Verschulden des Buslenkers ließe die Sorglosigkeit der Klägerin nicht völlig in den Hintergrund treten.

Rechtliche Beurteilung

Die gegen diese Entscheidung gerichtete Revision der Klägerin ist zulässig, weil die angefochtene Entscheidung der Rechtsprechung zum Mitverschuldenseinwand widerspricht; die Revision ist auch berechtigt.

Die Klägerin macht geltend, daß die Beklagten in erster Instanz keinen Mitverschuldenseinwand erhoben hätten. Sie hätten auch kein Verhalten der Klägerin behauptet, aus dem deren Mitverschulden abgeleitet werden könnte. Ihr Mitverschuldenseinwand in der Berufung verstoße gegen das Neuerungsverbot.

Der Klägerin verweist zu Recht darauf, daß das Mitverschulden des Geschädigten in erster Instanz eingewandt werden muß. Der Mitverschuldenseinwand muß aber nicht ausdrücklich erhoben werden; es genügt, wenn der Schädiger Umstände behauptet, aus denen sich ein Verschulden des Geschädigten - eine Sorglosigkeit gegenüber den eigenen Gütern - ableiten läßt. Die Prüfung des Mitverschuldens hat sich auf jene tatsächlichen Umstände zu beschränken, die der Beklagte im Verfahren erster Instanz eingewendet hat (stRsp ua SZ 60/190; ZVR 1989/108, 5 Ob 519/92, jeweils mwN).

Die Beklagten haben in erster Instanz keinen ausdrücklichen Mitverschuldenseinwand erhoben. Sie haben aber behauptet, daß der Ausstiegsbereich ausreichend durch diverse Beleuchtungskörper ausgeleuchtet und die in rund 3,5 m Entfernung liegende Gehsteigkante für jeden Fahrgast leicht erkenn- und passierbar gewesen sei. Beim Aussteigen sei es zu einem Gedränge gekommen; zwischen dem Aussteigen und dem Stolpern über die Gehsteigkante bestehe wegen der Entfernung von rund 3,5 m kein Zusammenhang. Diesem Vorbringen kann die Behauptung entnommen werden, daß die Klägerin sorglos gewesen sein müsse, weil sie andernfalls nicht gestürzt wäre.

Damit haben die Beklagten zwar ein Mitverschulden der Klägerin eingewandt; die Prüfung, ob der Einwand berechtigt ist, hatte sich aber auf dieses Vorbringen zu beschränken. Nach dem festgestellten Sachverhalt war die Ausstiegsstelle nicht gut ausgeleuchtet, sondern lag im Dunkeln; die Ausstiegstreppe war weniger als 1 m von der Gehsteigkante entfernt. Die Feststellung, wonach die Fahrgäste zu den Ausstiegen gedrängt hätten, hat das Berufungsgericht nicht übernommen. Es ist auch nicht ersichtlich, inwiefern der Klägerin vorgeworfen werden könnte, sorglos gewesen zu sein, wenn sie von anderen Fahrgästen nach vorne gedrängt worden wäre.

Das Berufungsgericht hat die Prüfung des Mitverschuldenseinwands nicht auf das Vorbringen der Beklagten in erster Instanz beschränkt, sondern ist den Berufungsausführungen gefolgt, wonach - sollte es an der Unfallstelle dunkel gewesen sein - gerade widrige äußere Verhältnisse zu besonderer Aufmerksamkeit zwängen, die die Klägerin nicht beachtet hätte. Dieses Vorbringen ist aber eine im Berufungsverfahren unzulässige Neuerung. Nach § 482 Abs 1 ZPO darf in der Verhandlung vor dem Berufungsgericht weder ein neuer Anspruch noch eine neue Einrede erhoben werden. Der Verstoß gegen das Neuerungsverbot im Sinne dieser Bestimmung ist - anders als ein Verstoß gegen das Neuerungsverbot im Sinne des § 482 Abs 2 ZPO - ein Revisionsgrund, weil die gründliche, dh richtige Beurteilung der "Streitsache" im Sinne des § 503 Z 2 ZPO gehindert wird, wenn ein neuer, den geltend gemachten Anspruch begründender Rechtsgrund oder eine neue Einwendung berücksichtigt wird. "Streitsache" ist nämlich der durch das Vorbringen der Parteien in erster Instanz abgegrenzte Streitgegenstand; daran ist das Gericht, und zwar nicht nur an die Sachanträge der Parteien, sondern auch an den geltend gemachten Anspruch und die erhobenen Einwendungen, gebunden. Seine Beurteilung kann nur dann "gründlich" (= richtig) sein, wenn es diese Grenzen beachtet (4 Ob 79/99t mwN).

Mit der Berücksichtigung des in der Berufung erhobenen Mitverschuldenseinwands der Beklagten hat das Berufungsgericht die durch die Beschränkung auf die Beurteilung der "Streitsache" gezogenen Grenzen überschritten. Seine Entscheidung leidet damit an einem Mangel, der zur Wiederherstellung des Ersturteils führen muß. Ob die Feststellungen überhaupt ausgereicht hätte, um ein Mitverschulden der Klägerin zu bejahen, ist nicht mehr entscheidend.

Der Berufung war Folge zu geben.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 41, 50 ZPO.

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