OGH 2Ob23/95

OGH2Ob23/9528.11.1996

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Melber als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Graf, Dr.Schinko, Dr.Tittel und Dr.Baumann als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei S***** Gesellschaft mbH, ***** vertreten durch Dr.Johann Mayerhofer und Dr.Herbert Handl, Rechtsanwälte in Wiener Neustadt, wider die beklagten Parteien 1. Maria H*****, 2. Ing.Herbert H*****, 3. E***** Versicherungs AG, ***** alle vertreten durch Dr.Peter Eigenthaler, Rechtsanwalt in Lilienfeld, wegen S 63.288 sA, infolge Revision der beklagten Parteien gegen das Urteil des Landesgerichtes Wiener Neustadt als Berufungsgerichtes vom 7.Dezember 1994, GZ R 498/94-17, womit das Urteil des Bezirksgerichtes Pottenstein vom 22.Juni 1994, GZ 2 C 1668/93y-11, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird teilweise Folge gegeben.

Die Entscheidung des Erstgerichtes wird wiederhergestellt.

Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei die mit S 461,45 bestimmten Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 15.3.1983 ereignete sich in Pottenstein ein Verkehrsunfall, an dem ein von Ing.Josef S***** gelenkter PKW und die Erstbeklagte mit einem dem Zweitbeklagten gehörenden und bei der drittbeklagten Partei haftpflichtversicherten PKW beteiligt waren. Die klagende Partei begehrt Zahlung von S 63.288 sA mit der Begründung, Ing.Josef S***** sei auf der S*****gasse gefahren, als ihm kurvenschneidend und auf seiner Fahrbahnhälfte vom H*****weg das Beklagtenfahrzeug entgegengekommen sei. Eine Kollision sei trotz sofortiger Reaktion nicht vermeidbar gewesen.

Die beklagten Parteien beantragten die Abweisung der Klage. Das Alleinverschulden an der Kollision treffe den Lenker des Klagsfahrzeuges. Die Erstbeklagte habe sich im Rechtsvorrang befunden und sei ordnungsgemäß links eingebogen. Ein allfälliges Kurvenschneiden sei nicht von Bedeutung. Ing.S***** habe eine relativ überhöhte Geschwindigkeit eingehalten und verspätet reagiert. Aufrechnungsweise wurde der Schaden der Beklagten in Höhe von S

15.500 eingewendet.

Das Erstgericht stellte die Klagsforderung mit S 31.644, die Gegenforderung mit S 7.750 als zu Recht bestehend fest und verpflichtete die beklagten Parteien zur Bezahlung von S 23.894.

Es ging von nachstehenden Feststellungen aus:

Maria H***** befuhr mit dem PKW ihres Gatten den rund 4,5 m breiten H*****weg im Ortsgebiet von P*****. In diese Straße mündet von links, unter spitzem Winkel, die rund 6 m breite S*****gasse ein, auf der sich Ing.Josef S***** mit dem Fahrzeug der Klägerin näherte. Vor dem Schnittpunkt der beiden Fahrbahnen, in Fahrtrichtung des Ing.S***** gesehen rechts, befindet sich ein Zaun, welcher in dem dem Kreuzungsmittelpunkt nächstgelegenen Bereich eine Höhe von 1,70 m aufweist. Sicht durch den Zaun ist nicht möglich. Im Bereich der Position 5 der Verkehrsunfallsskizze befindet sich ein Verkehrsspiegel; über diesen besteht, da beide Straßen über etwa 100 m geradlinig verlaufen, wechselseitige Sicht, wenn sich die Fahrzeuge der Kreuzung auf etwa 100 m genähert haben. Wegen der Verzerrung des Blickfeldes über den Spiegel ist ausschließlich die Annäherung eines Fahrzeuges erkennbar, eine verläßliche Bestimmung der Position des anderen Fahrzeuges und der Fahrgeschwindigkeit ist nicht möglich. Direkte Sicht für Ing.S***** besteht erst dann, wenn sich die Front des anderen Fahrzeuges über die Zaunfluchtlinie hinaus in das Fahrraumprofil der Fahrbahn der S*****gasse bewegt. Im Einmündungsbereich sind keine Verkehrszeichen und keine Bodenmarkierungen angebracht, die gesamte Fläche ist asphaltiert. Im Unfallszeitpunkt waren die Fahrbahnoberflächen trocken, es lag auf der Fahrbahn jedoch Streusplit. An den Fahrbahnrändern befanden sich Schneehaufen.

Maria H***** hielt eine Geschwindigkeit von ca. 10 km/h ein und wollte vom H*****weg in die S*****gasse nach links abbiegen. Sie hielt zum Zaun mit der linken Fahrzeugbegrenzung einen Abstand von ca. 1,5 m ein. Ing.Josef S***** hielt bei Annäherung zu dem rechtsseitigen Schneehaufen einen Abstand von ca. 0,5 m ein. Seine Geschwindigkeit betrug ca. 35 km/h . 13,5 m bzw. 1,45 sek vor der späteren Kollision bemerkte er das andere Fahrzeug und setzte prompt eine Vollbremsung. In diesem Zeitpunkt befand sich die Front des anderen PWKs 4 m vor der Kollisionsstelle. Der Zusammenstoß ereignete sich rund 1,5 m nach der Zaunecke. Die Erstberührung trat zwischen der rechten Fronthälfte des Klagsfahrzeuges und der linken Frontecke des Beklagtenfahrzeuges ein. Der Kollisionswinkel betrug 110o bis

120o. Das Klagsfahrzeug zeichnete eine Bremsspur von maximal 4,2 m ab. Zum Kollisionszeitpunkt fuhr das Klagsfahrzeug mit etwa 20 km/h. Ohne Kollision wäre das Klagsfahrzeug ca. 2 m über die Kollisionsstelle hinausgefahren. Bei genauerer Beobachtung des Verkehrs am H*****weg über den Verkehrsspiegel wäre es für den Lenker des Klagsfahrzeuges möglich gewesen, 3,5 bis 4 sek vor der Kollision die beginnende Änderung der Fahrlinie zu bemerken. Es war jedoch nicht erkennbar, daß das Fahrmanöver kurvenschneidend erfolgen würde.

Verlängert man den linken Fahrbahnrand der Fahrbahn des H*****weges bis zur Einmündung der Schlattengasse, so hätte das Klagsfahrzeug bis zum Schnitt der verlängerten Fahrbahnränder eine Strecke von ca. 14,5 m über die Zaunecke hinaus zurücklegen können. Bis zu dieser Stelle hätte das Klagsfahrzeug mit einer Verzögerung von 3 m/sec2 angehalten werden können.

Rechtlich erörterte das Erstgericht, daß die S*****gasse im spitzen Winkel in den H*****weg einmünde. Aufgrund dieses spitzen Winkel entstehe zwischen dem dort befindlichen Zaun und den verlängerten Fahrbahnrändern eine Fläche, die nicht durch Bodenmarkierungen von den gedachten Verlängerungen der Fahrbahnen abgetrennt und in gleicher Art wie die übrige Fläche asphaltiert sei. Diese Fläche sei daher als Teil der Fahrbahn zu behandeln. Die Erstbeklagte habe sich im Rechtsvorrang, der sich auf die gesamte Fahrbahnfläche erstrecke, befunden. Dieser Vorrang sei auch durch kurvenschneidendes Fahren nicht verloren gegangen. Der Lenker des Klagsfahrzeuges habe den Vorrang der Erstbeklagten verletzt, jedoch prompt auf das Auftauchen des anderen Fahrzeuges in seinem Sichtbereich reagiert. Das Kurvenschneiden sei für ihn erst in dem Zeitpunkt erkennbar geworden, als das andere Fahrzeug in den direkten Sichtbereich gelangt sei. Er wäre verpflichtet gewesen, sich dem Kreuzungsbereich in der Form zu nähern, daß er sein Fahrzeug vor der Einmündungslinie anhalten könne. Dies sei ihm wegen der eingehaltenen Geschwindigkeit von 35 km/h nicht möglich gewesen. Auch die Erstbeklagte treffe ein Mitverschulden, weil sie stark kurvenschneidend in einem Abstand von rund 1,5 m von der linken Begrenzung der Fahrbahn abgebogen sei, obwohl keine direkte Sicht auf Fahrzeuge auf der S*****gasse bestanden habe. Sie habe jedoch die Annäherung des Klagsfahrzeuges über ihren Verkehrsspiegel erkennen können und das Kurvenschneiden unterlassen müssen. Beide Lenker treffe ein Verschulden von je 50 %.

Das Berufungsgericht gab der gegen den klagsstattgebenden Teil dieser Entscheidung gerichteten Berufung der beklagten Partei nicht Folge, wohl aber der Berufung der klagenden Partei, und sprach aus, daß die Klagsforderung zu Recht und die Gegenforderung nicht zu Recht bestehe.

Es traf nach Beweiswiederholung nachstehende ergänzende Feststellungen:

Der H*****weg verläuft vor und nach der Kreuzung gerade und in Annäherung der Erstbeklagten ungefähr von Süden nach Norden. Die nördliche Fahrbahnbegrenzung der von Westen in spitzem Winkel einmündenden S*****gasse verläuft ebenfalls bis zum Schnittpunkt mit dem westlichen Fahrbahnrand des H*****weges gerade von Südwesten nach Nordosten. Rund 12 m, ehe die gedachte Verlängerung des südlichen Fahrbahnrandes der S*****gasse die gedachte Verlängerung des westlichen Fahrbahnrandes des H*****weges schneiden würde, knickt der südliche Fahrbahnrand der S*****gasse, der als Zaun beschrieben wurde, unter Einschluß eines Winkels von ca. 117o Richtung Süden ab und trifft dort nach 6,5 m auf den westlichen Fahrbahnrand des H*****weges, mit dem er einen Winkel von ca. 95o einschließt. Die Einmündung der S*****gasse in den H*****weg bildet daher einen einseitigen Trichter, wobei der Trichter an der Einmündungslinie 22 m breit ist. Die gedachte Verlängerung des südlichen Fahrbahnrandes der S*****gasse (vor dem Knick) schneidet die Einmündungslinie etwa in der Mitte derselben, also in einer Entfernung von ca. 11 m vom Schnittpunkt des südlichen Fahrbahnrandes der S*****gasse mit dem südlich der Kreuzung gelegenen westlichen Fahrbahnrand des H*****weges. Der Winkel zwischen H*****weg und S*****gasse beträgt ca. 32o. Gegenüber der Einmündung der S*****gasse befindet sich keine Einmündung in den H*****weg.

Rechtlich erörterte das Berufungsgericht, die S*****gasse münde mit einem seinseitigen Trichter in den H*****weg ein. Die Erstbeklagte treffe jedenfalls ein Mitverschulden, weil sie nach dem Linkseinbiegen in den Trichter zum 6,5 m langen, in west-österlicher Richtung verlaufenden Fahrbahnrand der S*****gasse einen Abstand von ca. 1,5 m eingehalten habe. Sie sei jedenfalls um 7,5 m zu weit links gefahren. Bei ordnungsgemäßem Einbiegen wäre der Unfall unterblieben.

Dem Lenker des Klagsfahrzeuges sei keine Vorrangverletzung anzulasten. Der Vorrang sei immer vor der Kreuzung und nicht auf dieser zu wahren. Unsicher sei nach der Rechtsprechung aber, wo ein Fahrzeuglenker, der sich von einer Straße mit trichterförmiger Einmündung in eine andere Straße bewege, seiner Wartepflicht gegenüber dem bevorrangten Verkehr auf der Querstraße nachzukommen habe. Die veröffentlichte Rechtsprechung zur trichterförmigen Einmündung wiederhole immer wieder die Rechtssätze, daß bei einer solchen Einmündung der Kreuzungsbereich dort beginne, wo die durch die Einmündung bedingte Verbreiterung der Fahrbahn deutlich sichtbar werde, und daß zum Kreuzungsbereich auch die durch den Mündungstrichter umfaßte Fahrbahnfläche gehöre. Gehe man davon aus, daß die im Trichter befindliche Verkehrsfläche zur Kreuzung gehöre, müsse der Benachrangte den Vorrang an der schmalsten Stelle des Trichters wahren. Gehe man aber davon aus, daß der Leitsatz über den Beginn der Kreuzung an der durch die Einmündung bedingten Verbreiterung der bevorrangten Straße beginne und sich nur auf jene Fläche beziehe, die zwischen der Einmündungslinie und dem gegenüberliegenden Fahrbahnrand der bevorrangten Straße (hier des H*****weges) liege, dann wäre der Vorrang der den H*****weg benützenden linksabbiegenden Fahrzeuglenker - unter Bedachtnahme auf das tangentiale Abbiegen - erst ca. 2 m vor der Mitte der Einmündungslinie (= gedachte Verlängerung des Fahrbahnrandes der bevorrangten Straße) zu wahren. Der Lenker des Klagsfahrzeuges habe an der Kollisionsstelle den Vorrang der Erstbeklagten noch nicht zu wahren gehabt.

Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision zu, weil die Rechtsprechung über die Verpflichtung zur Wahrung des Vorranges im Bereich von trichterförmigen Kreuzungen unklar sei, weil nicht unterschieden werde, ob der benachrangte oder bevorrangte die trichterförmig einmündende Straße benütze.

Die beklagten Parteien beantragen in ihrer Revision die gänzliche Abweisung des Klagebegehrens.

Die klagende Partei beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist berechtigt.

§ 2 Abs 1 Z 17 StVO definiert eine Kreuzung als eine Stelle, auf der eine Straße eine andere überschneidet oder in sie einmündet, gleichgültig in welchem Winkel. Der Umfang des Kreuzungsbereiches bestimmt sich nach den Abgrenzungen der Überschneidungen der Straßen, dh der nach § 2 Abs 1 Z 1 StVO für den Fahrzeug- und Fußgängerverkehr bestimmten Landflächen (stRsp zuletzt 2 Ob 25/95). Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes hat ein benachrangter Verkehrsteilnehmer, der auf einer Straße fährt, die trichterförmig in eine andere mündet, den Vorrang des Querverkehrs bereits dort zu wahren, wo die Verbreiterung der Fahrbahn deutlich sichtbar wird (ZVR 1990/155 uva). Das Berufungsgericht teilte diese Rechtsansicht nicht. Im vorliegenden Fall ist es aufgrund der örtlichen Situation nicht erforderlich, die Frage des Vorranges bei einer trichterförmigen Einmündung zu erörtern. Die beiden spitzwinkelig aufeinander treffenden Straßen sind nicht bis zur Spitze des Winkels getrennt ausgestaltet, sondern sind schon vorher ab der Stelle, an der sich der Gartenzaun befindet, miteinander verbunden. Die Winkel zwischen dem Gartenzaun und den beiden Straßen sind nicht sehr unterschiedlich, die Oberflächen der beiden Fahrbahnen und der zwischen ihnen ab dem Gartenzaun bestehenden Fläche sind gleich. Aufgrund dieser besonderen Situation kann diese Fläche keiner der beiden Straßen allein zugeordnet werden, es ist nicht gerechtfertigt, von einem einseitigen Trichter auszugehen. In diesem besonderen Fall ist daher jedenfalls davon auszugehen, daß die Kreuzung bereits beim Gartenzaun beginnt. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichtes ist dem Lenker des Klagsfahrzeuges daher eine Vorrangverletzung anzulasten. Da aber auch das Verschulden der Erstbeklagten schwerwiegend it, ist die vom Erstgericht vorgenommene Verschuldensteilung im Verhältnis von 1 : 1 gerechtfertigt.

Der Revision war daher Folge zu geben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 43 Abs 1, 50 ZPO. Im Berufungsverfahren blieben beide Berufungen erfolglos. Beide Berufungswerber haben dem Gegner die Kosten der Berufungsbeantwortung zu ersetzen. Diese verzeichneten Kosten (S 3.888,20) heben sich daher gegenseitig auf. In der Berufungsverhandlung ist die klagende Partei mit 38 % ihres Anspruches durchgedrungen und hat daher den beklagten Parteien 24 % der Kosten der Berufungsverhandlung zu ersetzen.

Im Revisionsverfahren hat die klagende Partei im selben Prozentsatz obsiegt. Ihrem Anspruch auf anteiligen Ersatz der Barauslagen (38 %

von S 6.620 = S 2.515,60) steht die Verpflichtung zum Ersatz von 24 %

der Kosten der Revisionsbeantwortung (24 % von S 5.601,69 = S

1.344,06) gegenüber. Sie hat daher den beklagten Parteien die im Spruch verzeichneten Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu ersetzen.

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