Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben; die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten erster Instanz.
Text
Begründung
Die am 2.9.1944 geborene Klägerin hat zwar den Beruf einer Modistin erlernt, war jedoch in den letzten Jahren ausschließlich als Serviererin tätig. Es besteht bei ihr ein neurasthenisch depressiver Verstimmungszustand mit vegetativer Labilität und Konversion. Sie ist nur mehr imstande, leichte und mittelschwere Arbeiten in der üblichen Arbeitszeit samt Pausen zu verrichten. Auszuschließen sind Arbeiten unter dauerndem besonderem Zeitdruck (Band- und Akkordarbeiten) sowie Arbeiten an erhöht exponierten Stellen (auf Leitern und Gerüsten). Arbeiten unter durchschnittlichem Zeitdruck ist der Klägerin möglich. Sie ist unterweisbar und kann eingeordnet werden. Die Fingerfertigkeit ist erhalten. Das Zurücklegen von Anmarschwegen ist gewährleistet.
Folgende Verweisungstätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sind ihr beispielsweise möglich:
Tischarbeiten (in Form von Sortier- und Verpackungstätigkeiten oder Berufstätigkeiten im Rahmen der unqualifizierten Fertigungsprüfung). Es werden diverse Erzeugnisse händisch sortiert, fehlerhafte Erzeugnisse werden ausgeschieden. Mitunter sind Erzeugnisse auch in bereits vorbereiteten Kartons und Schachteln einzuschlichten. Im Rahmen der unqualifizierten Fertigungsprüfung sind diverse Werkstücke und Erzeugnisse durch optische Überprüfung auf grobe Fehlerhaftigkeit zu untersuchen und schadhafte Produkte auszuscheiden. Hiebei handelt es sich jeweils um Arbeiten mitunter leichter körperlicher Belastung im Sitzen und in geschlossenen Räumen. Eine durchschnittliche Mengenleistung reicht aus. Diese Verweisungstätigkeiten kommen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in ausreichender Anzahl vor.
Aufgrund dieser Feststellungen wies das Erstgericht das auf Gewährung der Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab dem 1.4.1994 gerichtete Klagebegehren ab. Es ging davon aus, daß der Klägerin kein Berufsschutz im Sinne des § 255 Abs 1 oder 2 ASVG zukomme. Ihre Invalidität sei vielmehr nach Abs 3 dieser Gesetzesstelle zu beurteilen; da ihr trotz des vorhandenen Leidenszustandes, der im übrigen auch durchaus behandelbar wäre, eine Reihe von Verweisungsberufen offenstünde, könne Invalidität nicht angenommen werden.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Es übernahm die Feststellungen des Erstgerichtes und auch dessen rechtliche Beurteilung. Auch wenn die Klägerin den Beruf einer Modistin erlernt habe, habe sie diesen doch während der letzten 15 Jahre vor Antragstellung nicht ausgeübt, sodaß sie keinen Berufsschutz hiefür beanspruchen könne.
Rechtliche Beurteilung
Die von der beklagten Partei nicht beantwortete Revision der Klägerin ist gemäß § 46 Abs 3 Z 3 ASGG auch ohne die Voraussetzungen nach Abs 1 zulässig und im Sinne des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrages auch berechtigt.
1.) Der Revisionsgrund der Mangelhaftigkeit des Verfahrens liegt nicht vor (§ 510 Abs 3 Satz 3 ZPO). Bereits das Berufungsgericht hat die aus der Nichtdurchführung der Parteienvernehmung der Klägerin sowie Unterlassung einer Gutachtensergänzung des Sachverständigen Dr.H***** abgeleiteten Verfahrensmängel verworfen, sodaß diese nach ständiger Rechtsprechung nicht nochmals in der Revision mit Erfolg wiederholt werden können (ausführlich SSV-NF 7/74, RZ 1989/16). Soweit Feststellungsmängel über die Schwere ihrer neurotischen Erkrankung gerügt werden, sind diese der Rechtsrüge zuzuordnen (§ 84 Abs 2 ZPO).
2.) Die Sache ist jedoch aus rechtlichen Erwägungen in mehrfacher Hinsicht noch nicht spruchreif. Zunächst kann tatsächlich nicht beurteilt werden, ob die Klägerin Berufsschutz zwar nicht als Modistin, jedoch als Serviererin genießt, weil der Inhalt ihrer Berufstätigkeit völlig ungeprüft blieb. Die Feststellung, daß sie als solche tätig war, sagt nämlich über Art, Umfang und Dauer ihres Aufgabenbereiches zu wenig aus. Die Klärung der Frage, ob ein Versicherter Berufsschutz genießt, ist aber in allen Fällen, in denen - ausgehend vom Bestehen eines Berufsschutzes - die Verweisbarkeit in Frage gestellt ist, unabdingbare Entscheidungsvoraussetzung. Da nach dem spärlichen Prozeßvorbringen hierüber keine Klarheit besteht und nach der Aktenlage nicht ohne weiteres der Schluß gezogen werden kann, daß die Klägerin bloß als einfache Hilfsarbeiterin tätig war, hat das Gericht aufgrund der Bestimmung des § 87 Abs 1 ASGG diese Frage von amtswegen zu überprüfen und hierüber Feststellungen zu treffen. Nur dann, wenn nach der Aktenlage jeglicher Anhaltspunkt dafür fehlt, daß ein Versicherter eine angelernte Tätigkeit ausgeübt hat, bedarf es keiner weiteren Erhebungen und Feststellungen über die genaue Art der von ihm verrichteten Tätigkeiten (SSV-NF 4/119, 8/21).
3.) In der Entscheidung SSV-NF 4/166 wurde einer Versicherten, die im Beobachtungszeitraum über- wiegend als Serviererin in einer Imbißstube beschäftigt war, in der Würstel, Pommes frites, Grillkoteletts und gegrillte Hühner angeboten wurden, der Berufsschutz als angelernte Kellnerin versagt, weil dabei keine Kenntnisse und Fähigkeiten in jenem Ausmaß zum Tragen gekommen seien, die hiefür üblicherweise von gelernten Arbeitern dieser Berufsgruppe erwartet werden. In der Entscheidung SSV-NF 8/21 wurde einer Versicherten, die innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag überwiegend als Serviererin im Gastgewerbe, daneben aber auch als selbständige Gastwirtin und als Hilfskraft in einer Rechtsanwaltskanzlei tätig gewesen war, der Berufsschutz - entgegen der Ansicht der Vorinstanzen - nicht von vorneherein abgesprochen; vielmehr wurde über Revision der Klägerin die Sozialrechtssache unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen, da nach den bisherigen Feststellungen nicht beurteilt werden konnte, ob die Pensionswerberin lediglich derartige einfache Serviertätigkeiten (wie im Falle der Entscheidung SSV-NF 4/166) oder aber wesentliche Teiltätigkeiten des Kellnerinnenberufes verrichtet hatte. Eben dies blieb auch im vorliegenden Fall von den Vorinstanzen unerhoben, sodaß auch hier ausreichende Feststellungen zum tatsächlichen Tätigkeits- und Aufgabenbereich der Klägerin im maßgeblichen Zeitraum fehlen (siehe auch jüngst infas 1996/S 32 ebenfalls betreffend den Berufsschutz als angelernte Kellnerin).
4.) Aber auch die Anforderungen in den Verweisungsberufen wurden nicht ausreichend festgestellt. Aufgrund welcher Beweisergebnisse das Erstgericht zu den angenommenen Verweisungstätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gelangte, ist nicht nachvollziehbar. Diesbezüglich fehlt auch eine Begründung im Rahmen der kursorischen Beweiswürdigung des Ersturteils (AS 45). Daß diese auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt "in ausreichender Anzahl" vorkämen, hat der Oberste Gerichtshof bereits in seiner Entscheidung SSV-NF 7/6 mit ausführlicher Begründung dann als nicht genügend qualifiziert, wenn es sich um - wie hier - nicht offenkundige (notorische) Verweisungsberufe handelt. In einem solchen Fall ist vielmehr die Zahl dieser Arbeitsplätze zumindest näherungsweise festzustellen. Erreicht die Zahl der Arbeitsplätze in den Verweisungsberufen nicht zumindest 100 Arbeitsstellen in Österreich, kann nicht vom Bestehen eines Arbeitsmarktes ausgegangen werden (SSV-NF 6/4 ebenfalls im Falle einer Kellnerin).
6.) Da die genannten Fragen nicht erörtert und die erforderlichen Feststellungen nicht getroffen wurden, kann noch nicht beurteilt werden, ob die Klägerin Berufsschutz genießt und welche Verweisungstätigkeiten für sie in Frage kommen. Wegen dieser aufgezeigten Feststellungsmängel waren die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Sozialrechtssache zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen.
Der Vorbehalt der Entscheidung über den Ersatz der Kosten des Berufungsverfahrens und der Revision beruht auf § 2 Abs 1 ASGG iVm § 52 Abs 1 ZPO.
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