OGH 3Ob2157/96v

OGH3Ob2157/96v30.10.1996

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Hofmann als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Angst, Dr.Graf, Dr.Pimmer und Dr.Zechner als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj Elisabeth Maria E*****, infolge außerordentlichen Revisionsrekurses der Pflegebefohlenen und ihrer Mutter Maria N*****, beide vertreten durch Dr.Josef Broinger ua, Rechtsanwälte in Eferding, gegen den Beschluß des Landesgerichtes Linz als Rekursgerichtes vom 2. Mai 1996, GZ 13 R 175/96p-128, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Freistadt vom 27.3.1996, GZ P 7/89-125, mit einer Maßgabe bestätigt wurde, den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Revionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Pflegschaftssache wird zur neuerlichen, nach Ergänzung des Verfahrens zu fällenden Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Text

Begründung

Das am 29.5.1983 geborene Mädchen befindet sich in der Obsorge ihrer Mutter.

Der zuständige Jugendwohlfahrtsträger beantragte, die Obsorge für das Kind ganz ihm zu übertragen. Das Kind werde seit Juli 1994 aufgrund einer Meldung des Gemeindeamtes des Wohnortes von einer Familienhelferin und im Rahmen der Nachbarschaftshilfe betreut. Nachdem schon im Sommer 1994 an eine Fremdunterbringung gedacht worden sei, hätte sich die Familiensituation in der Folge - stets gemessen an den "sehr anderen Normen und Werten" - etwas beruhigt und das Kind habe die zweite Klasse eines Bundesgymnasiums positiv abgeschlossen. Seit dem Schulbeginn im Herbst 1995 habe sich die Situation der Minderjährigen jedoch drastisch verändert und es sei ihr Wohl massiv gefährdet. Am 4.12.1995 sei von der Schule die Meldung eingegangen, daß das Kind gesagt habe, sie wolle nicht mehr bei der Mutter leben, weil diese zu wenig Liebe für ihre Tochter zeige. Das Kind habe in der Schule vorgegeben, eine abgebrochene Rasierklinge verschluckt zu haben. Es streune herum und verbringe ihre Nächte auswärts bei meist amtsbekannten älteren Jugendlichen. Von Eltern, deren Kinder mit ihm befreundet seinen, wurden Befürchtungen über Drogenkonsum, sexuelle Verwahrlosung und Suizidgefahr geäußert. Das Angebot einer Erziehungsberatung werde nicht angenommen. Vom Arzt eines Krankenhauses sei telefonisch berichtet worden, daß es zu großen Auseinandersetzungen zwischen dem Kind und seiner Mutter gekommen sei. Das Kind falle durch vorwiegend dunkle Kleidung und intensive Schminke auf und sei auch vorwiegend mit drei bis vier Jahre älteren Jugendlichen unterwegs. Eine Woche lang habe es mit Zustimmung der Mutter ohne Aufsichtsperson in einem Gasthaus genächtigt. Der Vermutung des Sexualmißbrauchs werde von den zuständigen Kriminalbeamten nachgegangen. Die Mutter sei der Meinung, sie und das Kind könnten tun und lassen, was sie für richtig halten. Ihre Tochter könne selbst entscheiden, was für sie gut sei.

Die Mutter des Kindes stimmte der Übertragung der Obsorge an den Jugendwohlfahrtsträger nicht zu.

Das Erstgericht entschied, daß die Obsorge für das Kind gemäß § 176a ABGB ganz dem zuständigen Jugendwohlfahrtsträger übertragen wird. Die weitläufigen Ausführungen der Begründung des Beschlusses bestehen in erster Linie in der Wiedergabe von Beweisergebnissen. In den im Rahmen der rechtlichen Beurteilung der Sache gemachten Ausführungen vertritt das Erstgericht die Meinung, daß eine Gefährdung des Kindeswohles darin liege, daß die Mutter offensichtlich trotz ihrer gesundheitlichen Fortschritte wegen ihrer Alkoholkrankheit nicht in der Lage sei, sich genügend um das Kind zu kümmern. Die Lebenssituation sei für das Kind in letzter Zeit eine Belastung geworden, weil sie einerseits auf die Erziehung durch ihre Mutter wegen deren Alkoholkrankheit weitgehend verzichten müsse und daher viele Dinge, insbesondere im Haushalt, selbständig erledige. Das Fehlen einer weiblichen Bezugsperson müsse zwangsläufig zu Konfliktsituationen führen, aufgrund der auch die schulischen Leistungen litten. Ein weiterer Grund für die Gefährdung des Kindes liege darin, daß es als Ersatz für mangelnde elterliche Aufsicht genügend Geldmittel erhalte, um ein für ein zwölfjähriges Mädchen völlig ungewöhnliches und überdurchschnittliches Leben führen zu können. Es bestehe bei den abendlichen Ausgängen eine eklatante Gefährdung des Mädchens, mit Alkohol oder Drogen in Kontakt zu kommen. Dies werde durch Hinweise und Gerüchte von Lehrern und Sozialarbeitern bestätigt. Es könne auch nicht hingenommen werden, daß die Mutter das Kind eine Woche in einem Gasthaus nächtigen habe lassen und ihr dazu die nötigen Geldmittel zur Verfügung gestellt habe, zumal im selben Zimmer ein fünfzehnjähriges Mädchen und deren etwa sechzehnjähriger Freund genächtigt hätten. Die Kindesmutter mache sich offensichtlich keine großen Sorgen über die sexuelle Entwicklung des Kindes. Der Hinweis auf einen eventuellen Sexualmißbrauch des Kindes, dem noch behördlich und gerichtlich nachgegangen werde, deute auf eine erhöhte Gefährdung der sexuellen Entwicklung hin. Diese Situation müsse durch schnellstmögliche Ausübung der Aufsicht geändert werden. Von Sozialarbeitern, Lehrern, Eltern und Nachbarn seien zahlreiche Behauptungen in den Raum gestellt worden, die nicht alle tatsächlich überprüfbar seien. Wenngleich sie zum Teil auf Gerüchten beruhten, indizierten sie aber jedenfalls die Gefährdung der Minderjährigen, die bei weiterer Entwicklung der Dinge eine erhebliche Schädigung des Kindeswohls mit ziemlicher Sicherheit voraussagen lasse. Nicht zuletzt gäben die beiden Suizidversuche über ihre massiven Probleme Aufschluß, Probleme, die offensichtlich mit der näheren Umgebung, insbesondere mit den Familienangehörigen, im Zusammenhang stünden.

Das Rekursgericht bestätigte infolge Rekurses des Kindes und der Mutter diesen Beschluß des Erstgerichtes mit der Maßgabe, daß es zunächst aussprach, daß der Mutter die Obsorge zur Gänze entzogen wird, und zugleich die Obsorge zur Gänze dem zuständigen Jugendwohlfahrtsträger übertrug. Es sprach aus, daß der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei. Rechtlich war es der Meinung, daß ein wichtiger Grund zur dringenden Entfernung des Kindes beispielsweise in der Alkoholsucht eines Elternteiles liegen könne, daß aber entscheidend sei, ob die Mutter durch ihr Gesamtverhalten die äußerste Notmaßnahme der Entziehung der elterlichen Rechte veranlasse. Es lägen einige Fakten vor, die zeigten, daß die Mutter aus einer Laissez-faire-Einstellung heraus das Kind im wesentlichen tun und machen lasse, was es wolle, ohne ihm einen nötigen Halt und Widerstand zu bieten. Das Kind habe massive Probleme. Das zeige ihr Krankenhausaufenthalt in der Kinderklinik, ferner die Tatsache, daß sie eine Rasierklinge verschluckt habe oder verschlucken habe wollen, und auch ihre schulischen Probleme. Der Umstand, daß das Kind mit Ausnahme von Religion in jedem Fach einen nichtgenügenden Erfolg aufweise, weise daraufhin, daß es dringend einer Hilfe bedürfe. Die Mutter gehe aber nicht in die Schule nachfragen und halte auch keinen Kontakt mit den Lehrern.

Rechtliche Beurteilung

Der vom Kind und seiner Mutter gegen diesen Beschluß dieses Rekursgerichtes erhobene außerordentliche Revisionsrekurs ist entgegen dem Ausspruch des Rekursgerichtes zulässig, weil sich die Entscheidung des Rekursgerichtes mit der zur Übertragung der Obsorge vorhandenen Rechtsprechung nicht vereinbaren läßt; er ist auch berechtigt.

Nach der Rechtsprechung soll den Familienmitgliedern in Entsprechung des Grundsatzes der Familienautonomie die Obsorge solange gewahrt bleiben, als sich dies mit dem Kindeswohl verträgt, weshalb die Beschränkung der Obsorge nur das letzte Mittel sein und nur insoweit angeordnet werden darf, als dies zur Abwendung einer drohenden Gefährdung des Kindes notwendig ist. Von einer solchen Vorkehrung darf das Gericht nur aus schwerwiegenden Gründen Gebrauch machen (EF 71.825, 66.076, 59.792 ua).

Soweit den Entscheidungen der Vorinstanzen überhaupt Tatsachenfeststellungen zu entnehmen sind, reichen sie nicht aus, um beurteilen zu können, ob die angeführten Voraussetzungen für die im § 176a ABGB vorgesehene Übertragung der Obsorge an den Jugendwohlfahrtsträger erfüllt sind. Die Ansicht des Rekursgerichtes, daß durch den Obsorgeberechtigten die Erziehung des Kindes vernachlässigt wird, kann zwar ein Grund für eine solche Übertragung sein, wenn sie ein Ausmaß erreicht, daß hiedurch das Wohl des Kindes gefährdet ist. Nur unter dieser Voraussetzung ist auch der von den Vorinstanzen festgestellte Alkoholmißbrauch durch die Mutter des Kindes geeignet, die Übertragung der Obsorge zu rechtfertigen. Den Entscheidungen der Vorinstanzen ist aber nicht eindeutig zu entnehmen, welches Ausmaß der Alkoholmißbrauch erreicht und inwieweit er die Vernachlässigung des Kindes zur Folge hat. Im Beschluß des Erstgerichtes wird hiezu bloß eine Vermutung angestellt (arg "offensichtlich" auf S. 14 des erstgerichtlichen Beschlusses). Als einziger Umstand, der das Wohl des Kindes gefährdet, steht bisher sein schlechter Schulerfolg fest. Hiezu wurde aber nicht festgestellt, ob er auf die Vernachlässigung der Erziehung zurückgeht oder andere Ursachen hat. Die Gefahr einer sexuellen Fehlentwicklung oder des Drogenmißbrauchs würde zwar ebenfalls eine Gefährdung des Wohls des Kindes bedeuten, auch hiezu liegen jedoch nur Vermutungen vor und es fehlen Feststellungen darüber, daß diese Gefahr bereits konkret gegeben ist. Die bloße Möglichkeit einer sexuellen Fehlentwicklung oder des Drogenmißbrauchs reicht nicht aus, um die Übertragung der Obsorge zu rechtfertigen. Es müssen vielmehr konkrete Umstände dafür vorliegen, daß eine solche Fehlentwicklung oder der Mißbrauch von Drogen zu erwarten ist, wenn das Kind nicht aus seiner bisherigen Umgebung entfernt wird.

Als gewichtigster Punkt für die Gefährdung des Kindeswohles wäre eine Selbstmordgefahr anzusehen. Hiezu hat das Erstgericht aber nur festgestellt, welche Angaben das Kind in diesem Zusammenhang den Ärzten gegenüber gemacht hat. Es ist dem erstgerichtlichen Beschluß aber nicht zu entnehmen, ob das Kind tatsächlich die von ihr gegenüber den Ärzten angegebenen, auf eine Selbstmordabsicht hindeutenden Schritte unternommen hat und ob dies eine konkrete Selbstmordgefahr bedeutet.

Im fortzusetzenden Verfahren wird das Erstgericht daher zu den angeführten Umständen und hier vor allem zur Frage, inwieweit der Alkoholmißbrauch durch die Mutter des Kindes die Erziehung beeinträchtigt, inwieweit die schulischen Mißerfolge andauern und auf eine Vernachlässigung der Erziehung zurückgehen, sowie inwieweit eine konkrete Selbstmordgefahr besteht, welche Ursachen sie hat, vor allem aber, ob das Mädchen bereits Selbstmordversuche unternommen hat (siehe hiezu AS 393, 417), Feststellungen zu treffen haben. Hiezu genügt es nicht, daß Beweisergebnisse wiedergegeben werden, sondern es muß der Entscheidung eindeutig zu entnehmen sein, welche Tatsachen das Gericht aufgrund dieser Beweisergebnisse als erwiesen annimmt.

Zum Zweck der Ergänzung des Verfahrens in die aufgezeigte Richtung mußten die Entscheidungen der Vorinstanzen aufgehoben werden.

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