Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Das Urteil des Berufungsgerichtes, welches hinsichtlich der Abweisung des Mehrbegehrens auf Pflegegeld der Stufe 2 ab 1.1.1995 unbekämpft in Rechtskraft erwachsen ist, wird darüber hinaus, also hinsichtlich des Zuspruches eines Pflegegeldes der Stufe 1 (monatlich S 2.563) unter Berücksichtigung allfälliger seither erfolgter Anpassungen ab 1.1.1995, aufgehoben und die Sozialrechtssache in diesem Umfang an das Berufungsgericht zur Entscheidung nach Abführung einer Berufungsverhandlung zurückverwiesen.
Die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung
Der am 9.10.1928 geborene Kläger ist Pensionist und wohnt in einem modernst ausgestatteten Landes-Pensionisten- und Pflegeheim. Im Umkreis von einem Kilometer befindet sich eine Haltestelle der öffentlichen Verkehrsmittel.
Der Kläger leidet vor allem an chronischem Alkoholismus, sklerotischem Herzmuskelschaden, Krampfadern an beiden unteren Extremitäten mit ausgedehnten trophischen Hautveränderungen beiderseits und offenen Stellen über dem linken Sprunggelenk sowie einem depressiven Verstimmungszustand bei mäßig organischem Psychosyndrom. Unter Berücksichtigung seines Leidenszustandes einerseits und der konkreten Wohnverhältnisse andererseits benötigt er folgende Betreuung und Hilfe:
Er kann seinen Körper oberflächlich und grundsätzlich auch gründlich reinigen; lediglich für das Waschen der Füße benötigt er Hilfe. Er kann einfache Mahlzeiten (Frühstück, Jause, Reisgericht, Kartoffelspeisen etc) zubereiten sowie komplette Mahlzeiten aus handelsüblichen Tiefkühlprodukten und handelsüblichen Fertiggerichten sowie aus vorgekochten Speisen herstellen. Eine komplette Mahlzeit aus Frischprodukten kann er nicht zubereiten. Der Kläger kann nämlich zusammenhängend nur bis zu etwa fünfzehn Minuten gehen und/oder stehen. Mahlzeiten alleine einnehmen kann er.
Bei Verrichtung der Notdurft mit anschließender Körperreinigung benötigt er keine Hilfe. Er kann sich auch alleine an- und auskleiden. Mobilität im engeren Sinn ist gegeben. Medikamente kann er alleine einnehmen. Für den erforderlichen Verbandwechsel an den Füßen und Beinen benötigt er Hilfe, dies im Ausmaß von zweimal zehn Minuten täglich. Nahrungsmittel kann er grundsätzlich (bis ein Kilogramm) täglich besorgen, es ist ihm lediglich der sog. Großeinkauf (der aber konkret nicht erforderlich ist) nicht möglich. Medikamente kann er ebenfalls selbst besorgen.
Es ist ihm möglich, die Wohnung und die persönlichen Gebrauchsgegenstände oberflächlich, aber nicht gründlich zu reinigen. Die Leibwäsche kann er pflegen, nicht aber die Bettwäsche. Für die Beheizung des Wohnraumes kann er sorgen. Er benötigt auch keine Mobilitätshilfe im weitesten Sinn; der Kläger kann in einem ein Kilometer zurücklegen und auch öffentliche Verkehrsmittel benützen. Er geht auch tatsächlich aus und besucht u.a. auch seine in Ternitz lebende Ehefrau unter Benützung öffentlicher Verkehrsmittel.
Mit dem bekämpften Bescheid vom 25.9.1995 wies die beklagte Partei seinen Antrag vom 27.1.1995 auf Gewährung des Pflegegeldes ab.
In seiner Klage stellte er das Begehren auf Zuerkennung eines solchen in der Pflegestufe 3.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren, ihm ab 1.1.1995 Pflegegeld in der gesetzlichen Höhe zu gewähren, ab.
Es beurteilte den eingangs zusammengefaßt wiedergegebenen Sachverhalt rechtlich dahingehend, daß der Kläger gemäß § 273 ZPO "im Zusammenhang mit der Einschätzungsverordnung" (gemeint wohl: Einstufungsverordnung - EinstV) zum BPGG lediglich für 44 Stunden im Monat der Betreuung und Hilfe bedürfe.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers, in welcher lediglich noch ein Pflegegeld der Stufe 2 begehrt wurde, Folge (richtig: teilweise Folge) und änderte das Ersturteil dahingehend ab, daß es die beklagte Partei zur Zahlung eines Pflegegeldes der Stufe 1 ab 1.1.1995 verpflichtete und das darüber hinausgehende Mehrbegehren (Stufe 2) abwies.
Ohne auf die Beweisrüge des Klägers im einzelnen einzugehen, beurteilte es die Feststellungen des Erstgerichtes von diesem abweichend rechtlich dahingehend, daß es den Hilfs- und Betreuungsaufwand des Klägers mit insgesamt 75 Stunden errechnete, der sich wie folgt zusammensetzt: Pflege der Leib- und Bettwäsche (10 Stunden); Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände (10 Stunden); Herbeischaffung von Nahrungsmitteln und Gebrauchsgegenständen (10 Stunden); Hilfe beim
Waschen der Füße samt Pediküre (täglich 10 Minuten = monatlich 5
Stunden); täglicher Verbandwechsel (zweimal täglich 10 Minuten = 10
Stunden pro Monat); Zubereitung von Mahlzeiten (30 Stunden).
Zum letztgenannten Zeitaufwand von 30 Stunden führte das Berufungsgericht aus, daß auf Grund der Feststellungen des Erstgerichtes der Kläger nicht in der Lage sei, länger als zehn Minuten zusammenhängend zu stehen, womit er zwar in der Lage sei, ein Frühstück oder eine Jause, allenfalls auch ein einfaches Essen (wie Eierspeise, Kartoffelpüree etc) zuzubereiten; um hingegen pro Tag zumindest eine komplette Mahlzeit herstellen zu können, die sich nicht auf das Aufwärmen vorgekochter Speisen bzw von (Tiefkühl-)Fertiggerichten beschränkt, sei die Fähigkeit, eine überwiegend stehende Körperhaltung für die Dauer von mehr als zehn Minuten einnehmen zu können, erforderlich.
Gegen dieses Urteil richtet sich die auf die Revisionsgründe der Aktenwidrigkeit, Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtigen rechtlichen Beurteilung gestützte, gemäß § 46 Abs 3 ASGG auch ohne Vorliegen der Voraussetzungen des Abs 1 leg cit zulässige und vom Kläger auch beantwortete Revision der beklagten Partei mit dem Antrag, die bekämpfte Entscheidung im Sinn einer Klagsabweisung abzuändern.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist im Sinne des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrages berechtigt. Dies aus folgenden Erwägungen:
Zutreffend verweist die Revisionswerberin darauf, daß dem Berufungsgericht bei Wiedergabe der vom Erstgericht übernommenen (und insoweit in der Berufung des Klägers nicht nur unbekämpft gebliebenen, sondern hierin sogar ausdrücklich als zutreffend "attestierten", erst in der nunmehr vorliegenden Revisionsbeantwortung - allerdings unzulässigerweise - bemängelten) Feststellungen eine Aktenwidrigkeit unterlaufen ist: Danach ist der Kläger nämlich nicht - wie vom Berufungsgericht angenommen und unterstellt - bloß in der Lage, zusammenhängend bis zu etwa zehn Minuten zu gehen und/oder zu stehen, sondern vielmehr etwa fünfzehn Minuten lang. Wenn das Berufungsgericht daraus ableitete, daß der Kläger damit für die Zubereitung einer ordentlichen warmen Mahlzeit pro Tag ungeeignet sei (und ihm deshalb, abweichend vom Erstgericht, einen zusätzlichen Betreuungsaufwand von dreißig Stunden pro Monat nach § 1 Abs 4 EinstV zuerkannte, wodurch der Mindestpflegeaufwand für die Pflegegeldstufe 1 überschritten werde), so ist - worauf in der Revision zutreffend hingewiesen wird - auf die erst jüngst gefällte Entscheidung des Senates vom 13.12.1996, 10 ObS 2410/96a, zu verweisen. Hierin wurde ausdrücklich ausgesprochen, daß beim Bereiten einer warmen Mahlzeit ein ununterbrochenes Stehen in der Dauer von fünfzehn Minuten schon deshalb nicht erforderlich ist, "weil diese Tätigkeit nur aus einer Summe von Einzelhandlungen besteht, die sowohl im Sitzen als auch abwechselnd im kurzfristigen Stehen erledigt werden können" (vgl hiezu auch 10 ObS 2375/96d). Da diese Überlegungen jedoch grundsätzlich auch bei einer selbst nur zu einem zehnminütigen selbständigen und zusammenhängenden Gehen und Stehen physisch befähigten Person gelten müssen, kommt der unterlaufenen Aktenwidrigkeit letztlich für die rechtliche Beurteilung der Sache keine maßgebliche Bedeutung zu (MGA ZPO14 E 84 zu § 503; Kodek in Rechberger, ZPO Rz 4 zu § 503). Wenn aber für den Kläger - in beiden Variationen gleichermaßen - kein zusätzlicher besonderer Betreuungsaufwand (im Ausmaß von weiteren dreißig Stunden) anzunehmen ist, weil er nicht bloß unter Verwendung etwa handelsüblicher Tiefkühlkost und von Fertiggerichten, sondern grundsätzlich auch aus Frischprodukten komplette, aus einem Gang bestehende Mahlzeiten (Hausmannskost) zubereiten kann, wird der für die Pflegegeldstufe 1 nach § 4 Abs 2 BPGG erforderliche Mindestpflegebedarf von 50 Stunden weder bei Zugrundelegung der vom Erstgericht mit vier noch vom Berufungsgericht mit fünf Stunden qualifizierten Hilfe beim täglichen Waschen der Füße (einschließlich Pediküre) überschritten, beträgt doch der restliche Gesamtpflegebedarf nur 44 bzw 45 Stunden.
Damit kommt aber der in der Berufung enthaltenen und vom Berufungsgericht bisher unbehandelt gelassenen Beweisrüge entscheidungserhebliche Bedeutung zu. Hierin bekämpfte der Kläger nämlich sowohl die Feststellungen des Erstgerichtes, selbständig zur Verrichtung der Notdurft in der Lage zu sein, als auch sich alleine an- und auskleiden zu können; des weiteren wurden hierin auch die Feststellungen zur Medikamentenbesorgung und zur Körperpflege (Baden/Duschen, Haar- und Nagelpflege) bekämpft.
Erst nach inhaltlicher Erledigung dieser Beweisrüge wird abschließend und verläßlich beurteilt werden können, ob beim Kläger die allein noch strittige Gesamtstundenanzahl für die Pflegestufe 1 (50 Stunden pro Monat) unter- oder überschritten wird.
Demgemäß war das Urteil des Berufungsgerichtes aus allen diesen Erwägungen aufzuheben und diesem eine neuerliche Entscheidung im aufgezeigten Sinne aufzutragen.
Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG.
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