OGH 6Ob2196/96a

OGH6Ob2196/96a10.4.1997

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Kellner, Dr.Schiemer, Dr.Prückner und Dr.Sailer als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj.Natalie Ö*****, geboren am 2.Jänner 1986, in Obsorge der Mutter Andrea Ö*****, Aufenthalt unbekannt, infolge Revisionsrekurses des Vaters, Ronald Ö*****, vertreten durch Rechtsanwälte Dr.Amhof und Dr.Damian Partnerschaft in Wien, gegen den Beschluß des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgerichtes vom 10.April 1996, GZ 44 R 1037/95s-97, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Schwechat vom 17. Mai 1995, GZ P 98/93-93, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben; die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben; dem Erstgericht wird eine neuerliche, nach Ergänzung des Verfahrens zu fällende Entscheidung aufgetragen.

Text

Begründung

Nach dem pflegschaftsgerichtlich genehmigten Scheidungsvergleich vom 14.10.1991 steht die Obsorge für die mj.Natalie der Mutter allein zu; dem Vater wurde ein Besuchsrecht eingeräumt. Dieser beantragte, ihm die Obsorge für das Kind zu übertragen. Die Mutter habe mit ihrem Lebensgefährten wegen eines gegen sie anhängigen Strafverfahrens Ende 1993 Österreich verlassen und das Kind auf der Flucht mitgenommen. Seither sei sie unbekannten Aufenthaltes, angeblich in Brasilien. Die sechsmonatige Frist des § 145 ABGB sei verstrichen, die Obsorge komme daher nunmehr dem Vater allein zu. Eine Obsorgeübertragung entspreche dem Kindeswohl, weil die Mutter im Falle ihrer Rückkehr nach Österreich sofort verhaftet würde. Eine Sofortmaßnahme sei im Interesse des Kindes daher erforderlich. Der Vater beabsichtige überdies, die Suche nach seinem Kind aufzunehmen und benötige für die entsprechenden behördlichen Schritte eine Legitimation durch Übertragung der Obsorge.

Nach der Aktenlage besuchte die Minderjährige bis Oktober 1993 die Volksschule in Ebergassing, seither wurde sie in keiner anderen Schule in Österreich angemeldet. Die Mutter übt in Österreich keine versicherungspflichtige Erwerbstätigkeit mehr aus. Sie ist zwar in Engelhartstetten aufrecht gemeldet, hat aber mit dem Kind dort keinen tatsächlichen Aufenthalt. Der Großvater mütterlicherseits gab an, seine Tochter und die Minderjährige zuletzt im Dezember 1993 gesehen zu haben, seine Tochter habe ihm nur mitgeteilt, sie werde ins Ausland ziehen, anläßlich von telefonischen Kontakten gebe sie ihren Aufenthaltsort nicht bekannt, sie habe nur erklärt, die Minderjährige besuche eine Privatschule.

Gegen die Mutter ist beim Landesgericht für Strafsachen Wien ein Strafverfahren wegen des Verdachtes des schweren Betruges anhängig. Sie steht im Verdacht, Ende 1993 gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten durch Vortäuschung eines Kfz-Diebstahles der Volksfürsorge Jupiter Versicherungs AG eine Entschädigungssumme von 458.000 S betrügerisch herausgelockt zu haben, wobei die Genannten das Fahrzeug tatsächlich ins Ausland verbracht und verwertet haben sollen. Die Mutter ist laut Strafregisterauskunft bisher unbescholten und ist im Strafverfahren zur Aufenthaltsermittlung ausgeschrieben. Gegen ihren (damaligen) Lebensgefährten ist darüber hinaus ein Strafverfahren wegen des Verdachtes der betrügerischen Krida mit einer Schadenssumme von rund 7,000.000 S anhängig. Gegen ihn wurde ein Haftbefehl erlassen. Nach dem Inhalt der Strafakten bestehen lediglich vage Hinweise, die Mutter, ihr Lebensgefährte und das Kind könnten sich möglicherweise in Deutschland, Brasilien oder Ungarn aufhalten.

Das Erstgericht wies den Antrag des Vaters, ihm die Obsorge für die Minderjährige zu übertragen, ab. Die Mutter habe Österreich mit dem Kind 1993 verlassen und sei unbekannten Aufenthaltes. Daß die Mutter mit dem Kind ins Ausland verzogen sei, genüge, auch wenn sie ihren Aufenthalt verheimliche und eine strafrechtliche Voruntersuchung gegen sie anhängig sei, für eine Obsorgeentziehung nicht; eine solche Maßnahme könne nicht prophylaktisch vor Eintritt einer konkreten Gefahr, sondern nur unter den Voraussetzungen des § 176 ABGB getroffen werden. § 145 ABGB sei auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Vaters keine Folge. § 145 Abs 1 ABGB sei nur auf den Fall anwendbar, daß der Aufenthalt eines obsorgeberechtigten Elternteiles unbekannt sei und er das Kind unversorgt zurücklasse, nicht aber, wenn der obsorgeberechtigte Elternteil gemeinsam mit dem Kind den bisherigen Aufenthaltsort verlassen habe und nunmehr beide unbekannten Aufenthaltes seien. Als Grundlage für die vom Vater beantragte Obsorgeübertragung komme nur § 176 ABGB in Betracht, der eine Gefährdung des Kindeswohles voraussetze. Auch wenn Anhaltspunkte für eine solche Gefährdung sprächen, sei eine Änderung der Obsorge nach den besonderen Umständen des Falles für das Kindeswohl dennoch nicht erforderlich. Zur Ausforschung des Aufenthaltes seien die Sicherheitsbehörden berufen, es sei nicht ersichtlich, daß eine Antragslegitimation des Vaters auf sicherheitsbehördliche Ermittlungen die Chancen auf einen Fahndungserfolg vergrößern könnte. Auch eine unmittelbare Gefahr für das Kind durch Verhaftung der Mutter für den Fall ihrer Rückkehr nach Österreich sei nicht zu erwarten, weil gegen sie kein Haftbefehl vorliege. Da nicht einmal konkrete Hinweis darauf bestünden, in welchem Staat der Welt die Mutter und das Kind sich aufhielten, sei dem Vater keine realistische Chance zuzubilligen, daß er in absehbarer Zeit eine Herausgabe des Kindes erreichen und die Obsorge tatsächlich ausüben könnte. Eine Übertragung des Obsorgerechtes an den Vater würde dazu führen, daß die Mutter als tatsächliche Betreuungsperson zur Ausübung der Obsorge rechtlich nicht mehr befugt wäre, der rechtlich hiezu befugte Vater hingegen die mit der Obsorge verbundenen Rechte und Pflichten tatsächlich nicht erfüllen könnte. Solange der Aufenthalt und die derzeitigen Lebensverhältnisse des Kindes völlig unbekannt seien, fehle jede Beurteilungsgrundlage, welche Maßnahmen im Interesse des Kindeswohles zu setzen seien.

Das Rekursgericht sprach aus, daß der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei, weil zu der Frage, ob bei völlig unbekanntem Aufenthalt des obsorgeberechtigten Elternteiles und des minderjährigen Kindes eine Obsorgeübertragung an den anderen Elternteil dem Kindeswohl entspreche, eine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes fehle.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs des Vaters ist berechtigt.

Der Aufenthalt der Mutter und der Minderjährigen ist seit Ende 1993 unbekannt. Zunächst ist festzuhalten, daß die inländische Jurisdiktion in Kindschaftssachen bei österreichischer Staatsangehörigkeit des Kindes immer bejaht wird, gleichgültig, wo sich das Kind befindet. Dieser Grundsatz gilt sowohl bei der Aberkennung der elterlichen Gewalt als auch in Sorgerechtsfällen und erfährt durch das Minderjährigenschutzabkommen (dessen Anwendbarkeit hier überdies fraglich ist, weil nicht bekannt ist, ob die Minderjährige ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einem ausländischen Vertragsstaat hat) nur hinsichtlich von Schutzmaßnahmen eine gewisse Einschränkung (vgl Schwimann, Internationales Zivilverfahrensrecht, 56 und 90 f mwN).

Der Vater beruft sich in seinem Rechtsmittel neuerlich auf § 145 Abs 1 zweiter Satz ABGB. Diese Bestimmung, die ua die Übertragung der Obsorge von jenem Elternteil, dessen Aufenthalt seit mindestens sechs Monaten unbekannt ist und dem die Obsorge allein zusteht, auf den anderen Elternteil (oder auf das Großelternpaar oder einen Großelternteil) regelt, kommt aber nur zum Tragen, wenn der Obsorgeberechtigte allein - also nicht zusammen mit dem Kind - unbekannten Aufenthaltes ist und daher die Obsorge für das unversorgt zurückbleibende Kind nicht ausüben kann. Dies wird nicht nur aus der systematischen Einordnung der Bestimmung im Rahmen der Obsorge, sondern insbesondere auch aus den Erläuterungen zur Regierungsvorlage (60 BlgNR 14.GP 24) deutlich, die ausführen, daß die in Abs 1 umschriebenen Fälle solcher Art sind, daß der von ihnen betroffene Elternteil nicht in der Lage ist, seine elterlichen Befugnisse auszuüben und Vorsorge getroffen wird, daß beim Ausfall der Eltern durch Bestimmung der Großeltern, die kraft des Naheverhältnisses für die Pflege und Erziehung des Kindes regelmäßig geeignet sind, Vorsorge getroffen wird.

Eine Entziehung der Obsorge der Mutter und Übertragung auf den Vater ist allerdings unter den Voraussetzungen des § 176 ABGB, also eines Verhaltens der obsorgeberechtigten Mutter, das das Wohl der Minderjährigen ernsthaft gefähdet, möglich. Für eine solche Beurteilung reichen die Entscheidungsgrundlagen derzeit noch nicht aus, weil die Lebens- und Erziehungssituation des Kindes seit Ende 1993 gänzlich unbekannt ist. Der Elternteil, dem die Obsorge für das Kind zusteht, hat zwar auch das Recht, dessen Aufenthaltsort zu bestimmen (§ 146b ABGB). Zu den Mindestrechten des nicht obsorgeberechtigten Elternteiles gehört jedoch auch das Recht auf persönlichen Verkehr und jenes, von außergewöhnlichen Umständen, die die Person des Kindes betreffen, und von beabsichtigten Maßnahmen zu in § 154 Abs 2 und 3 leg cit genannten Angelegenheiten von demjenigen, dem die Obsorge zukommt, rechtzeitig verständigt zu werden und sich zu diesen, wie auch anderen wichtigen Maßnahmen zu äußern. Die Wahrnehmung dieser Mindestrechte darf das Gericht nur einschränken oder entziehen, wenn das Wohl des Kindes ernstlich gefährdet ist (§ 178 ABGB). Gegen diese Mindestrechte des Vaters hat die Mutter durch ihr "Untertauchen" gröblichst verstoßen. Ihre Flucht vor Strafverfolgung ins Ausland ohne Nachricht über ihren tatsächlichen Verbleib und die Lebensumstände und Situation des Kindes kann nicht mit einer regulären Übersiedlung ins Ausland gleichgesetzt werden. Die Minderjährige wird durch dieses Verhalten auch jeglichem Schutz des österreichischen Pflegschaftsgerichtes entzogen, das nicht einmal über die zuständigen örtlichen Behörden im Aufenthaltsstaat Aufklärung und erforderliche Schutzmaßnahmen veranlassen kann. Es ist daher erforderlich, zumindest durch eingehende Vernehmung der mütterlichen Großeltern zu versuchen, den Aufenthaltsort und die tatsächlichen Lebensumstände der Minderjährigen zu ermitteln. Es ist ja nicht einmal bekannt, ob sich die Minderjährige noch bei ihrer Mutter befindet. Den erwähnten Großeltern wird vor Augen zu führen sein, daß eine Auskunftsverweigerung dazu führen müßte, der Mutter die Obsorge zu entziehen und diese dem Vater zu übertragen, damit diesem die Möglichkeit eröffnet wird, die Hilfe der Behörden und Organe der öffentlichen Aufsicht bei der Ermittlung des Aufenthaltes und notfalls auch bei der Zurückholung des Kindes in Anspruch zu nehmen (§ 146b ABGB), eine Hilfe, zu der die Behörden verpflichtet sind. Dem Vater wäre nämlich die Obsorge in einem solchen Fall zu übertragen, weil ernsthafte Bedenken vorlägen, daß das Kindeswohl gefährdet ist.

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