OGH 2Ob110/98k

OGH2Ob110/98k11.3.1999

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Niederreiter als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schinko, Dr. Tittel, Dr. Baumann und Hon. Prof. Dr. Danzl als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei * Versicherungs AG, *, vertreten durch Dr. Berthold Martin Breitwieser, Rechtsanwalt in Bad Schallerbach, wider die beklagte Partei *, vertreten durch Dr. Klaus Dieter Strobach und Dr. Wolfgang Schmidauer, Rechtsanwälte in Grieskirchen, wegen S 81.018,50,-- (Revisionsinteresse S 62.912,--) infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichtes Wels als Berufungsgericht vom 3. November 1997, GZ 22 R 332/97y-15, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Bezirksgerichtes Wels vom 12. August 1997, GZ 6 C 179/97t-9, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1999:E53162

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit S 4.871,04 (darin enthalten S 811,84 USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

Am 20. 2. 1995 wurde die damals 3 1/2 Jahre alte Tochter der Beklagten bei einem Verkehrsunfall verletzt, bei welchem ein bei der klagenden Partei haftpflichtversicherter Lenker beteiligt war.

Die klagende Partei begehrt unter Anrechnung eines Mitverschulden des haftpflichtversicherten Lenkers von 50 % von der Beklagten Zahlung von S 81.080,50. Diese habe ihre Aufsichtspflicht verletzt, weil ihre Tochter unbeobachtet aus einer Werkstätte hinter einem geparkten Fahrzeug auf die Straße laufen habe können. Die Beklagte habe bis zum Unfall nicht bemerkt, daß sich ihr Kind von ihr entfernte. Sie hätte aufgrund der besonderen Umstände (Offenstehen eines 4m breiten Einfahrtstores und sichtbehinderndes Abstellen ihres Fahrzeuges vor der Einfahrt) das Kind an die Hand nehmen müssen.

Die Beklagte beantragt die Abweisung des Klagebegehrens. Sie sei am Unfallstag mit ihren beiden Kindern zu ihrem Lebensgefährten gefahren, um mit diesem zu sprechen. Weil die Kinder zuvor stets artig gewesen und auch noch nie aus der Werkhalle herausgelaufen seien, habe sie sie nicht an der Hand gehalten. Sie habe aufgrund des bisherigen Verhaltens nicht damit rechnen müssen, daß das Kind grundlos auf die Fahrbahn laufen werde.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren mit einem Teilbetrag von S 62.912,-- statt und wies das Mehrbegehren von S 18.106,50 - rechtskräftig - ab. Es ging von nachstehenden Sachverhalt aus:

Die Beklagte fuhr am 20. 2. 1995 mit ihren beiden 4 1/2 und 3 1/2 Jahren alten Kindern zur Arbeitsstätte (Betriebshalle einer Spenglerei) ihres damaligen Lebensgefährten und nunmehrigen Ehemannes. Sie war schon zuvor mehrmals mit den Kindern in der Betriebshalle gewesen. Die Beklagte hielt die Kinder nicht an den Händen. Während sie kurz mit dem damaligen Lebensgefährten sprach, lehnte sich das 3 1/2jährige Kind an die Seite seiner Mutter, entfernte sich aber dann unbemerkt.

Das Kind legte die etwa 6,1 m bis zum 4,5 m breiten Einfahrtstor der Werkhalle zurück und gelangte an einem abgestellten Pritschenwagen vorbei auf die Straße. Die Wegstrecke zwischen dem Einfahrtstor und dem Fahrbahnrand betrug 6,3 m. Das Kind war zuvor aus der Halle nie weggelaufen und dort stets artig gewesen. Es wurde auf der Straße vom PKW des bei der klagenden Partei haftpflichtversicherten Lenkers erfaßt, niedergestoßen und verletzt. Der Lenker hatte eine Geschwindigkeit im Ortsgebiet von ca 58 km/h eingehalten. Wäre er nur 50 km/h gefahren, wäre der Unfall vermeidbar gewesen.

Rechtlich erörterte das Erstgericht, daß die beklagte Partei ihre Aufsichtspflicht verletzt habe, weil sich das Kind nicht in der ihm vertrauten Umgebung befunden habe, sondern in einer Werkshalle und zudem in einem Alter, an dem es an den Straßenverkehr noch nicht gewöhnt sein konnte. Die Mutter hätte das Kind genauer beaufsichtigen und an der Hand nehmen müssen. Selbst wenn es sonst immer brav gewesen sei, habe nicht ausgeschlossen werden könne, daß es sich einmal anders verhalte. Gerade im Kleinkindalter seien Kinder oft unberechenbar. Die Verletzung der Aufsichtspflicht der Mutter wiege gegenüber dem Fehlverhalten des PKW Lenkers gleich schwer, weshalb sie zum Ersatz von 50 % des berechtigten-ersatzfähigen-Schadens heranzuziehen sei.

Das von der beklagten Partei angerufene Berufungsgericht gab der Berufung nicht Folge. Es sprach aus, daß die ordentliche Revision zulässig sei.

Ausgehend von den erstgerichtlichen Feststellungen erörterte es rechtlich, daß nach § 1309 ABGB die Aufsichtspflichtigen wegen schuldhafter Vernachlässigung der ihnen über ihre unmündigen Kinder anvertrauten Obsorge hafteten. Es könne nicht festgelegt werden, welchen Umfang die Aufsichtspflicht habe, es komme dabei auf das Alter, die Entwicklung und die Eigenart des Kindes, auf die Voraussehbarkeit eines schädigenden Verhaltens des Aufsichtsbefohlenen, das Ausmaß der von dritten Personen ausgehenden Gefahren, sowie darauf, was den Aufsichtspflichtigen in ihren jeweiligen Verhältnissen zugemutet werden könne. Entscheidend sei, was verständige Eltern nach vernünftigen Anforderungen im konkreten Fall unternehmen müßten, um die Schädigung Dritter durch ihre Kinder zu verhindern und welchen konkreten Anlaß sie zu bestimmten Aufsichtsmaßnahmen hatten. Die Rechtsprechung verlange zwar nicht, daß Kinder „auf Schritt und Tritt“ überwacht werden; so sei auch nicht erforderlich, daß ein Kind während eines längeren Weges ständig fest an der Hand gehalten werden müsse, es genüge zur Erfüllung der Aufsichtspflicht, wenn die Mutter eines 3 1/2jährigen Kindes es vor sich hergehen lasse und es im Auge behalte. Selbst wenn einem aufsichtspflichtigen Elternteil die Überwachung eines Kindes „auf Schritt und Tritt“ nicht zugemutet werde, müsse doch berücksichtigt werden, daß es sich hier um ein Kleinkind gehandelt habe, daß schon seinem Alter nach nicht im Stande sein konnte, Gefahren aus eigenem selbständig zu beherrschen. Es sei zwar nicht erforderlich gewesen, das Kind ständig an der Hand zu halten, doch hätte es jedenfalls außerhalb der ständig gewohnten Umgebung im Auge behalten werden müssen, damit gegebenenfalls durch Ausspruch eines Verbotes oder durch Zuruf verhindert werden kann, daß sich das Kind von den Eltern entfernt. Selbst wenn sich das Kind bisher artig verhalten habe, müsse ihm doch jene Aufmerksamkeit zugewendet werden, die erforderlich erscheine, um gegebenenfalls auf das Kind noch Einfluß auszuüben zu können. Das Verhalten der Mutter sei von der üblichen und auch zumutbaren Sorgfalt erheblich abgewichen. Unter Berücksichtigung der der Mutter anzulastenden Aufsichtspflichtverletzung und des den Lenker des PKWs treffenden Verschuldens, sei die Mutter zutreffend zur Hälfte des entstandenen Schadens herangezogen worden.

Die ordentliche Revision sei zulässig, weil dem Maß der Aufsichtspflicht außerhalb der gewohnten Umgebung von Kleinkindern für eine Vielzahl ähnlich gelagerter Fälle eine grundsätzliche rechtserhebliche Bedeutung zukomme und eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofes, die auf den vorliegenden Fall unmittelbar übertragen werden können, nicht aufgefunden habe können.

Die Revisionswerberin macht zusammengefaßt geltend, daß die Sorgfaltspflicht des Aufsichtspflichtigen nicht überspannt werden dürfe und zu berücksichtigen sei, daß sich das 3 1/2jährige Kind immer brav verhalten habe und vorher noch nie aus der Halle weggelaufen sei. Zu berücksichtigen sei auch, daß die Beklagte zwei Kinder zu beaufsichtigen gehabt habe und es in der Praxis nicht möglich sei, ununterbrochen jedes einzelne Kind im Auge zu haben. Es sei nicht objektiv vorhersehbar gewesen, daß sich das Kind unerwartet von der Seite der Mutter entfernen werde. Es habe daher kein Anlaß bestanden die 3 1/2jährige auf Schritt und Tritt zu bewachen.

Rechtliche Beurteilung

Dazu ist auszuführen:

Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes kommt es bei der Frage, ob der Aufsichtspflichtige seiner Obsorgepflicht im Sinn des § 1309 ABGB genügt hat, auf das Alter, die Entwicklung und die Eigenart des Kindes, auf die Voraussehbarkeit eines schädigenden Verhaltens des zu Beaufsichtigenden, auf das Maß der von diesem ausgehenden, dritten Personen drohenden Gefahr sowie darauf an, was den Aufsichtspflichtigen in ihren jeweiligen Verhältnissen zugemutet werden kann. Entscheidend ist, was verständige Eltern nach vernünftigen Anforderungen im konkreten Fall unternehmen müssen, um die Schädigung Dritter durch ihre Kinder zu verhindern, welchen Anlaß sie zu bestimmten Aufsichtsmaßnahmen hatten (ZVR 1984/324, 1989/153, 1990/156, 1997/35; Reischauer in Rummel 2 § 1309 Rz4; Harrer in Schwimann 2 § 1309Rz 1, 6f, 11 mwN). Die Rechtsprechung hat zwar ausgeführt, daß eine „Überwachung auf Schritt und Tritt“ im allgemeinen nicht in Betracht kommt (EvBl 1978/52; ZVR 1982/109); dies trifft nach Ansicht des erkennenden Senates vor allem auf größere Kinder zu.

Ob grundsätzlich für Kleinkinder ein größeres Maß an Aufmerksamkeit zu fordern ist, weil auch eine „normale“ Umgebung für Kleinkinder ein erhebliches Gefahrenpotential darstellt (vgl Harrer in Schwimann 2 aaO Rz 7) muß in dieser Allgemeinheit nicht beantwortet werden, weil jedenfalls nach den besonderen Umständen des Einzelfalls hier eine erhöhte Aufsichtspflicht bestand. Zu berücksichtigen ist hier nämlich, daß ein 4,5 m breites Werktor offenstand und unmittelbar auf die Fahrbahn führte. Durch die Rechtsansicht des Berufungsgerichtes, die Beklagte wäre in diesem Fall verhalten, ihr Kind zwar nicht "an der Hand zu führen" aber es doch ständig im Auge zu behalten, wird die Aufsichtspflicht daher nicht überspannt. Dies auch unter Berücksichtigung, daß sie für ein weiteres 4 1/2jähriges Kind zu sorgen und sich das 3 1/2jähriges Kind bisher „artig“ verhalten hatte und aus der Werkhalle noch nie herausgelaufen war. Es ist nämlich dabei zu bedenken, daß gerade Kleinkinder zu unüberlegten Spontanreaktionen neigen, was jedenfalls eine ständige Beaufsichtigung in doch ungewohnter Umgebung erfordert.

Der Revision war ein Erfolg zu versagen. Die Kostenentscheidung beruht sich auf die §§ 4150ZPO.

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