OGH 2Ob195/97h

OGH2Ob195/97h25.9.1997

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Angst als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Graf, Dr.Schinko, Dr.Tittel und Dr.Baumann als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Michaela B*****, vertreten durch Dr.Josef Lechner und Dr.Ewald Wirleitner, Rechtsanwälte in Steyr, wider die beklagten Parteien 1. Roland R*****, 2.Margit A***** und 3. ***** Versicherungs-AG, ***** alle vertreten durch Anwaltspartnerschaft Dr.Karl Krückl und Dr.Kurt Lichtl in Linz, wegen Zahlung von S 575.716 sA und Feststellung, infolge außerordentlicher Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes vom 13.März 1997, GZ 4 R 105/96f-77, womit infolge Berufung der beklagten Parteien das Urteil des Landesgerichtes Steyr vom 29.Mai 1995, GZ 3 Cg 10/93h-58, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, den beklagten Parteien die mit S 24.922,80 (darin enthalten Umsatzsteuer von S 4.153,80, keine Barauslagen) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 8.9.1989 kam es auf der Kreuzung zweier Bezirksstraßen zwischen dem vom Vater der Klägerin gelenkten PKW Audi 80 CL und dem vom Erstbeklagten gelenkten PKW Citröen CX zu einem Zusammenstoß, bei dem die im Fond des PKW ihres Vaters mitfahrende Klägerin schwer verletzt wurde. Halterin des vom Erstbeklagten gelenkten Fahrzeuges war die Zweitbeklagte, Haftpflichtversicherer die drittbeklagte Partei. Der Vater der Klägerin war mit seinem PKW unter Mißachtung des Vorranges des Erstbeklagten in die von diesem benützte Straße eingefahren. In Fahrtrichtung des Erstbeklagten befand sich 160 m vor der Kreuzung das Verkehrszeichen nach § 50 Z 4 StVO "Kreuzung mit Straße ohne Vorrang".

Die Klägerin begehrt die Zahlung von S 575.716 sA und die Feststellung der Haftung der beklagten Parteien für alle künftigen Schäden mit der Begründung, der Erstbeklagte habe die höchstzulässige Geschwindigkeit von 100 km/h überschritten, im Hinblick auf das Gefahrenzeichen "Kreuzung mit Straße ohne Vorrang" hätte er eine wesentlich geringere Geschwindigkeit einhalten müssen.

Die Beklagten wendeten ein, der Vater der Klägerin habe den Unfall allein verschuldet.

Mit Urteil vom 29.5.1995 verurteilte das Erstgericht die beklagten Parteien zur ungeteilten Hand zur Zahlung von S 504.596 sA und stellte deren Haftung für alle künftigen Schäden und Nachteile aus dem Verkehrsunfall vom 8.9.1989 fest. Das Mehrbegehren auf Zahlung von S 71.120 sA wurde abgewiesen.

Das in seinem klagsstattgebenden Teil von den beklagten Parteien angerufene Berufungsgericht bestätigte mit Teilurteil vom 30.Jänner 1996 die Verurteilung der zweit- und drittbeklagten Partei, beim Feststellungsbegehren mit der Einschränkung auf die Haftungshöchstbeträge des § 15 EKHG.

Nach Beweiswiederholung wurde mit Urteil vom 13.3.1997 das gegen den Erstbeklagten gerichtete Klagebegehren und bezüglich der zweit- und drittbeklagten Partei das Begehren auf Feststellung der Haftung über die Haftungshöchstbeträge des § 15 EKHG hinaus abgewiesen; das Berufungsgericht sprach aus, die ordentliche Revision sei nicht zulässig.

Unter Berücksichtigung der Feststellungen des Erstgerichtes und jener des Berufungsgerichtes ist von folgendem Sachverhalt auszugehen:

Zum Unfallszeitpunkt war es sonnig, die Fahrbahn war trocken. Der Vater der Klägerin wollte die Kreuzung, auf der sich der Unfall ereignete, in gerader Richtung überqueren. Zu gleicher Zeit näherte sich von rechts der vom Erstbeklagten gelenkte PKW. Die vom Vater der Klägerin benützte Straße mündet in seiner Fahrtrichtung mit einem etwa 30 m breiten Einmündungstrichter in die vom Erstbeklagten benützte Straße ein und setzt sich nach deren Überqueren in gerader Richtung fort. In den Einmündungstrichtern sind jeweils Haltelinien ausgebildet. In Fahrtrichtung des Vaters der Klägerin ist das Vorschriftszeichen "Vorrang geben" angebracht. Es bestand für ihn bereits etwa 25 m vor der Kreuzung eine Sicht nach rechts über 100 m. Ebenso bestand für den Erstbeklagten aus einer Entfernung von etwa 35 m vor Beginn des links in seine Fahrtrichtung einmündenden Einmündungstrichters eine Sicht von über 100 m nach links in die vom Vater der Klägerin benützte Straße.

Links und rechts der beiden Einmündungstrichter der vom Vater der Klägerin benützten Straße befinden sich jeweils Wiesenflächen. Der Vater der Klägerin näherte sich der Kreuzung mit einer Geschwindigkeit von ca 16 km/h. Er bemerkte zwar den von rechts herannahenden, vom Erstbeklagten gelenkten PKW, war jedoch der Meinung, daß er die Kreuzung noch überqueren könne, weshalb er sein Fahrzeug beschleunigte. Als der Erstbeklagte bemerkte, daß der Vater der Klägerin seinen Vorrang nicht beachten werde, sondern vielmehr sein Fahrzeug beschleunigte, leitete er eine Vollbremsung ein. Zu diesem Zeitpunkt war der vom Vater der Klägerin gelenkte PKW noch ca 15 m von der späteren Kollisionsstelle bzw 9 m von der Flucht der bevorrangten Straße entfernt und hatte eine Geschwindigkeit von ca 30 bis 35 km/h. Bis zur Kollision beschleunigte der Vater der Klägerin sein Fahrzeug auf ca 39 bis 42 km/h. Der Erstbeklagte hielt zum Zeitpunkt seiner Reaktionseinleitung eine Annäherungsgeschwindigkeit von ca 100 bis 107 km/h ein. Er konnte durch die Bremsung seine Geschwindigkeit bis zur Kollision auf ca 82 bis 90 km/h vermindern. Die Reaktionseinleitung erfolgte etwa 1,5 bis 1,6 Sekunden vor dem Anstoß. Umstände, aufgrund deren für den Erstbeklagten die spätere Vorrangverletzung durch den Vater der Klägerin bereits zu einem früheren Zeitpunkt erkennbar gewesen wäre, konnten nicht erwiesen werden. Der reine Bremsweg aus einer Geschwindigkeit von ca 30 bis 35 km/h hätte bei einer stärkeren Betriebsbremsung ohne Spurenzeichnung mit einem Verzögerungswert von 5 m/s**2 etwa 6 bis 10 m betragen. Der vom Vater der Klägerin gelenkte PKW wurde durch den Anstoß im Uhrzeigersinn verdreht, die Klägerin wurde aus dem Fahrzeug geschleudert und schwer verletzt.

Zur Abweisung des gegen den Erstbeklagten gerichteten Klagebegehrens führte das Berufungsgericht in rechtlicher Hinsicht aus, daß der Klägerin der Beweis eines Verschuldens nicht gelungen sei. Das Gefahrenzeichen nach § 50 Z 4 StVO "Kreuzung mit Straße ohne Vorrang" verpflichte den Vorrangberechtigten zwar zur erhöhten Aufmerksamkeit, verhalte ihn aber nicht schlechthin, seine Geschwindigkeit zu vermindern, so lange ein vorschriftswidriges Verhalten des benachrangten Verkehrsteilnehmers des Querverkehrs nicht zu erkennen sei. Die Straßen- und Sichtverhältnisse seien günstig gewesen, weshalb dem Kläger die Einhaltung einer überhöhten Geschwindigkeit nicht anzulasten sei. Da auch kein Reaktionsverzug vorliege, sei das gegen den Kläger gerichtete Begehren abzuweisen.

Dagegen richtet sich die außerordentliche Revision der Klägerin mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, daß das Urteil des Erstgerichtes wiederhergestellt werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagten haben in der ihnen freigestellten Revisionsbeantwortung beantragt, das Rechtsmittel der Klägerin zurückzuweisen, in eventu, ihm keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision der Klägerin ist zulässig, weil im Interesse der Rechtssicherheit im Hinblick auf die Entscheidungen ZVR 1965/214 und ZVR 1975/92 eine Klärung der Bedeutung des Gefahrenzeichens nach § 50 Z 4 StVO "Kreuzung mit Straße ohne Vorrang" erforderlich ist; sie ist aber nicht berechtigt.

Die Klägerin macht in ihrem Rechtsmittel geltend, es sei dem Erstbeklagten ein Verschulden am Zustandekommen des Unfalls anzulasten, weil er eine Geschwindigkeit von bis zu 107 km/h eingehalten habe. Die höchstzulässige Geschwindigkeit dürfe aber nur bei günstigsten Bedingungen eingehalten werden. Von derartig günstigsten Bedingungen könne aber nicht gesprochen werden, wenn eine mögliche Gefahrenstelle durch ein Gefahrenzeichen angekündigt werde. So habe der Oberste Gerichtshof auch in der Entscheidung ZVR 1975/92 ausgesprochen, daß bei Vorhandensein des Gefahrenzeichens nach § 50 Z 4 StVO der bevorrangte Verkehrsteilnehmer seine Geschwindigkeit der angekündigten Gefahr und den Sichtverhältnissen entsprechend so herabzusetzen habe, daß er sein Fahrzeug bei Wahrnehmung eines seinen Vorrang mißachtenden Querverkehrs auf kurzer Strecke zum Stillstand bringen könne. Auch in der Entscheidung ZVR 1979/296 sei eine Verschuldensteilung im Verhältnis von 3 : 1 zugunsten des bevorrangten Verkehrsteilnehmers vorgenommen worden. Die erhöhte Aufmerksamkeit habe der Erstbeklagte nicht aufgewendet, weil er erst reagierte, als das benachrangte Fahrzeug ca 9 m vor der Flucht der bevorrangten Straße war. Der benachrangte Verkehrsteilnehmer hätte aber aus dieser Entfernung bereits mit einer starken Betriebsbremsung reagieren müssen, um noch vor der Fluchtlinie anhalten zu können. Bei einer normalen oder mäßigen Betriebsbremsung wäre das benachrangte Fahrzeug in die bevorrangte Verkehrsfläche eingefahren, weshalb von einer umfassenden Aufmerksamkeit des Erstbeklagten keine Rede sein könne. Der Erstbeklagte hätte die Annäherung des benachrangten Fahrzeuges schon aus größerer Entfernung bemerkt. Dann noch mit 100 bis 107 km/h in die Gefahrenstelle "hineinzurauschen" und die Beibehaltung der Geschwindigkeit des benachrangten Verkehrsteilnehmers nicht zu beachten, begründe ein Verschulden des Erstbeklagten.

Diesen Ausführungen kann nicht gefolgt werden:

Nach ganz überwiegender Rechtsprechung verpflichtet das Gefahrenzeichen nach § 50 Z 4 StVO "Kreuzung mit Straße ohne Vorrang" den Vorrangberechtigten zwar zu erhöhter Aufmerksamkeit, verhält ihn aber nicht schlechthin, seine Geschwindigkeit zu vermindern, so lange ein vorschriftswidriges Verhalten des benachrangten Verkehrsteilnehmers des Querverkehrs nicht zu erkennen ist. Die Begründung dafür liegt darin, daß dem Vorrangberechtigten durch das erwähnte Gefahrenzeichen auch angekündigt wird, daß die einmündenden oder querenden Straßen durch entsprechende Verkehrszeichen abgeschirmt sind und daß ihm der Vorrang zukommt; er darf daher darauf vertrauen, daß andere Fahrzeuglenker den ihm zukommenden Vorrang respektieren und ihrer Wartepflicht nachkommen, solange nicht ein vorschriftswidriges Verhalten solcher Fahrzeuglenker für ihn erkennbar ist (ZVR 1987/22; ZVR 1984/290; ZVR 1983/247; ZVR 1979/296; ZVR 1974/7; ZVR 1971/16; ZVR 1970/110). Abweichend davon wurde in der Entscheidung ZVR 1975/92 die Ansicht vertreten, es müsse der durch das Gefahrenzeichen nach § 50 Z 4 StVO angekündigten Gefahr durch entsprechende Anpassung der Geschwindigkeit und durch erhöhte Aufmerksamkeit Rechnung getragen werden. Auch der Lenker des bevorrangten Fahrzeuges sei verpflichtet, die Geschwindigkeit so herabzusetzen, daß er sein Fahrzeug bei Wahrnehmung eines seinen Vorrang mißachtenden Querverkehrs auf kurzer Strecke zum Stillstand bringen könne. Diese Ansicht ist aber vereinzelt geblieben, auch die in der Entscheidung zitierten Vorentscheidungen sind nicht völlig einschlägig. Die Entscheidung ZVR 1965/105 betrifft ein Gefahrenzeichen nach § 50 Z 3 StVO, die Entscheidung ZVR 1965/214 besagt nur, daß nicht schlechthin auf die Beachtung des Verbotszeichens "Halt vor Kreuzung" vertraut werden dürfe; es wurde aber doch ausgesprochen, daß nach den gegebenen Umständen der Kreuzung durch eine entsprechend erhöhte Vorsicht, insbes durch eine vorsichtige Wahl der Geschwindigkeit Rechnung zu tragen sei. In der Entscheidung 2 Ob 375/68 wurde ausgeführt, daß das Gefahrenzeichen nach § 50 Z 4 StVO eine gewisse Einschränkung des Vertrauensgrundsatzes bedeute; nach der Entscheidung 2 Ob 168/69 kann aufgrund des Gefahrenzeichens nach § 50 Z 4 StVO nicht schlechthin auf den eigenen Vorrang gegenüber dem Querverkehr vertraut werden. In all diesen Entscheidungen (ausgenommen die Entscheidungen ZVR 1965/214 und ZVR 1975/92) wird aber nicht verlangt, daß der Lenker des bevorrangten Fahrzeuges schlechthin seine Geschwindigkeit vermindert. Der erkennende Senat schließt sich der herrschenden Ansicht, wonach der Vorrangberechtigte zwar zu erhöhter Aufmerksamkeit verpflichtet ist, nicht aber schlechthin dazu verhalten ist, seine Geschwindigkeit zu vermindern, solange ein vorschriftswidriges Verhalten des benachrangten Verkehrsteilnehmers nicht zu erkennen ist, an. Die gegenteilige Ansicht berücksichtigt nicht, daß aufgrund des Gefahrenzeichens nach § 50 Z 4 StVO auch darauf vertraut werden darf, daß andere Fahrzeuglenker den Vorrang respektieren und ihrer Wartepflicht nachkommen.

Da der Erstbeklagte nicht auch Halter des von ihm gelenkten Fahrzeuges ist, trifft ihn keine Gefährdungshaftung nach dem EKHG, sondern haftet er nur bei Verschulden. Nach ständiger Rechtsprechung trifft die Behauptungs- und Beweislast für ein die Haftung für die Unfallsfolgen begründetes Verschulden des Gegners den Geschädigten und geht jede in diese Richtung verbleibende Unklarheit zu dessen Lasten (ZVR 1991/146 mwN). Es kann daher auch nur von einer Geschwindigkeit des Beklagtenfahrzeuges von 100 km/h ausgegangen werden. Diese gesetzlich zulässige Höchstgeschwindigkeit durfte der Erstbeklagte auch ausschöpfen, war es doch zum Unfallszeitpunkt sonnig und war die Fahrbahn trocken.

Die in der Revision zitierte Entscheidung ZVR 1979/296 kann für die Beurteilung des vorliegenden Falles nicht herangezogen werden, weil ihr ein anderer Sachverhalt zugrundeliegt: Die vom Lenker des bevorrangten Fahrzeuges eingehaltene Geschwindigkeit war geringfügig absolut und wegen fehlender Fahrpraxis auch relativ überhöht.

Entgegen der Ansicht der Klägerin ist dem Erstbeklagten auch nicht vorzuwerfen, er hätte früher reagieren müssen. Wie in der Revision selbst ausgeführt wird, hätte ihr Vater zu dem Zeitpunkt, als der Erstbeklagte Reaktionshandlungen setzte, noch immer vor der Fluchtlinie anhalten können; daß dazu eine starke Betriebsbremsung erforderlich gewesen wäre, ändert nichts daran, daß für den Erstbeklagten eine Mißachtung des ihm zustehenden Vorranges bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht erkennbar war.

Da sich die Haftung der zweit- und drittbeklagten Parteien lediglich auf das EKHG gründet, ist sie mit den Höchstbeträgen des § 15 leg cit zu begrenzen.

Der Revision der Klägerin war sohin keine Folge zu geben.

Die Entscheidung über die Kosten gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO.

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