OGH 2Ob307/97d

OGH2Ob307/97d12.11.1998

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Angst als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Niederreiter, Dr. Schinko, Dr. Tittel und Dr. Baumann als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Philipp B*****, vertreten durch Dr. Christian Riesemann, Rechtsanwalt in Graz, wider die beklagten Parteien 1. Gerd R*****, und 2. V*****, beide vertreten durch Dr. Kurt Fassl, Rechtsanwalt in Graz, wegen S 84.500 sA, infolge außerordentlicher Revision der beklagten Parteien gegen das Urteil des Landesgerichtes für ZRS Graz vom 27. Mai 1997, GZ 6 R 140/97w-37, womit das Urteil des Bezirksgerichtes für ZRS Graz vom 23. Dezember 1996, GZ 38 C 1548/95y-31, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird teilweise Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß sie insgesamt zu lauten haben:

"1. Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei den Betrag von S 20.750 samt 4 % Zinsen seit 25. Mai 1994 binnen 14 Tagen zu bezahlen.

2. Das Mehrbegehren, die beklagten Parteien seien schuldig, der klagenden Partei den Betrag von S 63.750 sA zu bezahlen, wird abgewiesen."

Die klagende Partei ist schuldig, den beklagten Parteien die mit S 24.215,32 (darin enthalten S 2.871,98 Umsatzsteuer und S 6.983,45 Barauslagen) bestimmten Kosten des Verfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 14. März 1994 ereignete sich in Graz im Bereich der Kreuzung zwischen der Münzgrabenstraße und der Sandgasse ein Verkehrsunfall, an dem der Kläger als Fußgänger beim Überqueren der Sandgasse von dem vom Erstbeklagten gelenkten und bei der zweitbeklagten Partei haftpflichtversicherten Fahrzeug niedergestoßen und verletzt wurde.

Der Kläger begehrt Zahlung von S 84.500 (Schmerzengeld und Besuchskosten) mit dem Vorbringen, der Erstbeklagte habe bei seinem Einbiegen in die Sandgasse die gebotene Sorgfalt außer acht gelassen und sei deshalb gegen ihn geprallt.

Die beklagten Parteien beantragten die Abweisung des Klagebegehrens. Der Kläger habe den Unfall alleine verschuldet, weil er, ohne auf den bereits herannahenden Erstbeklagten zu achten, einen Schutzweg betreten habe. Für den Erstbeklagten sei der Unfall als unabwendbares Ereignis anzusehen.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.

Es ging von nachstehenden Feststellungen aus:

Die Münzgrabenstraße verläuft in Nord-Süd-Richtung in einer Fahrbahnbreite von 8 m. Die Sandgasse mündet aus Richtung Osten in Form einer rechtwinkeligen T-Kreuzung in die Münzgrabenstraße ein. Auf der Münzgrabenstraße befindet sich unmittelbar nördlich der Kreuzung ein Schutzweg. Auf der Sandgasse befindet sich unmittelbar östlich der Kreuzung ein Schutzweg. Die Sandgasse ist durch eine Leitlinie in zwei Fahrstreifen geteilt. Die Breite des nördlichen Fahrstreifens beträgt 3 m und die Breite des südlichen Fahrstreifens 4 m. Der (zum Unfallszeitpunkt 19jährige) Kläger ging am Gehsteig östlich der Münzgrabenstraße in Richtung Norden und beabsichtigte, die Kreuzung mit der Sandgasse auf dem Schutzweg in Richtung Norden geradlinig zu überqueren. Zur selben Zeit befuhr der Erstbeklagte die Münzgrabenstraße in südlicher Richtung mit der Absicht, in weiterer Folge nach links in die Sandgasse in Richtung Osten abzubiegen. Er mußte sein Fahrzeug verkehrsbedingt auf der Münzgrabenstraße anhalten. Nachdem ein entgegenkommender Kastenwagen auf seinen Vorrang verzichtet hatte, bewegte sich der Erstbeklagte langsam zur Mitte des östlichen Fahrstreifens der Münzgrabenstraße. Da er bis dahin von der Sonne geblendet war, fuhr er unter Einhaltung einer harmonischen Einfahrlinie aus dieser Position zügig an. Den Kläger nahm er wahr, als sich dieser etwa 0,5 m vor der Gehsteigkante am Gehsteig befand. Er nahm unverzüglich eine starke Betriebsbremsung vor. Der Kläger achtete nicht auf den Verkehr und betrat, ohne vorher anzuhalten, den Schutzweg, als sich die Front des vom Erstbeklagten gelenkten Fahrzeuges nur noch 5,5 m von der Unfallstelle entfernt bewegte. In dieser Position fuhr der Erstbeklagte mit einer Fahrgeschwindigkeit von etwa 15 km/h. Noch vor dem Betreten des Schutzweges wäre es für den Kläger erkennbar gewesen, daß das vom Erstbeklagten gelenkte Fahrzeug im Begriff war, in die Sandgasse einzubiegen. Als sich der Kläger ca 2 m nördlich der südlichen Gehsteigkante befand, kam es zum Anstoß, wobei die Kollisionsgeschwindigkeit des Fahrzeuges ca 5 km/h und die Gehgeschwindigkeit des Klägers ca 4 bis 5 km/h betrug. Der Kläger konnte sich auf der Motorhaube abfangen und humpelte, ohne zu Sturz zu kommen, auf den gegenüberliegenden Gehsteig. Durch den Unfall erlitt er eine Prellung des linken Kniegelenkes, einen Teileinriß des inneren Seitenbandes des linken Kniegelenkes und eine starke Zerrung des vorderen Kreuzbandes des linken Kniegelenkes.

Das Erstgericht führte rechtlich aus, daß eine Ersatzpflicht der beklagten Parteien sowohl aufgrund der Verschuldenshaftung als auch auf der Basis der Gefährdungshaftung zu verneinen sei, weil der Kläger den Schutzweg unmittelbar vor dem herannahenden Fahrzeug des Erstbeklagten sowie in einer für diesen völlig unvorhersehbaren Weise betreten habe. Es liege somit ein unabwendbares Ereignis vor, weil der Erstbeklagte sein Einbiegemanöver besonders sorgfältig durchgeführt habe.

Das vom Kläger angerufene Berufungsgericht gab seiner Berufung teilweise Folge. Es verpflichtete die Beklagten zur Zahlung von S 55.333,33 sA und wies das Mehrbegehren von S 29.666,67 sA ab.

Das Berufungsgericht traf nach Beweiswiederholung noch weitere ergänzende Feststellungen:

Während des Einbiegevorgangs nahm der Erstbeklagte den Kläger wahr, als dieser knapp (etwa 0,5 m) von der Gehsteigkante entfernt war und sich anschickte, den Schutzweg zu betreten. Er reagierte auf die Wahrnehmung des Klägers zu einem Zeitpunkt, als sich der Kläger gerade auf der Gehsteigkante befand, in einer Entfernung des Fahrzeuges von ca 5,5 m von der späteren Kollisionsstelle. Zwischen diesem Zeitpunkt und der Kollision liegt eine Zeitspanne von 1,46 Sekunden. Von der Anhalteposition vor dem Einbiegemanöver bis zur Kollisionsstelle hatte das Fahrzeug eine Strecke von rund 10 m zurückzulegen. Für die 2 m lange Strecke von der nördlichen Kante des vom Kläger vor dem Unfall benützten Gehsteiges bis zur Unfallstelle benötigte der Kläger einen Zeitraum von 1,43 Sekunden. Der Bremsentschluß wurde vom Erstbeklagten demnach knapp vor dem Betreten des Schutzweges durch den Kläger (ca 0,03 Sekunden vor diesem Zeitpunkt) gefaßt. Dem Erstbeklagten unterlief keine Reaktionsverspätung. Als der Kläger den Schutzweg betrat, war die Front des Fahrzeuges noch 5,5 m von der Unfallstelle entfernt. Zu dem Zeitpunkt wäre der Kläger in der Lage gewesen, die Fahrlinie des Fahrzeuges eindeutig zu erkennen und auf das Einbiegemanöver des Erstbeklagten in geeigneter Weise (Verminderung der Gehgeschwindigkeit, Stehenbleiben) zu reagieren und auf diese Weise dem Kontakt mit dem Fahrzeug zu entgehen. Ebenso hätte ein vom Erstbeklagten geringfügig (0,04 Sekunden) früher gefaßter Bremsentschluß zur Vermeidung der Kollision ausgereicht.

Rechtlich erörterte das Berufungsgericht, daß dem Erstbeklagten der Vorwurf eines schuldhaften Verhaltens nicht erspart werden könne, weil er bei Annäherung an den Schutzweg verpflichtet gewesen sei, die Möglichkeit ins Kalkül zu ziehen, daß Fußgänger den Schutzweg zu benützen beabsichtigen bzw diesen demnächst betreten würden (§ 9 Abs 2 StVO). Der Erstbeklagte wäre verbunden gewesen, das Fahrmanöver behutsam anzugehen und nicht zügig anzufahren. Da er beim Losfahren auch noch von der Sonne geblendet gewesen sei, hätte er nicht zügig weiterfahren dürfen. Auch dem Kläger falle ein Fehlverhalten zur Last, weil er gegen das Verbot, einen Schutzweg unmittelbar vor dem herannahenden Fahrzeug sowie für dessen Lenker überraschend zu betreten, verstoßen habe. Ausgehend vom beiderseitigen Verschulden erachtete das Berufungsgericht eine Verschuldensteilung von 2 : 1 zu Lasten des Erstbeklagten für angemessen und sprach daher unter Berücksichtigung eines angemessenen Schmerzengeldes von S 80.000 sowie weiterer Kosten von S 3.000 dem Kläger zwei Drittel dieses Betrages zu.

Das Berufungsgericht sprach aus, daß die ordentliche Revision nicht zulässig sei, weil das Schwergewicht seiner Entscheidung im Tatsachenbereich liege.

Dagegen richtet sich die außerordentliche Revision der beklagten Parteien mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, daß das Urteil des Erstgerichtes wiederhergestellt werde.

Der Kläger beantragt in der ihm freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil das Berufungsgericht die zum Unfallszeitpunkt geltende Rechtslage nicht beachtet hat, und auch teilweise berechtigt.

Das Berufungsgericht hat dem Erstbeklagten zu Unrecht eine Verletzung des § 9 Abs 2 StVO vorgeworfen.

Der Unfall ereignete sich am 14. März 1994. Die Neufassung der Bestimmung des § 9 Abs 2 StVO, nach der auch einem Fußgänger, der einen Schutzweg erkennbar benützen will, die ungefährdete und unbehinderte Überquerung der Fahrbahn zu ermöglichen ist, ist erst mit der 19. StVO-Novelle am 1. Oktober 1994 in Kraft getreten. Nach der zum Unfallszeitpunkt geltenden Gesetzeslage hatte der Lenker eines Fahrzeuges einem Fußgänger, der sich auf einem Schutzweg befindet, das ungehinderte und ungefährdete Überqueren der Fahrbahn zu ermöglichen. Erst mit der 19. StVO-Novelle wurde diese Bestimmung dahingehend abgeändert, daß auch einem Fußgänger, der einen Schutzweg erkennbar benützen will, das ungehindert und ungefährdete Überqueren der Fahrbahn zu ermöglichen ist.

Nach den Feststellungen hatte der Erstbeklagte den Kläger wahrgenommen, als dieser noch etwa 0,5 m von der Gehsteigkante entfernt war, und reagiert, als sich der Kläger gerade auf der Gehsteigkante befand. Zu dem Zeitpunkt war der Erstbeklagte noch etwa 5,5 m von der späteren Kollisionsstelle entfernt und hielt eine Geschwindigkeit von 16 km/h ein. Eine Reaktionsverspätung des Erstbeklagten liegt nicht vor. Der Kläger durfte nämlich nach der zum Unfallszeitpunkt geltenden Gesetzeslage den Schutzweg nicht mehr betreten (vgl ZVR 1982/131).

Dem Erstbeklagte kann daher ein Verschulden wegen der Verletzung des § 9 Abs 2 StVO nicht vorgeworfen werden.

Auch eine Verletzung der Bestimmung des § 11 Abs 1 StVO fällt dem Erstbeklagten nach Ansicht des erkennenden Senates nicht zur Last. Nach dieser Bestimmung darf der Lenker eines Fahrzeuges die Fahrtrichtung nur ändern, nachdem er sich davon überzeugt hat, daß dies ohne Gefährdung oder Behinderung anderer Straßenbenützer möglich ist. Insbesondere hat der Lenker darauf zu achten, daß er Fußgänger, die vorschriftsmäßig die Fahrbahn überqueren, beim Einbiegen auch nicht nur abstrakt gefährdet oder behindert (Benes/Messiner, StVO9 § 11 Anm 3). Im vorliegenden Fall hat aber der Kläger entgegen der Bestimmung des § 76 Abs 4 lit a StVO und somit nicht vorschriftsmäßig den Schutzweg betreten.

Schließlich hat er auf die Lösung der Frage, ob die beklagten Parteien wegen Verschuldens des Erstbeklagten haften, auch keinen Einfluß, daß er nach den Feststellungen des Erstgerichtes bis zum Beginn des Einbiegens von der Sonne geblendet war und dennoch zügig losfuhr. Selbst wenn man darin ein Verschulden des Erstbeklagten erblickte, wäre dieser für den eingetretenen Schaden nicht kausal und damit nicht haftungsbegründend, weil der Erstbeklagte ohnedies schon reagierte, als sich der Kläger noch auf dem Gehsteig befand.

Wenngleich dem Erstbeklagten somit ein haftungsbegründendes Verschulden am Zustandekommen des Unfalles nicht vorgeworfen werden kann, ist ihm aber der Freibeweis nach § 9 Abs 2 EKHG nicht gelungen.

In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, daß er trotz Sonnenblendung zügig losfuhr. Ein besonders aufmerksamer und vorsichtiger Kraftfahrer hätte dies nämlich unterlassen und insbesondere auch den Gehsteig beobachtet, um eine Kollision mit allenfalls unvorsichtigen Fußgängern zu vermeiden. Gewichtet man das beiderseitige Verhalten im Sinn des § 7 Abs 1 EKHG, erscheint eine Haftungsteilung von 1 : 3 zu Lasten des Klägers angemessen. Dem Kläger war daher ein Viertel seines Schadens zuzusprechen.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 43 Abs 2, § 50 ZPO.

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