OGH 1Ob350/98x

OGH1Ob350/98x19.1.1999

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schlosser als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schiemer, Dr. Gerstenecker, Dr. Rohrer und Dr. Zechner als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj David H*****, geboren am 29. Oktober 1980, infolge Revisionsrekurses und Rekurses des Vaters Alois H*****, vertreten durch Dr. Gerhard Hiebler, Rechtsanwalt in Leoben, gegen den Beschluß des Landesgerichts Leoben als Rekursgerichts vom 20. Oktober 1998, GZ 2 R 563/98p-44, womit der Beschluß des Bezirksgerichts Leoben vom 25. September 1998, GZ 1 P 1882/95h-40, teils bestätigt und teils aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

1. Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

2. Dem Revisionsrekurs wird hingegen teilweise Folge gegeben und die Entscheidung des Gerichts zweiter Instanz dahin abgeändert, daß der erstgerichtliche Beschluß auch in seinem bestätigenden Teil, somit zur Gänze, aufgehoben und dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen wird.

Text

Begründung

Der Minderjährige befindet sich in Obsorge seiner Mutter, deren Ehe mit dem Rechtsmittelwerber am 9. Mai 1990 einvernehmlich geschieden wurde. Im Scheidungsfolgenvergleich verpflichtete sich der Vater, dem Minderjährigen einen monatlichen Unterhalt von S 5.000 und seiner Ehegattin einen solchen von S 650, jeweils ab Mai 1990, zu leisten.

Die Mutter bezieht derzeit an monatlichen Geldleistungen das Pflegegeld für den Minderjährigen von S 15.000, die Notstandshilfe von etwa S 2.900 und den vom Rechtsmittelwerber geleisteten Unterhalt in der gegenwärtigen Höhe von S 777. Sie besitzt kein Vermögen. Der Vater hat ein monatliches Durchschnittseinkommen von S 34.860.

Am 21. 5. 1996 teilte die Mutter dem Erstgericht mit, sie beabsichtige, einen PKW Marke VW Multivan Allstar und eine für den Minderjährigen zum Einstieg in dieses Fahrzeug erforderliche Hebebühne zu kaufen, was insgesamt einen Aufwand von S 550.000 erfordern werde. Sie habe vor, den PKW auf ihren und den Namen des Minderjährigen anzumelden; ebenso sollten beide als Käufer aufscheinen. Der von der Mutter vorgelegte Kaufvertrag über dieses Fahrzeug vom 22. Mai 1996 wurde pflegschaftsgerichtlich genehmigt.

Am 2. April 1997 beantragte der Minderjährige, seinem Vater die Zahlung von S 300.000 als Sonderbedarf für den Erwerb und den Umbau des behindertengerecht ausgestatteten Fahrzeugs aufzutragen. Er leide an einer Muskeldystrophie; er könne weder gehen noch stehen, weshalb er auf die Benützung eines Falt- bzw Elektrorollstuhls angewiesen sei. Zur Sicherung seiner Mobilität sei die Anschaffung des Fahrzeugs und dessen behindertengerechte Ausstattung unbedingt erforderlich. Insgesamt sei hiefür ein Betrag von S 617.535,52 aufgewendet worden. In der Folge gab der Minderjährige noch bekannt, für den Erwerb und den Umbau des Fahrzeugs seien von verschiedenen Stellen Beiträge geleistet worden, so vom Bundessozialamt ein Betrag von S 26.785,80 als aliquoter Anteil der Normverbrauchsabgabe, von der Versicherungsanstalt der österreichischen Eisenbahner eine einmalige Geldaushilfe von S 20.000 und von der Bezirksverwaltungsbehörde eine Beihilfe von S 30.000.

Der Vater wendete ein, die Mobilität des Minderjährigen sei schon bisher gewährleistet gewesen, weil in den PKW der Mutter entsprechende Einrichtungen auf Kosten der Versicherungsanstalt der Eisenbahner eingebaut worden seien, um so den Transport des Minderjährigen zu ermöglichen. Überdies werde dieser in den Morgenstunden von der Rettung abgeholt und zur Schule gebracht; der Rücktransport am Nachmittag gestalte sich auf die gleiche Weise. Die Anschaffung eines zusätzlichen Fahrzeugs sei deshalb nicht notwendig. Der neu angeschaffte PKW diene vornehmlich als Fahrzeug der Mutter für deren privaten Zwecke.

Das Erstgericht verpflichtete den Vater, über seine monatliche Unterhaltsleistung von S 5.000 hinaus zur Anschaffung und zum Umbau des PKWs Marke VW T 4 Multivan einen Sonderkostenbeitrag von S 55.680 in 24 gleichen Raten von je S 2.320 ab 1. 4. 1997 zu bezahlen; das Mehrbegehren von S 254.320 wies das Erstgericht ab. Es führte aus, das Einkommen des Vaters sei zur Leistung von Unterhalt für den Minderjährigen mit 21 % belastbar, was einem monatlichen Betrag von S 7.320 entspreche. Unter Bedachtnahme auf den vom Vater ohnedies zu leistenden laufenden Unterhalt sei eine monatliche Abschöpfung von S 2.320 für den Sonderbedarf möglich. Die Zahlung dieses zusätzlichen Betrags über einen Zeitraum von zwei Jahren sei dem Vater zumutbar.

Das Rekursgericht gab dem vom Vater gegen den stattgebenden Teil erhobenen Rechtsmittel nicht Folge, hob aber infolge Rekurses des Minderjährigen die erstinstanzliche Entscheidung, soweit damit das Mehrbegehren abgewiesen wurde, auf; es sprach aus, daß der Revisionsrekurs gegen den bestätigenden Teil nicht zulässig, der Rekurs gegen den aufhebenden Teil hingegen zulässig sei. Es führte aus, der Vater bestreite gar nicht, zur Zahlung des ihm aufgetragenen Betrags imstande zu sein. Das Erstgericht habe bloß seine Leistungsfähigkeit ausgeschöpft, sodaß die Existenznotwendigkeit des behaupteten Sonderbedarfs, das Ausmaß der Eigennutzung des Fahrzeugs durch die Mutter sowie alle anderen im Rechtsmittel des Vaters vorgetragenen Argumente nicht weiter zu prüfen seien. Der Vater habe nicht mehr zu leisten, als er bei entsprechender Erhöhung des laufenden Unterhalts zu leisten verpflichtet wäre. Ein Sonderbedarf welcher Art immer sei grundsätzlich nur im Rahmen der „Prozentkomponente“ zu befriedigen. Darüber hinaus könne ein Unterhaltspflichtiger nur aufgrund eines existenznotwendigen Sonderbedarfs oder bei besonderer Förderungswürdigkeit von Kindern belastet werden. Die Kosten der Anschaffung und der Ausstattung des Fahrzeugs stellten angesichts der durch die Muskelschwäche des Minderjährigen verursachten Behinderung grundsätzlich einen existenznotwendigen Sonderbedarf dar. In welcher Höhe dieser allerdings anzunehmen sei, könne derzeit noch nicht beurteilt werden. Es sei zu prüfen, inwieweit die Mutter das Fahrzeug allein nutze und in welchem Ausmaß das Kind tatsächlich damit transportiert werde. Es müsse auch geprüft werden, ob nicht andere, billigere Transportmöglichkeiten in Betracht kommen. Schließlich sei auch noch zu ermitteln, inwieweit die öffentliche Hand nach den entsprechenden Richtlinien Förderungen zu gewähren habe.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs des Vaters gegen den bestätigenden Teil der rekursgerichtlichen Entscheidung ist zulässig und berechtigt; der Rekurs gegen den aufhebenden Teil ist dagegen nicht gerechtfertigt.

Erwächst einem unterhaltsberechtigten Minderjährigen ein Mehrbedarf, der über den allgemeinen Durchschnittsbedarf („Regelbedarf“) eines gleichaltrigen Kindes in Österreich ohne Rücksicht auf die konkreten Lebensverhältnisse der Eltern hinausgeht, so bilden diese Kosten einen Sonderbedarf (4 Ob 108/98f uva). Ob ein solcher Sonderbedarf vom Unterhaltspflichtigen zu decken ist, hängt davon ab, wodurch dieser Sonderbedarf verursacht wurde und ob dessen Deckung dem Unterhaltspflichtigen angesichts der Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Eltern zumutbar ist. Jedenfalls hat die gesonderte Abgeltung von Sonderbedarf Ausnahmecharakter. Zur Erfüllung des Anspruchs auf Sonderbedarf kann der Unterhaltspflichtige grundsätzlich nur im Rahmen seiner Leistungsfähigkeit verhalten werden. Je existenznotwendiger ein Sonderbedarf ist, desto eher ist der Unterhaltspflichtige damit zu belasten. Stets muß dem Unterhaltspflichtigen ein zur Deckung der seinen Lebensverhältnissen angemessenen Bedürfnisse entsprechender Betrag verbleiben. Die Überschreitung der Prozentsatzkomponente, der bei der Unterhaltsbemessung das Hauptgewicht zukommt, ist nur bei existenznotwendigem Sonderbedarf oder bei sonst förderungswürdigen Kindern zulässig (4 Ob 108/98f; ÖA 1998, 22 und 27; RZ 1997/16 uva). Im Einzelfall kommt es darauf an, ob auch in einer intakten Familie und bei Bedachtnahme auf die konkrete Einkommens- und Vermögenslage der gesamten Familie eine Deckung des konkreten Sonderbedarfs unter objektiven Gesichtspunkten in Betracht gezogen werden würde (ÖA 1998, 27; Gitschthaler in JBl 1995, 808 [810]).

Der Oberste Gerichtshof hat bereits mehrfach ausgesprochen, daß der Sonderbedarf dann zu berücksichtigen ist, wenn er in der Person des Minderjährigen begründet und überdies außergewöhnlich und dringlich ist. Insbesondere wurden ein individueller Gesundheitsbedarf sowie die Kosten für die notwendige außerhäusliche Betreuung des Kindes wegen dessen Behinderung oder Krankheit bereits mehrfach als Sonderbedarf, den der Unterhaltspflichtige zu decken habe, beurteilt (ÖA 1997, 66; SZ 70/23; ÖA 1994, 185; SZ 63/121 ua; Schwimann, Unterhaltsrecht2 34). Der Zuspruch des Sonderbedarfs ist stets strengen Anforderungen zu unterwerfen (ÖA 1995, 59; SZ 63/81 uva). Bestehen gleichwertige Alternativen, die einen Sonderbedarf erübrigen, so genießt immer die den Unterhaltspflichtigen weniger belastende Alternative den Vorzug (4 Ob 108/98f).

Das Pflegegeld, das die Mutter für den Minderjährigen bezieht, soll pflegebedingte Mehraufwendungen pauschaliert abgelten und dem Pflegebedürftigen die notwendige Betreuung und Hilfe sichern sowie dessen Möglichkeit, ein selbstbestimmtes, bedürfnisorientiertes Leben zu führen, verbessern. Es ist nicht für die Anschaffung (oder Instandsetzung) von Hilfsmitteln gewidmet (6 Ob 145/98m; 8 Ob 142/98k; NZ 1998, 244 ua). Soweit der Sonderbedarf aus öffentlichen Mitteln (insbesondere aus Mitteln von Sozialversicherungsträgern) getragen wird oder zu tragen ist, kann seine Deckung dem Unterhaltspflichtigen nicht aufgetragen werden (vgl 6 Ob 145/98m; ÖA 1994, 185 ua, Schwimann aaO). Ebenso sind bei der Entscheidung über einen Sonderbedarf sämtliche Leistungen zu berücksichtigen, die aus welchem Grund immer von anderen Personen (zB Dienstgeber) mit der Widmung für diesen Sonderbedarf erbracht wurden. Letzteres wird vom Unterhaltsberechtigten im vorliegenden Fall auch nicht in Zweifel gezogen.

Ausgehend von diesen Kriterien kann eine Entscheidung über den begehrten Sonderbedarf noch nicht getroffen werden; das Verfahren ist - wie schon das Rekursgericht zutreffend erkannte - ergänzungsbedürftig:

Das Gericht zweiter Instanz vermißt Feststellungen zur Frage, ob der Minderjährige nicht auch anders - vor allem kostengünstiger - befördert werden könnte. Dieser Auffassung ist auch beizutreten, zumal die Anschaffung des Fahrzeugs im konkreten Fall hohe Aufwendungen (mehr als S 600.000) erforderte und daher nicht schon von vornherein angenommen werden kann, daß diese Anschaffung bei aufrechter Ehe unter Bedachtnahme auf die gegebenen Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Eltern angesichts derartiger Kosten getätigt worden wäre. Schon allein dadurch brachte das Rekursgericht zum Ausdruck, es werde erst zu klären sein, ob ein Sonderbedarf des Minderjährigen überhaupt zu bejahen sei, zumal festgestellter- und unbestrittenermaßen gewisse Beförderungsmöglichkeiten ohnehin zur Verfügung stehen. Ebenso wird - wie schon das Gericht zweiter Instanz ausführte - zu prüfen sein, inwieweit der Minderjährige tatsächlich von der ihm durch die Anschaffung des Fahrzeugs gebotenen Transportmöglichkeit Gebrauch macht, und ferner, inwieweit dieser Gebrauch auch sinnvoll, medizinisch indiziert und zur Aufrechterhaltung der sozialen Kontakte geboten ist. Einem 18jährigen steht auch sonst nicht in jeder Familie ein Fahrzeug zum uneingeschränkten Gebrauch zur Verfügung. Nur wenn sich erweisen ließe, daß die Anschaffung des PKWs und dessen behindertengerechte Ausstattung sowohl medizinisch indiziert wie auch zur Aufrechterhaltung der sozialen Kontakte unumgänglich sind, könnte überhaupt ein vom Unterhaltspflichtigen zu bestreitender Sonderbedarf in Erwägung gezogen werden.

Der Minderjährige macht in diesem Verfahren ausschließlich den durch die Anschaffung und Ausstattung des Fahrzeugs ausgelösten Sonderbedarf geltend; laufende höhere Bedürfnisse oder auch nur die Berechtigung, an einem allenfalls überdurchschnittlichen Einkommen des Unterhaltspflichtigen angemessen teilzuhaben (vgl Purtscheller/Salzmann, Unterhaltsbemessung Rz 16), hat er gar nicht behauptet, so daß - entgegen der Ansicht des Rekursgerichts - hierüber in diesem Verfahren auch nicht abgesprochen werden kann. Eine Erhöhung des dem Minderjährigen gebührenden Unterhalts aus anderen Gründen als jenen des ins Treffen geführten Sonderbedarfs kommt somit mangels entsprechender Antragstellung nicht in Betracht, sodaß die Begründung des Rekursgerichts für den bestätigenden Teil seiner Entscheidung, der Vater müsse keinen höheren Leistungen erbringen als bei „entsprechender Erhöhung des laufenden Unterhalts“, bei der hier maßgeblichen Verfahrenslage verfehlt ist.

Die weiter oben angestellten Erwägungen treffen auch auf jenen Teil des geltend gemachten Sonderbedarfs zu, zu dessen Deckung die Vorinstanzen - mit unterschiedlicher Begründung - den Vater verhalten haben: Auch insoweit wird das Erstgericht die Voraussetzungen für dessen Bestreitung durch den Unterhaltspflichtigen zu klären haben. Dazu reicht der auf der Tatsachenebene nicht weiter substantiierte Hinweis, der Minderjährige bedürfe des PKWs und dessen Adaption zu seiner geistigen und charakterlichen Entwicklung, nicht aus, sondern das Erstgericht wird nach Ergänzung des Beweisverfahrens - wohl auch unter Beiziehung von Sachverständigen - zu ermitteln haben, ob die Anschaffung des PKWs und dessen behindertengerechte Ausstattung medizinisch indiziert und zur Bewahrung und Förderung der sozialen Kontakte des Minderjährigen erforderlich ist.

Außerdem wird das Erstgericht auch, worauf schon das Gericht zweiter Instanz zutreffend hinwies, die von der öffentlichen Hand gewährten bzw zu gewährenden Beihilfen verläßlich festzustellen haben; solche Förderungen sind vom Minderjährigen jedenfalls in Anspruch zu nehmen, um die Belastung des Vaters mit einem über den laufenden Unterhalt hinausgehenden Sonderbedarf zu vermeiden.

Letztlich wird auch noch darauf Bedacht zu nehmen sein, daß der Vater schon seit vielen Jahren über den Regelbedarf (derzeit S 4.370) erheblich hinausgehende Unterhaltsleistungen erbringt, weil die zur Deckung des Sonderbedarfs zu erbringenden Leistungen um jene Beträge zu vermindern sind, die der Unterhaltspflichtige im maßgeblichen Zeitraum über den jeweiligen Durchschnittsbedarfssatz hinaus geleistet hat (vgl die Nachweise bei Gitschthaler aaO 810 in FN 35).

In Stattgebung des vom Vater erhobenen Revisionsrekurses sind die vorinstanzlichen Entscheidungen auch im Umfang des bestätigenden Teils des rekursgerichtlichen Beschlusses aufzuheben; das Erstgericht wird das Verfahren im aufgezeigten Sinn zu ergänzen und sodann neuerlich über das Sonderbedarfsdeckungsbegehren zu befinden haben.

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