European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1997:E46128
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Das zweitinstanzliche Urteil wird dahin abgeändert, daß das Urteil des Erstgerichtes wiederhergestellt wird.
Die beklagten Parteien sind zu ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei die mit S 16.704,31 (darin S 2.232,39 Umsatzsteuer und S 3.310,‑- Barauslagen) bestimmten Kosten der Rechtsmittelverfahren binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
Am 20.10.1995 gegen 19.35 Uhr kam es auf der ampelgeregelten, rechtwinkeligen Kreuzung der Straßgangerstraße und der Grottenhofstraße in Graz zum Zusammenstoß zwischen dem von Petra F* gelenkten PKW Opel Astra des Klägers (Klagsfahrzeug) und dem vom Erstbeklagten gelenkten und gehaltenen, bei der zweitbeklagten Partei haftpflichtversicherten PKW Peugeot 205 CDI (Beklagtenfahrzeug). Die annähernd in Nord‑Süd‑Richtung verlaufende Straßgangerstraße, eine gekennzeichnete Vorrangstraße, weist im Bereich der Kreuzung folgende Fahrbahnbeschaffenheit und Bodenmarkierungen auf: Der in nördliche Richtung führende Fahrstreifen wird (in der Annäherungsrichtung des Klagsfahrzeuges) mindestens 100 m vor der vor der Kreuzung angebrachten Haltelinie in zwei Fahrstreifen geteilt, die zunächst durch eine Leitlinie, sodann die letzten 12 m vor der Haltelinie durch eine Sperrlinie voneinander getrennt werden, deren rechter (östlicher) 2,8 m breit und nur zum Rechtsabbiegen und deren linker 3,4 m breit und zum Geradeausfahren und zum Linksabbiegen bestimmt ist. Nördlich der Kreuzung verlaufen auf der Straßgangerstraße für die Fahrtrichtung Süden (des Beklagtenfahrzeuges) ebenfalls zwei Fahrstreifen, deren rechter (westlicher) 3,5 m breit und zum Geradeausfahren und zum Rechtsabbiegen und deren linker 2,8 m breit und nur zum Linksabbiegen bestimmt ist. Die jeweils linke Begrenzung der beschriebenen Fahrstreifenpaare (zum jeweiligen Fahrstreifen der Gegenrichtung) bildet in ihrer gedachten Verlängerung über die Kreuzung eine Gerade.
Der östliche Ast der Grottenhofstraße ist 6,6 m breit. Bezogen auf die nördliche Begrenzung dieses östlichen Astes der Grottenhofstraße als Bezugslinie (über die Straßgangerstraße) befinden sich 12 m nördlich die Haltelinie der Linksabbiegespur, 8 m nördlich die Haltelinie der Geradeausfahr- und Rechtsabbiegespur, sowie 2,7 m bis 6,7 m nördlich ein über die Straßgangerstraße angelegter Schutzweg. (Feststellungen über die korrespondierende Anordnung der Haltelinie und des Schutzweges auf der Straßgangerstraße südlich der Kreuzung liegen nicht vor; aus den Aktenunterlagen - insbesondere den Lichtbildern Beilagen 2 und 3 - geht eine ähnliche Anordnung hervor, allerdings scheint hier die Haltelinie auf gleicher Höhe zu liegen).
Im Unfallszeitpunkt war die Straßenbeleuchtung wegen der herrschenden Dunkelheit eingeschaltet. Die Straßgangerstraße war mit einer teilweise ausgebesserten Asphaltdecke versehen, die Fahrbahn verläuft annähernd horizontal und war trocken. Die Lenkerin des Klagsfahrzeuges näherte sich der Kreuzung mit einer Geschwindigkeit von 40 bis 50 km/h in der Absicht, die Kreuzung geradeaus zu überqueren. Der Erstbeklagte fuhr mit dem Beklagtenfahrzeug in Richtung Süden und wollte an der Kreuzung nach links in die Grottenhofstraße abbiegen. Als sich die Lenkerin des Klagsfahrzeuges der Kreuzung näherte, zeigte die Ampel grünes Licht. Da annähernd in Kreuzungsmitte vor ihr ein Taxi zum Linksabbiegen eingeordnet stand, lenkte sie das Klagsfahrzeug, mit dem sie auf dem linken, zum Linksabbiegen und Geradeausfahren bestimmten Fahrzeugstreifen fuhr, "leicht nach rechts aus, sodaß die rechte Flanke des Klagsfahrzeuges in einem Bereich zwischen 1 bis 2 m südlich (=vor) der Haltelinie die Sperrlinie zwischen den beiden Fahrstreifen in flachem Winkel überfuhr." Der Erstbeklagte fuhr, obwohl er die Lichter des entgegenkommenden Klagsfahrzeuges sah bzw sehen konnte, in einem Zug in die Kreuzung nach links derart kurvenschneidend ein, daß die linke Flanke des Beklagtenfahrzeugs von der nordöstlichen Kreuzungsecke (=Schnittpunkt der nördlichen Begrenzung der Grottenhofstraße und östlichen Begrenzung der Straßgangerstraße) einen Abstand von höchstens 2 m hatte. Als der Erstbeklagte entweder noch fahrbahnparallel in gedachter Verlängerung des Linksabbiegestreifens fuhr oder den Linksabbiegevorgang bereits knapp eingeleitet hatte, faßte die Lenkerin des Klagsfahrzeuges aus einer Geschwindigkeit von 44 km/h (in ihrer Sitzposition etwa auf Höhe der Haltelinie) den Bremsentschluß, führte eine Vollbremsung durch und stieß mit der Front des Klagsfahrzeuges etwa 1 m nördlich der Bezugslinie mit einer Geschwindigkeit von rund 25 km/h gegen die rechte Seite des mit rund 20 km/h fahrenden Beklagtenfahrzeugs.
Der Kläger begehrte den Ersatz von S 57.498,‑‑ sA an Reparaturkosten, für die Wertminderung seines Fahrzeuges und für Unkosten, weil der Erstbeklagte den Vorrang des Klagsfahrzeuges verletzt habe.
Die beklagten Parteien beantragten zunächst Abweisung des Klagebegehrens, weil die Lenkerin des Klagsfahrzeuges einen unzulässigen Fahrspurwechsel vorgenommen habe und entgegen ihrer Einordnung zum Rechtsabbiegen geradeaus gefahren sei, weshalb dem Erstbeklagten keine Vorrangverletzung anzulasten sei. Sollte diesen tatsächlich ein Verschulden treffen, dann sei dieses höchstens gleichwertig mit jenem der Lenkerin des Klagsfahrzeuges. Im übrigen wandten die beklagten Parteien Gegenforderungen des Erstbeklagten zur Aufrechnung ein.
Das Erstgericht gab dem Klagebegehren unter (rechtskräftiger) Abweisung eines Wertminderungsmehrbegehrens von S 5.000,‑- sowie Ablehnung der Gegenforderung der beklagten Parteien statt. Es lastete dem Erstbeklagten einen schweren Verstoß gegen die ihn gemäß § 19 Abs 5 StVO treffende Wartepflicht an, weil er trotz Wahrnehmung (Wahrnehmbarkeit) der Fahrzeugbeleuchtung des Klagsfahrzeuges in einem Zug kurvenschneidend nach links abzubiegen versucht habe. Das geringfügige Überfahren der zwischen den beiden Fahrstreifen vor der Kreuzung angebrachten Sperrlinie sei dem Kläger nicht als Verschulden der Lenkerin seines Fahrzeuges anzulasten, weil diese Sperrlinie nur dazu diene, die Fahrbahnen voneinander zu trennen, um das Einordnen der Fahrzeuge vor der Kreuzung zu gewährleisten, der Schutzzweck dieser Sperrlinie also nicht darin bestehe, die Wartepflicht bzw die vom entgegenkommenden Linksabbieger zu fordernde besondere Sorgfalt beim Überqueren der Kreuzung zu mindern. Jedenfalls sei das Überfahren dieser Sperrlinie der Lenkerin des Klagsfahrzeuges, die ansonsten durch ihr Verhalten keine Verkehrsvorschrift verletzt habe, im Vergleich zum besonders schweren Verstoß des Erstbeklagten gegen § 19 Abs 5 StVO zu vernachlässigen.
Das von den beklagten Parteien angerufene Gericht zweiter Instanz änderte in teilweiser Stattgebung der Berufung das Ersturteil dahin ab, daß es, ausgehend von einer Verschuldensteilung im Verhältnis 1:2 zugunsten des Klägers und von Schadensbeträgen von S 52.498,‑- (Kläger) und S 44.650,‑- (Erstbeklagter) zu einem Zuspruch von S 20.115,33 sA und einer weiteren Abweisung von S 32.382,67 sA gelangte. Das Gericht zweiter Instanz sprach weiters aus, daß die ordentliche Revision nicht zulässig sei. Der von der Berufung im Rahmen der Rechtsrüge behauptete sekundäre Feststellungsmangel (zur richtigen rechtlichen Beurteilung des festgestellten Sachverhaltes sei die Feststellung erforderlich, wie weit die Lenkerin des Klagsfahrzeuges in den Rechtsabbiegefahrstreifen mit dem Klagsfahrzeug eingedrungen sei) sei nicht gegeben, "weil aus der festgestellten Beschreibung der Fahrlinie des Klagsfahrzeuges unter Bedachtnahme auf den Standort des Taxis und die Dimensionen des Klagsfahrzeuges abgeleitet werden könne, daß sich dieses beim Überqueren der Haltelinie in etwa in der Mitte des Rechtsabbiegefahrstreifens befunden haben muß." Damit sei der Sachverhalt soweit abgeklärt, daß eine sachbezogene rechtliche Beurteilung des Fahrverhaltens der Lenkerin des Klagsfahrzeugs möglich sei. Liege auch der Normzweck des § 9 Abs 1 StVO unbestritten in der Gewährleistung der Sicherheit aller auf der Fahrbahn jenseits der Sperrlinie befindlichen Verkehrsteilnehmer, so sei doch kein Argument erkennbar, das bei einer Verkehrsituation wie im vorliegenden Fall einer Ausdehnung des Schutzzweckes dieser Norm auf einen entgegenkommenden Linksabbieger entgegenstände. Ein solcher Lenker müsse nämlich bei der gegebenen Verkehrsregelung nicht damit rechnen, daß ein die Fahrlinie in den Linksabbiegefahrstreifen (gemeint wohl: Rechtsabbiegestreifen) verlagerndes Fahrzeug die Kreuzung geradlinig überquere. Grundsätzlich sei davon auszugehen, daß die Lenkerin des Klagsfahrzeuges verpflichtet gewesen wäre, dieses auf dem für den Geradeausverkehr bestimmten Fahrstreifen hinter dem in der Kreuzung stehenden Taxi anzuhalten und erst nach dessen Linksabbiegen in den Kreuzungsbereich einzufahren. Im übrigen sei selbst bei Zulässigkeit des Überfahrens einer Sperrlinie (in anderen Fällen) immer besondere Vorsicht und Aufmerksamkeit geboten; erst recht gelte dies aber dann, wenn, wie hier, gar keine zwingende Notwendigkeit für eine solche Fahrweise bestanden habe. Bei richtiger Fahrweise der Lenkerin des Klagsfahrzeuges wäre auch das Linksabbiegemanöver des Erstbeklagten bereits beeendet gewesen, ehe sich das Klagsfahrzeug auf dem Geradeausfahrstreifen in den Kreuzungsbereich bewegt hätte. Sei auch der Vorrang des Klagsfahrzeuges durch diese Fahrweise seiner Lenkerin nicht verloren gegangen, so treffe sie dennoch ein Drittel des Verschuldens.
Rechtliche Beurteilung
Die gegen das zweitinstanzliche Urteil erhobene außerordentliche Revision der klagenden Partei ist entgegen der Auffassung und dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Ausspruch der Vorinstanz zulässig und berechtigt, weil das Berufungsgericht im Tatsachenbereich von den erstgerichtlichen Feststellungen entgegen § 488 Abs 4 ZPO ohne Beweiswiederholung abgewichen ist; sie ist auch berechtigt.
Der in der Rechtsrüge ihrer Berufung geäußerten Auffassung der beklagten Parteien, die erstgerichtlichen Feststellungen über die Fahrweise der Lenkerin des Klagsfahrzeuges beim Überfahren der hier interessierenden Sperrlinie seien insoweit mangelhaft und jedenfalls ergänzungsbedürftig, als zur richtigen Beurteilung des festgestellten Sachverhaltes die exakte Feststellung erforderlich sei, wie weit das Klagsfahrzeug in den Rechtsabbiegefahrstreifen eingedrungen sei, ist nämlich schon deshalb nicht beizupflichten, weil sich diese "Feststellungen" aus den erstgerichtlichen Feststellungen in dem für die vorliegende Entscheidung relevanten Maß ohnedies ergeben, ja in ihnen enthalten sind. Dabei kann allerdings der Ansicht der Vorinstanz nicht näher getreten werden, aus den erstgerichtlichen Feststellungen sei abzuleiten, daß sich das Klagsfahrzeug im Zeitpunkt des Überfahrens der Haltelinie etwa in der Mitte des Rechtsabbiegefahrstreifens befunden haben muß. Ein solches Verständnis dieses Teils der erstgerichtlichen Feststellungen ergibt sich weder aus der Aktenlage (Sachverständigengutachten, Beilage 3) noch aus einer vernünftigen Lesart des Ersturteiles. Danach wurde das Klagsfahrzeug, welches bis 1 bis 2 m vor der Haltelinie auf dem für die Geradeausfahrt und für das Linksabbiegen bestimmten Fahrstreifen bewegt wurde, in diesem Bereich mit der rechten Flanke (= wohl gemeint und zu verstehen: Begrenzung) in flachem (!) Winkel über die Sperrlinie gelenkt. Damit ist aber für die Zwecke dieses Verfahrens im Tatsachenbereich ausreichend klargestellt, daß das Klagsfahrzeug nicht etwa im Sinn des ursprünglichen Bestreitungsvorbringens der beklagten Partei gänzlich oder auch nur mit einem nennenswert auffälligen Teil seines "Frontalprofiles" auf der Rechtsabbiegespur eingeordnet war, sondern im Sinne der Ausführungen des Erstgerichtes lediglich mit einem geringfügigen Teil (auf seiner rechten Fahrzeugseite) diese Sperrlinie überschritten hatte. Damit ist aber eine abschließende rechtliche Beurteilung des vorliegenden Verkehrsunfalles und seiner Folgen möglich.
Den Erstbeklagten traf beim festgestellten Verkehrsgeschehen als Lenker des nach links einbiegenden Fahrzeuges gemäß § 19 Abs 5 StVO die Wartepflicht gegenüber dem im Gegenverkehr nahenden, die Fahrtrichtung beibehaltenden Klagsfahrzeug; dies ungeachtet des Umstandes, daß die Lenkerin dieses Fahrzeuges ihre Fahrtrichtung aus dem für die Geradeausfahrt und das Linksabbiegen bezeichneten Fahrstreifen knapp vor der Kreuzung leicht nach rechts (aus der Sicht des Erstbeklagten nach links) versetzte, um dem in Kreuzungsmitte zum Linksabbiegen angehaltenen Taxi auszuweichen.
Die Ansicht daß der der Schutzzweck von der Lenkerin des Klagsfahrzeuges geringfügig überfahrenen Sperrlinie gemäß § 9 Abs 1 StVO nicht nur im Sinne der Rechtsprechung (ZVR 1984/6 ua) auf den Fahrzeugverkehr jenseits der Sperrlinie (das sind hier nur die Rechtsabbieger) beschränkt sein, sondern sich auch auf den Gegenverkehr in der vorliegenden Ausgestaltung durch den Erstbeklagten beziehen sollte, muß abgelehnt werden. Gerade das den vorliegenden Unfall auslösende Fahrverhalten des Erstbeklagten steht in keinerlei Zusammenhang mit dem geringfügigen Überfahren der Sperrlinie durch das Klagsfahrzeug: Der Erstbeklagte hat nämlich das Klagsfahrzeug entweder überhaupt nicht bemerkt (beachtet) oder in einer Fehleinschätzung angenommen, daß dieses hinter dem Taxi (entweder ebenfalls links abbiegen wolle oder) anhalten werde, um erst nach dem Linksabbiegen des Taxis seine Fahrt fortzusetzen. Diese Verkennung der möglichen und erlaubten Fahrweise des Klagsfahrzeuges beruht aber nicht auf dem geringfügigen Überfahren der Sperrlinie durch die Lenkerin des Klagsfahrzeugs, die unter den konkret festgestellten Verhältnissen des Unfallsgeschehens vom Erstbeklagten wohl nicht einmal bei besonderer Aufmerksamkeit aus der Distanz hätte erkannt werden können, sondern fällt allein dem Erstbeklagten aus den dargelegten Gründen zu Last.
Für die beklagten Parteien ist auch aus der Entscheidung des erkennenden Senates ZVR 1992/62 nichts zu gewinnen, weil dort der zum Linksabbiegen anhaltenden Fahrzeuglenkerin ein Fahrzeug auf dem (mittleren der beiden) zum Rechtsabbiegen gekennzeichneten Fahrstreifen (also "eingeordnet zum Rechtsabbiegen") entgegenkam, ohne die Geradeausfahrabsicht irgendwie zu bekunden, sodaß der sonst gemäß § 19 Abs 5 StVO gegebene Vorrang dieses Fahrzeuglenkers mangels einer zulässigen Möglichkeit zur Weiterfahrt in gerader Richtung verneint wurde. Der Sachverhalt dieser Entscheidung weicht somit vom vorliegenden festgestellten Unfallsablauf doch ganz grundsätzlich ab, hat doch vorallem hier der Erstbeklagte - ohne anzuhalten - in einem Zug kurvenschneidend sein Linksabbiegemanöver eingeleitet, ohne das in zulässiger Geradeausfahrt herannahende Klagsfahrzeug zu beachten.
Diese Erwägungen führen in Stattgebung der Berufung des Klägers zur Wiederherstellung des erstgerichtlichen Urteils.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 50, 41 ZPO.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)