OGH 1Ob2362/96a

OGH1Ob2362/96a25.10.1996

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr.Schlosser als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr.Schiemer, Dr.Gerstenecker, Dr.Rohrer und Dr.Zechner als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei M***** Aktiengesellschaft, ***** vertreten durch Hügel, Dallmann & Partner, Rechtsanwälte in Mödling, wider die beklagte Partei Gerald A*****, vertreten durch Braunegg, Hoffmann & Partner, Rechtsanwälte in Wien, wegen S 112.053 sA und Feststellung (Streitwert S 400.000), infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgerichts vom 7.Juni 1995, GZ 1 R 89/95-17, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Handelsgerichts Wien vom 20.Juni 1994, GZ 15 Cg 31/94-12, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben; die Rechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Die klagende Partei begehrte vom Beklagten die Zahlung von S 112.053 sA sowie die Feststellung, daß er „zur Klägerin in einem aufrechten Belieferungsverhältnis hinsichtlich Autoschmiermittel und Spezialitäten iSd Jahresschlußabkommens vom 9.5.1990 stehe“ „und bis 31.12.1995 jährlich zu einer Abnahme von ca 7.000 kg Schmiermittel und Spezialitäten der Klägerin verpflichtet“ sei.

Sie brachte hiezu vor, der Beklagte habe als Wiederverkäufer ein entsprechendes unkündbares Abkommen für die Zeit vom 1.7.1990 bis 31.12.1995 geschlossen. Für das Jahr 1990 habe der Beklagte bloß eine Abnahmeverpflichtung von 3.000 kg übernommen, weil er den Geschäftsbetrieb erst am 1.7.1990 aufgenommen habe. Für das ausschließliche Belieferungsrecht im Ausmaß von jährlich 7.000 kg (ab 1991) habe die klagende Partei entsprechende Gegenleistungen erbracht bzw sei sie bereit, solche Leistungen zu erbringen. Dem Beklagten seien für die Dauer des Abkommens verschiedene Geräte und ein Steckschild unentgeltlich zur Verfügung gestellt und verschiedene Rabatte zugesichert worden. Er habe im Jahr 1990 aber nur 2.424 kg Schmiermittel abgenommen; die Nichtabnahme der fehlenden 576 kg habe einen Gewinnentgang der klagenden Partei von S 10.219 zur Folge. 1991 habe der Beklagte überhaupt keine Schmiermittel und Spezialitäten abgenommen, woraus der klagenden Partei ein Gewinn von S 101.834 entgangen sei. Die Abnahmeverpflichtung werde deshalb nicht erfüllt, weil der Beklagte von einem Konkurrenten der klagenden Partei beliefert werde. Der jährliche Bedarf des Beklagten an Autoschmiermitteln und Spezialitäten liege bei 7 bis 10 Tonnen. Der Beklagte weigere sich, seinen Verpflichtungen nachzukommen, weil er der Meinung sei, er sei an das Abkommen nicht gebunden. Demnach bestehe auch ein Interesse der klagenden Partei an der begehrten Feststellung.

Der Beklagte wendete im wesentlichen ein, er stehe zur klagenden Partei nicht in dem behaupteten Belieferungsverhältnis. Er sei trotz Unterfertigung des „Jahresschlußabkommens“ keine Verpflichtung eingegangen, sondern habe lediglich die Absicht geäußert, bestimmte Mengen an Schmiermitteln zu beziehen. Die behauptete Abnahmeverpflichtung verstieße auch gegen § 864a ABGB und gegen die guten Sitten; überdies werde der Liefervertrag wegen Irrtums, Arglist und Verkürzung über die Hälfte angefochten. Das Feststellungsbegehren sei schon deshalb abzuweisen, weil die klagende Partei eine Leistungsklage hätte anstellen können.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren im wesentlichen mit der Begründung ab, der Beklagte sei gegenüber der klagenden Partei die behauptete Abnahmeverpflichtung nicht eingegangen.

Das Gericht zweiter Instanz gab dem Feststellungsbegehren der klagenden Partei statt und sprach mit Zwischenurteil aus, daß die Forderung der klagenden Partei aus dem Titel des entgangenen Gewinns für die Jahre 1990 und 1991 dem Grunde nach zu Recht bestehe; es sprach ferner aus, daß der Wert des Entscheidungsgegenstands zwar S 50.000 übersteige, die ordentliche Revision indessen nicht zulässig sei. Es stellte - nach Beweiswiederholung - fest, daß der Beklagte einem Vertreter der klagenden Partei gegenüber den erwarteten Schmiermittelbedarf mit etwa 7.000 bis 10.000 Liter (7.700 Liter = etwa 7.000 kg) angegeben habe. Daraufhin sei das „Jahresschlußabkommen“ für den Zeitraum von 1990 bis 1995 abgeschlossen worden, mit welchem sich der Beklagte verpflichtet habe, jährlich 7.000 kg Mobil-Autoschmiermittel und Spezialitäten zu bestimmten Bedingungen zu kaufen. Die Gültigkeitsdauer des Übereinkommens sei vom 1.7.1990 bis 31.12.1995 festgelegt worden, verlängere sich jedoch um jeweils ein weiteres Kalenderjahr, sofern nicht von einer der Vertragsparteien eine Auflösung mittels eingeschriebenen Briefes mindestens drei Monate vor dem jeweiligen Jahresende erfolge. Die klagende Partei habe dem Beklagten verschiedene Geräte beigestellt, was in einer „Beilage zum Jahresschlußübereinkommen“ festgehalten worden sei. Die Menge von 7.000 kg Autoschmiermitteln und Spezialitäten stelle nach den Erfahrungen der klagenden Partei den durchschnittlichen Jahresbedarf eines Landmaschinenhändlers dar. Entgegen der Vereinbarung habe der Beklagte im Jahre 1990 nur 2.424 kg Autoschmiermittel und Spezialitäten von der klagenden Partei bezogen. Im Jahre 1991 habe der Beklagte die von ihm benötigten Schmiermittel und Spezialitäten von einem anderen Mineralölunternehmen bezogen, weil ihm dies billiger gekommen sei. Ab dieser Zeit sei er seiner Abnahmeverpflichtung gegenüber der klagenden Partei nicht mehr nachgekommen.

Rechtlich meinte das Gericht zweiter Instanz, das Jahresschlußabkommen vom 9.5.1990 sei wirksam zustandegekommen. Da der Beklagte die Rechtswirksamkeit der Verpflichtung bestreite, habe die klagende Partei auch ein rechtliches Interesse an der Feststellung des aufrechten Bestandes des Jahresschlußabkommens für den gesamten Gültigkeitszeitraum; auch sei ihr Begehren auf Ersatz des durch das vertragswidrige Verhalten des Beklagten entgangenen Gewinns für die Jahre 1990 und 1991 berechtigt. Der Einwand der arglistigen Irreführung, der Verkürzung über die Hälfte des wahren Wertes sowie des Verstoßes gegen die guten Sitten sei nicht nachvollziehbar gewesen. Die Vereinbarung einer bestimmten Abnahmeverpflichtung sei durchaus branchenüblich und stelle keine ungewöhnliche Bestimmung im Sinne des § 864a ABGB dar. Da die Höhe des entgangenen Gewinns allerdings erst zu ermitteln sei, müsse in diesem Umfang ein Zwischenurteil gefällt werden.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision des Beklagten ist zulässig und berechtigt.

Erstmals in seiner Revision moniert der Rechtsmittelwerber, das Berufungsgericht hätte infolge des Eintritts Österreichs in den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) die einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Normen auf den vorliegenden Fall anwenden müssen; Art 85 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (in der Folge kurz EG-V) sei seit 1.1.1994 in Österreich uneingeschränkt anzuwenden. Das Jahresschlußabkommen sei wegen Verstoßes gegen Art 85 Abs 1 EG-V mangels Deckung durch eine Gruppenfreistellungsverordnung im Sinne des Art 85 Abs 3 EG-V zur Gänze nichtig. Ehe die Stichhaltigkeit dieses Vorbringens geprüft wird, ist die verfahrensrechtliche Frage zu lösen, ob dieses Vorbringen nicht dem Neuerungsverbot verfällt:

Ab Inkrafttreten des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) am 1.1.1994 gelten die kartellrechtlichen Bestimmungen des EG-V auch in Österreich; insoweit ist von einem durchgängigen Vorrang des Gemeinschaftsrechts auszugehen. Die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften gelten unmittelbar und sind unabdingbar (Koppensteiner in Schuhmacher, Perspektiven des europäischen Rechts, 122; Gassauer-Fleissner/Benn-Ibler/Krilyszyn, EWG-Recht für Unternehmer, 104). Art 53 des EWR-Abkommens entspricht - soweit das denkbar ist - selbst im Wortlaut Art 85 EG-V. Die in diesem Artikel statuierte Wettbewerbsordnung ist somit seit 1.1.1994 in Österreich uneingeschränkt anzuwenden. Die Verhandlung erster Instanz wurde aber schon vorher - am 22.9.1993 - geschlossen; wenngleich das (vorbehaltene) Urteil des Erstgerichts erst am 20.6.1994 abgefaßt wurde, wären die kartellrechtlichen Normen des Gemeinschaftsrechts zu dem Zeitpunkt, zu dem die Parteien neues Vorbringen spätestens hätten erstatten können, auf die zur Beurteilung anstehende Vereinbarung zwischen den Streitteilen jedenfalls noch nicht anzuwenden gewesen, sodaß sich die Parteien auch noch nicht veranlaßt sehen mußten, entsprechendes, das Gemeinschaftsrecht konkretisierendes Sachvorbringen zu erstatten. Auch das Erstgericht, das im Zeitpunkt der Urteilsabfassung das EWR-Recht an sich bereits anzuwenden verpflichtet gewesen wäre und zu diesem Zweck die Verhandlung gemäß § 194 ZPO auch hätte wiedereröffnen können, fand dazu keine Veranlassung, war es doch bei seiner Entscheidung davon ausgegangen, daß die behauptete Abnahmeverpflichtung nicht erwiesen sei.

Im Berufungsverfahren wurde die Anwendung von Art 53 des EWR-Abkommens von den Parteien nicht releviert; das Gericht zweiter Instanz, das am 17.11.1994 eine Beweiswiederholung durchgeführt hatte und - nachdem das Verfahren zum Ruhen gekommen war - erst am 7.6.1995 seine Entscheidung fällte, hätte allerdings bereits auf die zu diesem Zeitpunkt in Geltung gestandenen gemeinschaftsrechtlichen Normen - namentlich auch Art 85 EG-V und das zu diesem ergangene sekundäre Gemeinschaftsrecht - Bedacht nehmen können, diese aber auch schon berücksichtigen müssen, weil sie zwingendes Recht sind. Änderungen des zwingenden Rechts sind, sofern nicht Übergangsrecht etwas anderes bestimmt, vom Rechtsmittelgericht ohneweiteres von Amts wegen seiner Entscheidung zugrundezulegen, auch wenn der zu beurteilende Sachverhalt bereits vor Inkrafttreten des neuen Rechts verwirklicht wurde (Fasching LB2 Rz 1927). Da das Gericht zweiter Instanz zu eigenständigen Feststellungen gelangte, hätte es sich im Rahmen seiner Verpflichtung zur allseitigen rechtlichen Prüfung auch von Amts wegen mit der Frage befassen müssen, ob und wie weit das neue, aber zwingende (Gemeinschafts-)Recht dem vom Beklagten auch aus dem Grunde der mangelnden Rechtswirksamkeit der Vereinbarung bestrittenen Klagebegehren entgegensteht.

Auf die neuen Rechtsausführungen, die für sich jedenfalls zulässig sind (vgl Ballon, Zivilprozeßrecht5 Rz 346), ist Bedacht zu nehmen, auch wenn das erforderliche Sachsubstrat in erster Instanz nicht vorgebracht wurde, aber mit Rücksicht auf die bei Schluß der Verhandlung erster Instanz maßgebliche Rechtslage auch noch nicht vorgebracht werden mußte. Die Verfahrenslage kann nicht anders beurteilt werden, als wenn das Rechtsmittelgericht die Parteien mit einer Rechtsansicht überraschen würde, auf die die Parteien im Verfahren erster Instanz überhaupt nicht Bedacht genommen haben (vgl etwa MietSlg 34.719/13): Bedarf es deshalb infolge der maßgeblichen Rechtsänderung einer Verfahrensergänzung, so ist die bekämpfte Entscheidung (selbst wenn - was hier nicht zutrifft - die Vorinstanz auf die Rechtsänderung nicht hätte Bedacht nehmen dürfen) aufzuheben; im fortgesetzten Verfahren ist die neue Rechtslage mit den Parteien im Rahmen der materiellen Prozeßleitungspflicht (§ 182 ZPO) zu erörtern und sind diese zur Erstattung entsprechenden Sachvorbringens anzuleiten.

Die neuen Rechtsausführungen in der Revision sind aber nicht nur zulässig, sie erweisen sich auch letztlich als berechtigt:

Nach Art 85 Abs 1 EG-V sind mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar und verboten unter anderem alle Vereinbarungen zwischen Unternehmen, die den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Gemeinsamen Marktes bezwecken oder bewirken. Gemäß Art 85 Abs 2 EG-V sind die nach diesem Artikel verbotenen Vereinbarungen nichtig.

Das „Jahresschlußabkommen“ datiert vom 9.5.1990, also einem Zeitpunkt, in dem Österreich weder Mitglied des EWR sein konnte noch Mitglied der EG war. Gemäß Art 12 des Protokolls 21 über die Durchführung der Wettbewerbsregeln für Unternehmen war das Verbot gemäß Art 53 Abs 1 des EWR-Abkommens (= Art 85 Abs 1 EG-V) auf Vereinbarungen, die bei Inkrafttreten dieses Abkommens bestanden und zu den in dessen Art 53 Abs 1 genannten Gruppen gehören, nach Inkrafttreten des EWR-Abkommens nicht anwendbar, wenn die Vereinbarungen innerhalb von sechs Monaten nach Inkrafttreten des Abkommens derart abgeändert wurden, daß sie nicht mehr unter das Verbot gemäß Art 53 Abs 1 fielen. Art 15a der zufolge Anhang XIV B.3 des EWR-Abkommens auch für die Zwecke dieses Abkommens geltenden (Gruppenfreistellungs-)Verordnung, (EWG) Nr 1984/83, über die Anwendung von Art 85 Abs 3 des Vertrags auf Gruppen von Alleinbezugsvereinbarungen beinhaltet zwar für Vereinbarungen, die zum Zeitpunkt des Beitritts Österreichs bestanden und infolge des Beitritts in den Anwendungsbereich des Art 85 Abs 1 des Vertrags fallen, eine dem Art 12 des Protokolls 21 entsprechende, auf den Zeitpunkt des Beitritts bezogene Regelung, ist aber deshalb auf den vorliegenden Sachverhalt nicht anzuwenden, weil nach seinem zweiten Satz Vereinbarungen, die zum Zeitpunkt des Beitritts Österreichs bereits in den Anwendungsbereich des Art 53 Abs 1 des EWR-Abkommens fielen, von seinem Anwendungsbereich ausdrücklich ausgenommen sind; das ist hier der Fall. Daß das Jahresabschlußabkommen vom 9.5.1990 jemals abgeändert worden wäre, wurde von keiner der beiden Parteien behauptet. Insbesondere liegt auch keine Behauptung dahin vor, daß die Laufzeit des Vertrags geändert worden wäre und sie dabei eine Anpassung an die EWR- bzw gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen erfahren hätte.

Vorweg ist allerdings zu klären, ob Art 53 Abs 1 des EWR-Abkommens bzw Art 85 Abs 1 EG-V auf die hier zu beurteilende Vereinbarung, die schon zum Zeitpunkt des Beitritts Österreichs zum EWR bestand, bei Bedachtnahme auf die Gruppenfreistellung laut Verordnung (EWG) Nr 1984/83 überhaupt anwendbar war bzw ist. Gemäß Art 1 dieser Verordnung wird Art 85 Abs 1 EG-V gemäß dessen Abs 3 unter bestimmten Voraussetzungen auf Vereinbarungen für nicht anwendbar erklärt, an denen nur zwei Unternehmen beteiligt sind - was hier der Fall ist - und in denen sich ein Vertragspartner, der Wiederverkäufer, gegenüber dem anderen Vertragspartner, dem Lieferanten, verpflichtet, zum Zwecke des Weiterverkaufs bestimmte im Vertrag genannte Waren nur von diesem zu beziehen. Art 1 der genannten Gruppenfreistellungsverordnung ist aber gemäß deren Art 3 lit d dann nicht anwendbar, wenn die Vereinbarung für einen unbestimmten oder für einen Zeitraum von mehr als fünf Jahren geschlossen wird. In der Bekanntmachung der Kommission zu den Verordnungen Nr 1983/83 und Nr 1984/83, veröffentlicht im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften (ABL) Nr C 101/2 wird in Z 39 ausdrücklich festgehalten, daß Verträge, die eine feste Laufzeit vorsehen, die sich aber automatisch verlängern, falls keine Kündigung ausgesprochen wird, als auf unbestimmte Zeit geschlossen anzusehen sind. Wenngleich diese Ansicht im Schrifttum (Gleiss/Hirsch, Kommentar zum EG-Kartellrecht4, I Rz 1485) kritisiert wurde, hat sich der Europäische Gerichtshof (EuGH) dieser Ansicht angeschlossen (EuGH Slg 1995, 1533 [1537]; EuGH Slg 1995, 1611 [1613]). Der hier zur Beurteilung anstehende Vertrag zwischen den Streiteilen wurde zwar für die Zeit vom 1.7.1990 bis 31.12.1995 abgeschlossen, doch verlängert sich das Übereinkommen jeweils um ein weiteres Kalenderjahr, sofern nicht von einer der Vertragsparteien eine „Auflösung“ erfolgt. Der Vertrag ist nach dieser Judikatur als für einen unbestimmten Zeitraum geschlossen anzusehen, und schon aus diesem Grund ist die Gruppenfreistellungsverordnung Nr 1984/83 auf ihn nicht anwendbar. Deshalb erübrigen sich Ausführungen zur Frage, ob die besonderen Vorschriften für Tankstellenverträge gemäß Art 10 der Gruppenfreistellungsverordnung Nr 1984/83 anzuwenden seien, weil sich der Beklagte nicht zum Bezug bestimmter Kraftstoffe, sondern zum Kauf von Schmiermitteln bzw Spezialitäten verpflichtete (vgl auch Gleiss/Hirsch aaO Rz 1460 f).

Mangels eines entsprechenden Sachvorbringens zu der erst nach Schluß der Verhandlung erster Instanz eingetretenen Änderung der Rechtslage kann noch nicht beurteilt werden, ob die Vereinbarung vom 9.5.1990 nach Art 85 Abs 1 EG-V verboten und daher nach dessen Abs 2 nichtig ist:

Art 85 EG-V ist auf eine Maßnahme nur dann anzuwenden, wenn diese den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigt oder zu beeinträchtigen geeignet ist („Zwischenstaatlichkeitsklausel“). Bei der Frage, ob der Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigt werden kann, kommt es auf die Wirkung dieser Maßnahme an. Der zwischenstaatliche Handel kann daher auch beeinträchtigt werden, wenn alle vertragsschließenden Parteien ihren Sitz in demselben Mitgliedstaat haben. Wird allerdings nur der Handelsverkehr innerhalb eines Mitgliedstaats beeinträchtigt, ist Art 85 EG-V nicht anwendbar. In diesen Fällen bleibt der innerstaatliche Gesetzgeber zuständig; das Recht der Gemeinschaft verdrängt dann das innerstaatliche Recht nicht. Die in Art 85 EG-V vorgesehenen Rechtsfolgen setzen im Einzelfall nicht den Nachweis voraus, daß die verpönte Maßnahme den Handel zwischen Mitgliedstaaten tatsächlich beeinträchtigt hat; es genügt vielmehr, daß diese Vorkehrung geeignet ist, eine derartige Wirkung zu entfalten. Eine Beeinträchtigung bzw die Eignung zu einer Beeinträchtigung ist dann anzunehmen, wenn sich anhand einer Gesamtheit objektiver rechtlicher oder tatsächlicher Umstände mit hinreichender Wahrscheinlichkeit voraussehen läßt, daß die Maßnahme den Warenverkehr zwischen Mitgliedstaaten unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell beeinflussen und dadurch der Errichtung eines einheitlichen Marktes zwischen den Mitgliedstaaten hinderlich sein kann. Nicht kommt es darauf an, ob dieser Markt tatsächlich negativ beeinflußt wird. Entscheidend ist vielmehr, ob sich die Warenströme durch die Maßnahme anders entwickeln oder entwickeln können, als das ohne diese Maßnahme der Fall wäre (Gassauer-Fleissner/Benn-Ibler/Krilyszyn aaO 104 ff; Schollmeier in Bleckmann, Europarecht5 Rz 1268 ff; Koch in Grabitz/Hilf, Kommentar zur Europäischen Union, Art 85 EG-V Rz 88 ff; Schröter in von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, Kommentar zum EWG-Vertrag4, Art 85 Rz 141, 146; Müller-Graff in Hailbronner/Klein/Magiura/Müller-Graff, Handkommentar zum EU-Vertrag, Art 85 Rz 112).

Um festzustellen, ob Alleinbezugsverträge vom Verbot des Art 85 Abs 1 EG-V erfaßt werden, ist zu prüfen, ob sich aus der Gesamtheit aller auf dem relevanten Markt bestehenden gleichartigen Vereinbarungen und aus den übrigen wirtschaftlichen und rechtlichen Begleitumständen der fraglichen Verträge ergibt, daß diese die kumulative Wirkung haben, neuen inländischen und ausländischen Wettbewerbern den Zugang zu diesem Markt zu verschließen. Ist das nicht der Fall, können die einzelnen Verträge, aus denen das Bündel der Vereinbarungen besteht, den Wettbewerb nicht im Sinne des genannten Artikels beschränken. Ist der Markt hingegen schwer zugänglich, muß freilich auch noch geprüft werden, wie weit die streitigen Vereinbarungen zu der kumulativen Wirkung beitragen; dabei sind nur solche Verträge verboten, die zu einer etwaigen Abschottung des Marktes in erheblichem Maß beitragen. Bei der Beurteilung des Einflusses der Netze von Ausschließlichkeitsverträgen auf den Marktzugang sind das Verhältnis zwischen der Zahl der vertraglich an die Erzeuger gebundenen Verkaufsstätten und der Zahl der nicht gebundenen Händler, die durch die eingegangenen Verpflichtungen erfaßten Mengen und das Verhältnis zwischen diesen Mengen und denjenigen, die über nicht gebundene Händler abgesetzt werden, sowie die Tatsache zu berücksichtigen, daß der Bindungsgrad, der sich aus solchen Netzen ergibt, zwar von gewisser Bedeutung ist, aber nur einen von mehreren Faktoren des wirtschaftlichen und rechtlichen Zusammenhangs bildet, in dem die Beurteilung vorzunehmen ist. Eine Vereinbarung zwischen Unternehmen kann - wie übrigens schon weiter oben dargelegt - nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs den Handel zwischen Mitgliedstaaten im Sinne von Art 85 Abs 1 EG-V nur beeinträchtigen, wenn sich anhand einer Gesamtheit objektiver rechtlicher oder tatsächlicher Umstände mit hinreichender Wahrscheinlichkeit voraussehen läßt, daß sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell in einer die Verwirklichung eines einheitlichen Marktes zwischen den Mitgliedstaaten behindernden Weise beeinflussen kann (EuGH Slg 1995, 1533 [1536]; EuGH Slg 1995, 1611 [1612 f]; vgl auch EuGH Slg 1991, 935, EuGH Slg 1980, 2511; EuGH Slg 1967, 543; Koch aaO Rz 88 und 91).

Die Wettbewerbsbeschränkung und die Handelsbeeinträchtigung müssen, um vom Kartellverbot erfaßt zu sein, aber auch spürbar sein. Der Europäische Gerichtshof prüft die Wettbewerbsbeschränkung, die Handelsbeeinträchtigung und die Spürbarkeit in dem wirtschaftlichen und rechtlichen Gesamtzusammenhang der Vereinbarung, ihrer Zwecke und Wirkungen, insbesondere unter Berücksichtigung des kumulativen Effekts etwa bestehender Parallelverträge. Ist der Markteinfluß mit Rücksicht auf die schwache Marktstellung der Beteiligten nur geringfügig, fällt die Vereinbarung nicht unter die Vorschrift des Art 85 Abs 1 EG-V. Spürbarkeitskriterien sind der Marktanteil, die Marktstellung, die finanziellen Ressourcen und der Umfang der Produktion der beteiligten Unternehmen sowie der Umfang der betroffenen Handelsströme. Im Interesse der Rechtssicherheit der Unternehmen hat die Kommission den Spürbarkeitsbegriff durch eine Bekanntmachung (in dritter Fassung) vom 3.9.1986 („Bagatellbekanntmachung“, ABl C 231) konkretisiert. Danach fallen Vereinbarungen nicht unter das Verbot des Art 85 Abs 1 EG-V, wenn die Waren oder Dienstleistungen, die Gegenstand der Vereinbarung sind, und die sonstigen Waren und Dienstleistungen der beteiligten Unternehmen, die vom Verbraucher aufgrund ihrer Eigenschaften, ihrer Preislage und ihres Verwendungszwecks als gleichartig angesehen werden, in einem wesentlichen Gebiet des Gemeinsamen Marktes, auf das sich die Vereinbarung auswirkt, nicht mehr als 5 % des Marktes sämtlicher dieser Waren oder Dienstleistungen ausmachen und der jährliche Gesamtumsatz der beteiligten Unternehmen innerhalb eines Geschäftsjahres 200 Mio Ecu nicht überschreitet (Koch aaO Rz 97 ff; Schröter aaO Rz 152 ff; Thinam Jakob-Siebert in von der Groeben/Thiesing/Ehlermann Rz 263 ff; Müller-Graff aaO Rz 116; Kirchhoff in WuW 1995, 361; vgl auch Entzian in EWS 1996, 342 ff; Schollmeier in Bleckmann aaO Rz 1330, 1354).

Anhand dieser Kriterien - vor allem also danach, ob der Vereinbarung im Verein mit dem Netz weiterer Ausschließlichkeitsverträge die Eignung beizumessen ist, den zwischenstaatlichen Handel zu beeinträchtigen, und ob die damit verbundene Wettbewerbsbeschränkung die weiter oben umschriebene Spürbarkeitsschwelle überschreitet, - ist zu prüfen, ob die Vereinbarung zwischen den Streitteilen vom 9.5.1990 den Sanktionen des Art 85 EG-V unterfällt. Um diese Fragen verläßlich beurteilen zu können, bedarf es eines ausreichenden Sachsubstrats. Im fortgesetzten Verfahren wird das Erstgericht die durch das Gemeinschaftsrecht bestimmte Rechtslage mit den Parteien eingehend zu erörtern und die Parteien zu entsprechenden Tatsachenbehauptungen und Beweisanboten zu bestimmen haben. Erst aufgrund der danach gewonnenen Sachverhaltsgrundlage wird verläßlich beurteilt werden können, ob und wie weit die Abnahmeverpflichtung des Beklagten vom Kartellverbot des Art 85 EG-V betroffen ist.

Für den Streitausgang kann es aber auch bedeutsam sein, ob die von den Streitteilen über die Abnahme von Schmiermitteln und Spezialitäten getroffene Vereinbarung eine ausschließliche Bezugspflicht des Beklagten begründete: Die Beantwortung dieser Frage ist nicht bloß deshalb von Bedeutung, weil die Gruppenfreistellung nach der Verordnung Nr 1984/83 nur eingreift, wenn sich der Wiederverkäufer zur ausschließlichen Deckung seines Gesamtbedarfs beim Lieferanten verpflichtet (Thinam Jakob-Siebert aaO Rz 269; Gleiss/Hirsch aaO Rz 1477), sondern sie kann auch insofern streitentscheidend sein, als Art 85 Abs 1 EG-V nicht anzuwenden ist, wenn die vereinbarten Abnahmemengen ohnedies unter dem tatsächlichen Bedarf des Wiederverkäufers an solchen Waren lägen (Thinam Jakob-Siebert aaO Rz 274).

Ohne Klärung der Sachverhaltsgrundlage läßt sich auch noch nicht beurteilen, ob das nationale Gericht unmittelbar zur Entscheidung berufen ist oder ob gemäß Art 177 EG-V eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs im Weg einer Vorabentscheidung einzuholen sein wird. Es muß daher derzeit auch noch nicht zur Frage Stellung genommen werden, ob eine etwaige Nichtigkeit den gesamten Vertrag oder - im Sinn einer zeitliche Schranke durch das Inkrafttreten des EWR-Abkommens zum 1.1.1994 - nur Teile des Bezugsvertrags erfaßte (vgl dazu EuGH Slg 1991, 935; EuGH Slg 1983, 4173 [4185]; EuGH Slg 1966, 281 [284]; EuGH Slg 1966, 321 [392]; Gleiss/Hirsch aaO Rz 1711 f; Koch aaO Rz 142 f; Grill in Lenz, Kommentar zum EG-Vertrag, Art 85 Rz 35; Kirchhoff aaO 368).

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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