OGH 7Ob35/97s

OGH7Ob35/97s12.2.1997

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Warta als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Niederreiter, Dr.Schalich, Dr.Tittel und Dr.I.Huber als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj. Julian Lorenz H*****-L*****, geboren am *****, infolge Rekurses des Vaters Carlos Felipe H*****-L*****, vertreten durch Dr.H.Peter Draxler und andere Rechtsanwälte in Wien, gegen den Beschluß des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 28. November 1996, GZ 43 R 1015/96z-29, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Innere Stadt Wien vom 30.September 1996, GZ 3 P 172/96h-24, bestätigt wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung

Die Mutter des Kindes ist österreichische Staatsbürgerin, der Vater des Kindes ist mexikanischer und österreichischer Staaatsbürger. Die Eheschließung erfolgte am 20.6.1994 in Montreal, wo beide auch in der Folge ihren Wohnsitz hatten. Die Ehegatten leben nach den Angaben des Vaters in seiner Scheidungsklage seit Juni 1995 getrennt. Das vom Vater am 7.12.1995 in Montreal eingeleitete Scheidungsverfahren ist noch anhängig. Die Mutter erwirkte am 15.12.1995 beim Superior Court in Quebec die im folgenden teilweise wiedergegebene einstweilige Anordnung (interim order), der, bis ein Urteil in der Sache selbst erfolgen sollte, Geltung zukam: "Das Sorgerecht betreffend Julian wird der Mutter, Martina D*****, übertragen. Besuchsrecht wird dem Vater jedes Wochenende von Freitag 18 Uhr bis Sonntag 18 Uhr unter der Bedingung eingeräumt, daß der Reisepaß des Vaters im Besitz seines Anwalts ist und dieser Umstand dem Anwalt der Mutter bestätigt wird und daß eine Kopie des Antrages auf den neuen österreichischen Reisepaß des Vaters, zusammen mit seiner eidlichen Erklärung, daß er seinen derzeitigen österreichischen Reisepaß verloren hat, dem Anwalt der Mutter innerhalb von 4 Tagen nach dem gegenwärtigen Urteil zugestellt wird. Der Vater hat das Kind ab heute, 18 Uhr. Beiden Parteien wird aufgetragen, die Provinz Quebec mit dem Kind nicht zu verlassen".

Die Mutter verließ Anfang Juli 1996 mit dem Kind Kanada und stellte am 16.Juli 1996 vor dem Erstgericht den Antrag, ihr die alleinige Obsorge über das Kind zuzusprechen. Sie lebt seither in Österreich. Unter Berufung auf die am 18.7.1996 ergangene Entscheidung des Superior Court in Quebec, mit der ihm die alleinige Obsorge über den Minderjährigen zugesprochen und die Mutter zur Übergabe des Kindes an ihn aufgefordert wurde, stellte der Vater am 1.8.1996 den Antrag auf Rückgabe des widerrechtlich verbrachten Kindes nach dem Haager Kindesentführungsübereinkommen BGBl 1988/512 (im folgenden HKÜ). Obwohl ihm ein Wochenendbesuchsrecht zustehe und der Mutter verboten worden sei, mit dem Kind Quebec zu verlassen, habe sie mit ihrer Übersiedlung nach Österreich das Wohl des Kindes gefährdet. Bereits am 25.Juli 1996 war vom zuständigen Gericht in Quebec ein Haftbefehl gegen die Mutter ergangen.

Die Mutter widersprach dem auf das Kindesentführungsübereinkommen gestützten Rückführungsantrag des Vaters. Da ihr im Zeitpunkt der Wohnsitznahme in Österreich die (vorläufige) alleinige Obsorge durch den Beschluß des kanadischen Gerichtes zugestanden sei, lägen die Voraussetzungen nach Art 3 des HKÜ nicht vor. Sie sei zur Rückkehr in ihre Heimat gezwungen gewesen, weil der Vater sie aus der ehelichen Wohnung ausgesperrt, ihr und dem Kind keine ausreichenden Unterhaltsbeiträge geleistet habe, nicht mehr für die Krankenversicherung aufgekommen sei und ihr Visum abgelaufen sei. Dem Vater sei zum Zeitpunkt ihrer Rückkehr nach Österreich nur ein Besuchsrecht eingeräumt gewesen. Er habe auch in der Scheidungsklage angegeben, seit Juni 1995 von der Mutter getrennt zu leben. Seit diesem Zeitpunkt habe der Vater keine Obsorge über das Kind ausgeübt. Die Mutter sei durch eine vom Vater beantragte Anordnung des Superior Court der Provinz Quebec zur Räumung der Ehewohnung und gesonderten Wohnungsnahme mit dem Kind gezwungen worden. Die Rückführung des Kindes nach Kanada wäre mit einer schwerwiegenden seelischen und körperlichen Schädigung des Kindes verbunden. Der Vater sei psychisch krank und lasse sich nicht behandeln. In seinen dysphorischen Zuständen spreche er dem Alkohol zu. Das der kandadischen Sorgerechtsentscheidung zugunsten des Vaters zugrundeliegende Sachverständigengutachten sei absolut unschlüssig. Es hätte statt eines psychologischen ein psychiatrisches Gutachten eingeholt werden müssen. Es bestehe der Verdacht des sexuellen Mißbrauches am Kind durch den Vater. Der Vater habe die Mutter auch körperlich attackiert. Die Mutter habe keine Möglichkeit gehabt, in Kanada einem Verdienst nachzugehen, vielmehr habe der Vater von ihr Geld verlangt, um seine Rechtsanwaltskosten bezahlen zu können.

Das Erstgericht wies den Antrag des Vaters auf Rückgabe des mj. Julian ab. Es erachtete die Angaben der Mutter für glaubwürdig. Die Mutter habe zwar das Kind widerrechtlich von Kanada nach Österreich verbracht und dadurch dem Vater die Ausübung seines Besuchsrechtes unmöglich gemacht. Die vom Vater beantragte Rückgabe des Kindes wäre jedoch durch die Trennung des Kindes von seiner Mutter als der derzeitigen Bezugsperson mit einer schwerwiegenden seelischen und körperlichen Gefährdung des Kindes verbunden.

Das Rekursgericht bestätigte mit der angefochtenen Entscheidung diesen Beschluß. Es erklärte die Erhebung des ordentlichen Revisionsrekurses für zulässig. Ein im Sinne des Art 3 des HKÜ "widerrechtliches Verbringen oder Zurückhalten" liege nur vor, wenn diesem Verhalten eine Sorgerechtsverletzung vorangegangen sei, sohin der nichtentführende Elternteil der tatsächlichen Ausübung seiner Obsorge durch das Verbringen "beraubt" worden sei. Durch die Verklammerung der Voraussetzungen im Abkommenstext werde deutlich, daß beide Voraussetzungen kumulativ vorliegen müßten. Wem das Sorgerecht über den mj. Julian zustehe, sei nach dem Recht des früheren Aufenthaltsortes, sohin nach jenem der Provinz Quebec zu beurteilen. Nach diesem Recht sei der Mutter aufgrund der Entscheidung des zuständigen kanadischen Gerichtes vom 15.12.1995 im Zeitpunkt ihrer Abreise nach Österreich das alleinige Obsorgerecht über den mj. Julian zugestanden. Diese Entscheidung begründe kein Recht des Vaters, den Aufenthaltsort seines Kindes mitzubestimmen. Das im Interesse des Kindes geschützte Rechtsgut nach dem HKÜ sei im vorliegenden Zusammenhang nicht das abstrakte Aufenthaltsrecht im "Ursprungsstaat", aus dem das Kind weggebracht worden sei, sondern ausschließlich das Sorgerecht des durch dieses Verbringen verletzten Elternteiles. Das HKÜ wolle nur ganz bestimmte Rechtspositionen schützen, die durch die Verletzung eines Sorgerechtes des Antragstellers gekennzeichnet seien. Dementsprechend ermächtige die Einräumung eines Besuchsrechtes den betreffenden Elternteil nicht zu einer Antragstellung im Sinne des Abkommens. Auch das vom kanadischen Gericht an die Mutter gerichtete Verbot, die Provinz Quebec zu verlassen, verschaffe dem Vater keine durch das Abkommen geschützte Rechtsposition. Der von der Mutter dagegen begangene Verstoß habe keine Verletzung des väterlichen Sorgerechtes und daher keine Konventionswidrigkeit hervorgerufen. Abzustellen sei auf die Verhältnisse im "Entführungszeitpunkt". Da dem Vater die Obsorge über das Kind erst nach dem Wohnsitzwechsel von Mutter und Kind eingeräumt worden sei, bewirke dies keine Änderung der Rechtslage, die für die Anwendung des HKÜ bedeutsam sein könnte. Eine konventionswidrige Zurückhaltung trete nicht dadurch ein, wenn diese gegen eine spätere gerichtliche Entscheidung verstoße. Aus diesem Grunde erübrige sich auch eine Überprüfung im Sinne des § 13 lit b des HKÜ, ob dem Kind durch eine Rückführung zum Vater eine schwere seelische und körperliche Gefahr drohe.

Rechtliche Beurteilung

Der gegen diese Entscheidung vom Vater erhobene Revisionsrekurs ist nicht berechtigt.

Art 3 des Haager Übereinkommens vom 25.Oktober 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung BGBl 512/1988 lautet: "Das Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes gilt als widerrechtlich, wenn

a) dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das einer Person, Behörde oder sonstigen Stelle allein oder gemeinsam nach dem Recht des Staates zusteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und

b) dieses Recht im Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, falls das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte".

Dem Rekursgericht ist zuzustimmen, daß die Verklammerung dieser Voraussetzungen durch das Wort "und" nur die Auslegung erlaubt, daß beide Voraussetzungen kumulativ vorliegen müssen (vgl. Palandt BGB56 Anhang zu EGBGB Art 24 Rz 65 mwN). Bei der Auslegung des Übereinkommens und daher auch des Begriffes "Sorgerecht" ist ein einheitliches Begriffsverständnis in allen Staaten anzustreben, dabei ist von der Zielsetzung laut Art 1 HKÜ auszugehen (vgl Palandt aaO Rz 61). Danach will das Übereinkommen die tatsächliche Beachtung des in einem Vertragsstaat bestehenden Sorgerechts oder Umgangrechts in allen anderen Vertragsstaaten sicherstellen. Durch einen Aufenthaltswechsel des Kindes soll also die Rechtsstellung des Sorge- oder Umgangsberechtigten nicht verschlechtert werden. Während die Sicherstellung des Sorgerechts in Art 3 HKÜ erfolgt, wird das Recht zum persönlichen Umgang im Art 21 des Übereinkommens behandelt. Letzterer Bestimmung ist jedoch keine Rückführungsmaßnahme gleich jener in Art 3 angeordneten zu entnehmen. Voraussetzung für die Anwendung des Art 3 des Übereinkommens ist daher die Verletzung eines tatsächlich ausgeübten Obsorge- oder Mitobsorgerechtes. Bei einer Trennung der Eltern erfüllt diese Voraussetzung in der Regel nur der Elternteil, bei dem das Kind wohnt, die Ausübung eines bloßen Umgangsrechtes genügt nicht (vgl Palandt aaO Rz 65). Ein Mitobsorgerecht muß zumindest die Befugnis einschließen, den Aufenthaltsort des Kindes mitzubestimmen. Bei der Auslegung des Satzes der einstweiligen Anordnung des kanadischen Gerichtes vom 15.12.1995 "beiden Parteien wird aufgetragen, die Provinz Quebec mit dem Kind nicht zu verlassen", ist dem Rekursgericht darin beizupflichten, daß der Sorgerechtsbegriff des Art 3 HKÜ einer Fixierung bedarf, weil es sonst zu einer unerwünschten uferlosen Anwendung dieses Abkommens für nicht näher konkretisierbare Interessen kommen würde.

In dem der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes vom 5.2.1992, 2 Ob 596/91, zugrundeliegenden Fall war vom englischen Gericht der Mutter untersagt worden, ohne schriftliche Zustimmung des Vaters mit den Kindern in das Ausland zu verreisen. Der Oberste Gerichtshof kam dort zur Auffassung, daß dem Vater durch dieses ihm eingeräumte Zustimmungsrecht eine Mitbestimmung bezüglich des Aufenthalts der Kinder eingeräumt wurde und hat dies folgerichtig als eine Art Mitobsorgeberechtigung gewertet. Eine derartige Folgerung kann aber aus der vom kanadischen Gericht in seiner einstweiligen Anordnung gebrauchten Formulierung nicht gezogen werden. Wenn auch dieses Verbot des kanadischen Gerichtes offensichtlich darauf abzielte, im noch nicht beendeten Sorgerechtsverfahren eine Veränderung der Rechtsposition des Kindes durch ein Verbringen in einen anderen Staat zu verhindern, stellte es nach seinem Wortlaut doch keine Einschränkung der Obsorgeberechtigung der Mutter (durch eine dem Vater eingeräumte Befugnis) im Sinne des Art 3 des HKÜ dar. Das Handeln der Mutter war zwar im Sinne des kanadischen Gerichtsbefehles unerlaubt, nicht aber im Sinne des Art 3 des HKÜ widerrechtlich.

Zutreffend hat das Rekursgericht dargelegt, daß nach einer nicht widerrechtlichen Verbringung des Kindes in einen anderen Staat die im früheren Aufenthaltsstaat ergangene Änderung der Obsorgeentscheidung unmaßgeblich ist, weil das Sorge- oder Mitsorgerecht schon im "Entführungszeitpunkt" bestanden haben muß (vgl Pirrung aaORz 643).

Dem Revisionsrekurs war daher ein Erfolg zu versagen.

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