OGH 3Ob2368/96y

OGH3Ob2368/96y18.12.1996

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Hofmann als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Angst, Dr.Graf, Dr.Pimmer und Dr.Zechner als weitere Richter in der Pflegschaftssache der am ***** geborenen Melanie G*****, infolge außerordentlichen Revisionsrekurses des Vaters Mag.Wolfgang G*****, vertreten durch DDr.Wolfgang Doppelbauer, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluß des Landesgerichtes Salzburg als Rekursgerichtes vom 11.September 1996, GZ 21 R 392/96k-20, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes St.Gilgen vom 22.August 1996, GZ P 16/96t-6, abgeändert wurde, den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluß wird als nichtig aufgehoben. Die Pflegschaftssache wird zur neuerlichen, nach Ergänzung des Verfahrens zu fällenden Entscheidung an das Rekursgericht zurückverwiesen.

Text

Begründung

Die Eltern des am 4.1.1994 geborenen Kindes leben in aufrechter Ehe.

Der Vater des Kindes stellte am 13.8.1996 den Antrag, der Mutter die Obsorge für das Kind vorläufig zu entziehen. Er brachte dazu vor, daß es seit Frühjahr 1994 in der Ehe ständig Schwierigkeiten gebe, die zu Streitigkeiten und Wortwechseln im Beisein des Kindes geführt hätten. Die Mutter habe die Wohnung schon wiederholt mit dem Kind ohne Angabe des Zieles verlassen. Sie habe ihm (dem Vater) gegenüber zugegeben, den Gedanken gehegt zu haben, sich und das Kind umzubringen. Er fürchte daher um das Leben des Kindes. Dieses zeige schon deutliche Symptome einer einwirkenden Aggressivität. Die Mutter sei bei den vorkommenden Tobsuchtsanfällen nicht mehr beeinflußbar und nehme keine Rücksicht auf das Kind. Sie sei in ihrer derzeitigen Verfassung vollkommen unberechenbar.

Der Erstrichter vereinbarte am 14.8.1996 mit dem Vater des Kindes und für dessen Mutter mit einem Rechtsanwalt, dessen Bevollmächtigung jedoch nicht ausgewiesen war, für den 16.8.1996 einen "Besprechungstermin". Die Mutter erschien hiezu nicht. Der Vater ergänzte sein Vorbringen dahin, daß sie am 15.8.1996 heimlich unter Mitnahme des Kindes die eheliche Wohnung verlassen habe und seither unbekannten Aufenthalts sei. Das Kindeswohl sei dadurch, daß die Mutter das Kind völlig abrupt aus seiner gewohnten Umgebung herausgerissen und ihn völlig ausgeschaltet habe, in einem erheblichen Maß gefährdet.

Das Erstgericht entschied ohne Aufnahme von Beweisen, daß die Obsorge für das Kind der Mutter vorläufig entzogen wird, daß die Mutter verpflichtet ist, es dem Vater sofort in dessen Obsorge zu übergeben, und daß die angeordnete vorläufige Maßnahme bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Zuteilung der Obsorge gilt. Es ging dabei vom Vorbringen des Vaters aus und war rechtlich der Meinung, daß die Mutter das Wohl des Kindes gefährde, weil sie es aus der gewohnten Umgebung und besonders vom Vater wegreiße und es häufig zu wörtlichen und tätlichen Auseinandersetzungen zwischen den Eltern komme. Im Rahmen des § 176 ABGB könne auch eine vorläufige Maßnahme getroffen werden, wenn dies zur Beseitigung einer akuten Gefährdung des Kindes geboten sei. In diesem Fall sei eine Entscheidung auch ohne Anhörung einer Partei zulässig. Die Mutter habe sich dadurch um ihr Recht gebracht, angehört zu werden, daß sie zur "Besprechung" am 16.8.1996 nicht erschienen sei, und sie habe nicht angehört werden können, weil nicht bekannt sei, wo sie sich aufhalte. Die vorläufige Entziehung der Obsorge sei erforderlich, weil durch die Belassung des Kindes im Bereich der Mutter eine offenkundige Gefährdung seines Wohles nicht auszuschließen sei.

Nach Erlassung dieses Beschlusses des Erstgerichtes langte bei diesem eine mit 27.8.1996 datierte Bestätigung eines Facharztes für Neurologie und Psychiatrie ein, wonach die Mutter des Kindes unter dem Streß eines schweren Partnerschaftskonflikts und des Entzuges der Obsorge für ihr Kind stehe, jedoch keine psychische Krankheit und keine Suizidalität bestehe.

Das Rekursgericht wies infolge Rekurses der Mutter den Antrag des Vaters, ihr die Obsorge vorläufig zu entziehen, ab und sprach aus, daß der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei. Die vom Vater angegebenen und von der Mutter bestrittenen Tobsuchtsanfälle seien nicht hinreichend substantiiert, um eine (wenn auch nur vorübergehende) Entziehung der Obsorge zu rechtfertigen. Die Voraussetzungen des § 176 ABGB seien auch nicht deshalb erfüllt, weil die Mutter zusammen mit dem Kind die eheliche Wohnung für einige Tage verlassen habe. Zu berücksichtigen sei nämlich, daß die Mutter im Hinblick auf § 146 b ABGB grundsätzlich als ebenfalls Obsorgeberechtigte den Aufenthalt des Kindes bestimmen habe können. Darüber hinaus könne dem Akt auch nicht entnommen werden, daß sie in den Tagen ihrer Abwesenheit das Wohl des Kindes durch mangelnde Betreuung gefährdet habe. Auch die Behauptung, die Mutter habe gegenüber dem Vater erklärt, sie könnte sich gemeinsam mit dem Kind umbringen, sei zu wenig "verifiziert" und es könne eine gutachtliche ärztliche Äußerung vom 27.8.1996, wonach die Mutter an keiner psychischen Krankheit leide und nicht suizidgefährdet sei, nicht gänzlich unberücksichtigt bleiben. Überdies hätten die Eltern am 2.9.1996 eine ausführliche und umfängliche "Besuchsrechtsregelung" zugunsten der Mutter getroffen, die unzulässig gewesen wäre, wenn sich die Mutter tatsächlich mit dem Kind umbringen wolle. Der Vater habe daher insgesamt keine hinreichenden Gründe vorbringen können, die es notwendig erscheinen ließen, der Mutter die Obsorge nach § 176 Abs 1 ABGB zu entziehen.

Rechtliche Beurteilung

Der vom Vater gegen diesen Beschluß des Rekursgerichtes erhobene außerordentliche Revisionsrekurs ist entgegen dem Ausspruch des Rekursgerichtes im Interesse der Rechtssicherheit zulässig, weil dem Rekursgericht eine Nichtigkeit unterlaufen ist (vgl RZ 1994/45 mwN). Er ist auch berechtigt.

Gefährden die Eltern durch ihr Verhalten das Wohl des minderjährigen Kindes, so hat das Gericht gemäß § 176 Abs 1 ABGB, von wem immer es angerufen wird, die zur Sicherung des Wohles des Kindes nötigen Verfügungen zu treffen. Dabei kann das Gericht bis zur endgültigen Entscheidung nach § 176 ABGB auch vorläufige dringende Maßnahmen treffen. Voraussetzung hiefür ist, daß die Belassung des Kindes in der bisherigen Umgebung eine solche Gefährdung für das Kind mit sich bringt, daß Sofortmaßnahmen in Form einer Änderung des bestehenden Zustands dringend geboten erscheinen (RZ 1992/7 mwN). Dabei muß es sich um einen Fall akuter Gefährdung des Kindes handeln (1 Ob 602/91).

Diese akute Gefährdung kann nach dem Vorbringen des Vaters des Kindes vor allem in der Äußerung der Mutter, sie könnte das Kind und sich selbst umbringen, erblickt werden. Das Rekursgericht hat sich bei seiner Annahme, daß diese Gefahr nicht gegeben sei, auf eine nach Erlassung des erstgerichtlichen Beschlusses eingelangte ärztliche Bestätigung gestützt, ohne deren Inhalt dem Vater zur Kenntnis zu bringen und ihm Gelegenheit zur Stellungsnahme zu geben. Der Oberste Gerichtshof hat für einen vergleichbaren Fall unter Berufung auf Art 6 Abs 1 MRK die Meinung vertreten, daß den Parteien auch im Verfahren außer Streitsachen die Möglichkeit gegeben werde müsse, zu für sie nachteiligen Beweisergebnissen Stellung zu nehmen, und hat in der Verletzung dieses Grundsatzes eine Nullität im Sinn des § 16 Abs 1 AußStrG in der damals geltenden Fassung erblickt (SZ 54/124). Eine ähnliche Auffassung ergibt sich aus späteren Entscheidungen und dem Schrifttum (EF 70.384; 58.465; Klicka/Oberhammer, Außerstreitverfahren Rz 59; König, ZfRV 1974, 211).

Da somit das Rekursverfahren an einer - im Revisionsrekurs im übrigen geltend gemachten - Nichtigkeit leidet, mußte die angefochtene Entscheidung aufgehoben werden.

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