European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1996:E42536
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die angefochtene Berufungsentscheidung wird dahin abgeändert, daß das erstgerichtliche Urteil wiederhergestellt wird.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit S 8.886,60 (darin S 1.481,10 Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens und die mit S 23.915 (darin S 1.777,50 Umsatzsteuer und S 13.250 Barauslagen) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
Am 6.10.1990 ereignete sich in Wien auf dem Schwarzenbergplatz (auf Höhe der Nr 7 im Bereich der Zaunergasse) ein Verkehrsunfall, an dem Renate P* als Lenkerin ihres bei der Klägerin haftpflichtversicherten PKW Marke Nissan Cherry sowie Klemens D* als Lenker seines bei der Beklagten haftpflichtversicherten Motorrades der Marke Kawasaki beteiligt waren. Die auf dem Beifahrersitz des Motorrades mitfahrende Sonja B* wurde bei dem Unfall verletzt. Aufgrund des Unfalls erbrachte die Klägerin Zahlungen in der Höhe von insgesamt S 394.881.
Mit dem Vorbringen, den Motorradlenker treffe ein 50 %iges Mitverschulden an dem Unfall, begehrte die Klägerin von der Beklagten den Ersatz von 50 % der von ihr erbrachten Entschädigungsleistungen, d.s. S 197.929. Außerdem begehrte sie die Feststellung der 50 %igen Haftung der Beklagten für alle künftigen bei Sonja B* auftretenden unfallskausalen Schäden.
Die Beklagte machte geltend, daß Renate P* den Unfall allein verschuldet habe, wendete einen Betrag von S 39.222, der von ihr an die Zusatzversicherung der Sonja B* bezahlt worden sei, compensando gegen die Klagsforderung ein und erhob eine Verjährungseinrede.
Das Erstgericht stellte die Klagsforderung mit S 157.730 als zu Recht bestehend, die Gegenforderung als nicht zu Recht bestehend fest und verpflichtete die Beklagte zur Zahlung eines Betrages von S 157.730 sA. Es stellte die Haftung der Beklagten für 50 % der künftigen Unfallschäden fest und wies das Zahlungsmehrbegehren von S 40.199 sA ab.
Hiebei ging das Erstgericht von folgenden Feststellungen aus:
Renate P* fuhr mit ihrem PKW vom Rennweg kommend auf dem Schwarzenbergplatz Richtung Ringstraße und hatte die Absicht, nach rechts in die Zaunergasse einzubiegen. Der Schwarzenbergplatz weist in Annäherung dieser Fahrtrichtung drei durch Leitlinien gekennzeichnete Fahrstreifen auf, wobei der äußerst rechte für den Geradeaus‑ und Rechtsabbiegeverkehr bestimmt ist. In der Folge entwickelt sich in gedachter Verlängerung der rechts gelegenen Parkmöglichkeit ein zusätzlicher Rechtsabbiegefahrstreifen, dessen Trennung vom Mischfahrstreifen (ab der Trennung richtig: Geradeausfahrstreifen) vorerst durch eine 4 m lange Sperrlinie, danach durch eine dreieckförmige Sperrfläche erfolgt. Die 7 m breite Abzweigung zur Zaunergasse schließt mit dem Schwarzenbergplatz einen Winkel von ca. 75 Grad ein. Renate P* benützte den ersten Fahrstreifen von rechts, der als Mischfahrstreifen gekennzeichnet ist. Vor ihrem Fahrzeug fuhren noch etwa 3 bis 4 weitere Fahrzeuge. Da die Ampel rot zeigte, hielten die Fahrzeuge an. Renate P* hatte unmittelbar nach dem Schwarzenberg‑Kino, das rund 35 m von ihrer Halteposition als drittes oder viertes Fahrzeug vor der Haltelinie entfernt war, den rechten Blinker betätigt. Sie hielt zu den rechts geparkten Fahrzeugen einen Seitenabstand von rund 2 m ein. Als die Ampel grün zeigte, setzte sich die Fahrzeugreihe in Bewegung. Auch Renate P* fuhr los. Sie beschleunigte ihr Fahrzeug auf rund 25 km/h und versuchte in einem weiten Bogen nach rechts in die Zaunergasse einzubiegen, wobei sie die oben beschriebene Sperrlinie, die den Mischfahrstreifen (ab Trennung richtig: Geradeausfahrstreifen) vom Rechtsabbiegefahrstreifen trennt, überfuhr. Das Rechtsabbiegemanöver ihres Fahrzeuges hätte nur durch ein starkes Abbremsen und eine jähe Verstärkung des Rechtseinschlages ein Einfahren in die Zaunergasse ermöglicht. Der Motorradlenker Klemens D* benutzte gleichfalls den ersten Fahrstreifen von rechts (Mischfahrstreifen). Er hatte die Absicht, auf diesem Fahrstreifen seine Fahrt in gerader Richtung fortzusetzen. Dabei reihte er sich aber nicht in die aufgestaute Fahrzeugreihe ein, sondern fuhr rechts an dieser vorbei, wobei ihm zwischen den rechts parkenden Fahrzeugen und der Kolonne eine maximale Durchfahrtsbreite von ca. 2 m verblieb. Das Motorrad hatte eine Breite von rund 70 cm. Seine Geschwindigkeit betrug rund 30 km/h. Etwa auf Höhe des bereits wieder angefahrenen PKWs der Renate P* erkannte Klemens D* erstmals, daß das Fahrzeug den rechten Blinker gesetzt hatte und nach rechts abbiegen wollte. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich beide Fahrzeuge knapp vor der beginnenden Sperrlinie. In der Folge kam es zwischen den Fahrzeugen etwa auf Höhe des Beginnes der Sperrlinie zu einem Streifkontakt, wobei der rechte vordere Kotflügel des PKWs die linke hintere Seite des Motorrades kontaktierte. Eine genaue Kollisionsposition ist nicht feststellbar. Durch den Anprall erfuhr das Motorrad eine Beschleunigung, fuhr an der Front des PKWs noch vorbei und stieß nach einem Folgeweg von rund 10 m gegen den Randstein der Verkehrsinsel links der Zaunergasse, wodurch es beschädigt wurde und Horst D* und seine Beifahrerin Sonja B* zu Sturz kamen.
Rechtlich beurteilte das Erstgericht den festgestellten Sachverhalt dahin, daß entgegen § 9 Abs 5 StVO sich sowohl Renate P*, die nach rechts abbiegen wollte, unrichtig im Geradeausfahrstreifen als auch Klemens D*, der beabsichtigt habe, geradeaus zu fahren, unrichtig im Rechtsabbiegefahrstreifen eingeordnet habe. Überdies habe Renate P* entgegen der Bestimmung des § 9 Abs 1 StVO eine Sperrlinie überfahren. Das Erstgericht ging daher bei seiner der Höhe nach unbestrittenen Entscheidung von einem gleichteiligen Verschulden beider Lenker aus.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten Folge, wies das Klagebegehren ab und sprach aus, daß die ordentliche Revision nicht zulässig sei.
Die in der Berufung bemängelte Feststellung über die beabsichtigte Weiterfahrtrichtung des Motorradlenkers erklärte es als für die Entscheidung irrelevant, die Verjährungseinrede der Beklagten als verfehlt. Zur Verschuldensfrage führte es folgendes aus:
Es sei nicht relevant, in welcher Richtung Klemens D* weiterfahren wollte. Die in § 9 Abs 5, 6 StVO normierte Verpflichtung zur Weiterfahrt im Sinne der Richtungspfeile bestehe erst ab Beginn der Kreuzung. § 21 Bodenmarkierungsverordnung laute: "Ist nach Verlassen eines Fahrstreifens über eine Kreuzung oder eine sonstige Verkehrsfläche in einer bestimmten Richtung weiterzufahren, so ist dies durch entsprechende Richtungspfeile anzuordnen. Die durch Richtungspfeile gekennzeichneten Fahrstreifen sind in einem den Verkehrsverhältnissen entsprechenden Bereich durch Sperrlinien zu trennen." So normiere auch § 9 Abs 6 StVO, daß die Lenker auch bei einer der beabsichtigten Weiterfahrt widersprechenden Einordnung im Sinne der Richtungspfeile weiterfahren müssen. Die Verpflichtung zu einem der Einordnung entsprechenden Verhalten beginne also erst mit dem Verlassen des Richtungsfahrstreifens. Solange sich ein Lenker innerhalb eines durch Sperrlinie begrenzten Fahrstreifens bewege, könne er begrifflich nicht gegen ein erst nach Verlassen dieses Fahrstreifens wirksam werdendes Weiterfahrgebot verstoßen, dies auch dann nicht, wenn er tatsächlich die zufolge vorheriger Kollision nicht mehr verwirklichbare Absicht hatte, in weiterer Folge gegen dieses Gebot zu verstoßen. Zum Unfallszeitpunkt habe Klemens D* den Rechtsabbiegestreifen befahren, Renate P* habe die Sperrlinie zwischen dem Geradeausfahrstreifen und dem Rechtsabbiegestreifen überfahren. Auch ihr sei ebenso wie Klemens D* vor Verlassen der Fahrstreifen und vor Einfahren in die Kreuzung ein Verstoß gegen § 9 Abs 5, 6 StVO nicht anzulasten, wohl aber ein Verstoß gegen die Bestimmung des § 9 Abs 1 StVO. Der Unfall sei daher von Renate P* durch Überfahren einer Sperrlinie allein verschuldet worden, wogegen Klemens D*, der sich innerhalb eines durch Sperrlinien begrenzten Fahrstreifens bewegt habe, kein Verstoß gegen Bestimmungen der StVO anzulasten sei.
Gegen diese Berufungsentscheidung richtet sich die außerordentliche Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil dahin abzuändern, daß dem Klagebegehren im Umfang des erstgerichtlichen Urteils stattgegeben werde.
Die Beklagte beantragt in der ihr freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig, weil das Berufungsgericht bei der Beurteilung des Verhaltens des Motorradlenkers die Rechtslage verkannt hat, und auch berechtigt.
Die Klägerin macht geltend, der Motorradlenker habe einerseits gegen seine Verpflichtung, im Sinne der Richtungspfeile weiterzufahren, andererseits gegen das Rechtsfahrgebot verstoßen.
Hiezu ist zunächst vorauszuschicken, daß beide Unfallslenker vom Strafgericht wegen des Vergehens der fahrlässigen (schweren) Körperverletzung rechtskräftig verurteilt wurden. Hiebei wurde der Motorradlenker schuldig erkannt, die im Straßenverkehr gebotene Sorgfalt und Aufmerksamkeit außer acht gelassen zu haben, indem er entgegen der Bodenmarkierung zum Rechtsabbiegen geradeaus weiterfuhr und dabei mit dem rechtsabbiegenden PKW der Unfallsgegnerin kollidierte.
Es stellt sich daher ‑ im Hinblick auf die im folgenden näher behandelte Entscheidung des verstärkten Senates 1 Ob 612/95, wonach eine allfällige Bindungswirkung von Amts wegen wahrzunehmen wäre - die Frage, ob dieser strafgerichtlichen Verurteilung im Zivilprozeß gegen den Haftpflichtversicherer des Verurteilten Bindungswirkung zukommt. Eine solche Bindung war in der Vergangenheit aus § 268 ZPO abgeleitet worden. Diese - auch für das Innenverhältnis zwischen mehreren Schädigern herangezogene (ZVR 1957/8) - Gesetzesbestimmung hob der Verfassungsgerichtshof auf Antrag des Oberlandesgerichtes Innsbruck - der anläßlich einer Klage aus einem Verkehrsunfall gegen den gemäß § 63 KFG (alt) in Anspruch genommenen Verband der Versicherungsunternehmungen Österreichs gestellt wurde - mit Erkenntnis vom 12.10.1990 VfSlg 12.504/1990 = JBl 1991, 104 = AnwBl 1990, 734 als verfassungswidrig auf und führte hiezu ua aus, aus dem Wortlaut, der Entstehungsgeschichte und dem Sinn des Instituts müsse geschlossen werden, daß die darin verfügte Bindung nicht etwa nur dem Verurteilten gegenüber oder allenfalls zu Lasten von Prozeßparteien wirken solle, die vor dem Strafgericht sonst als Beteiligte aufgetreten sind. Daß eine solche Regelung in offenkundigem Widerspruch zu dem in Art 6 Abs 1 MRK jedermann gewährleisteten Recht stehe, von einem unabhängigen und unparteiischen Gericht gehört zu werden, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen zu entscheiden habe, bedürfe keiner näheren Begründung. Wer den Beweis und die Zurechnung einer für die Entscheidung über seine Ansprüche und Verpflichtungen wesentlichen Handlung im zivilgerichtlichen Verfahren nicht in Frage stellen könne, weil das Gericht an die Entscheidung in einem anderen (strafgerichtlichen) Verfahren gebunden sei, zu welchem er aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen keinen Zugang hätte, dessen Anspruch auf Gehör durch das seine Sache entscheidende unabhängige und unparteiische Gericht sei nicht erfüllt. Das für die Einführung des § 268 ZPO ausschlaggebend gewesene rechtspolitische Bedürfnis, Feststellungen in einem Strafurteil von niemandem in Frage stellen zu lassen, könne eine derart umfassende, alle denkbaren ‑ auch die schwerwiegendsten - zivilrechtlichen Folgen miteinschließende Bindung keinesfalls rechtfertigen. Ein derart, daß Bedenken aus dem Blickwinkel des Art 6 Abs 1 MRK ausgeräumt wären, eingeschränktes Verständnis der angeführten Bestimmung im Wege verfassungskonformer Auslegung hinge davon ab, daß die Bindung angesichts des beschränkten Zwecks der Privatbeteiligung wohl auf den Verurteilten selbst eingeschränkt werden müsse. Eine solche Auslegung halte der Gerichtshof indessen für ausgeschlossen, beständen doch erhebliche Zweifel, ob die mit einer unvollständigen Verwirklichung des Gesetzeszwecks verbundenen Auswirkungen vom - hypothetischen - Willen des Gesetzgebers überhaupt noch getragen würden. Träte nämlich die Bindung in einer beachtlichen Zahl von Fällen nicht ein, würde nicht nur das ursprüngliche Ziel der Bestimmung - eine Überprüfung des Strafprozesses durch den Zivilrichter zu vermeiden - nicht mehr erreicht, vielmehr würfe das Nebeneinander gebundener und nicht gebundener Beteiligter - etwa in Rückgriffs‑ oder in Haftungsfällen - eine Reihe rechtspolitischer Fragen auf, die der Lösung durch den Gesetzgeber bedürften. Eine allfällige Bindung des Zivilrichters an ein Strafurteil - zu welchem Zweck immer - in Einklang mit Art 6 MRK zu regeln und abzugrenzen, sei weder Aufgabe des Verfassungsgerichtshofes noch der Strafgerichte, sondern des Gesetzgebers.
Der Gesetzgeber blieb nach Aufhebung des § 268 ZPO untätig.
Mit Beschluß vom 17.10.1995 formulierte ein verstärkter Senat des Obersten Gerichtshofes - im Falle einer Klage gegen einen vom Strafgericht wegen des Vergehens der schweren Körperverletzung verurteilten Fußballspieler - zu 1 Ob 612/95 = AnwBl 1995, 900 (Strigl) = RdW 1996, 15 (Berger) = ZVR 1996/2 = EvBl 1996/34 = JBl 1996, 117 (vgl hiezu auch Oberhammer, Verstärkter Senat - Bindung an Strafurteil, ecolex 1995, 790, insbesondere FN 10; Graff, Zur Bindungswirkung des Strafurteils im Zivilprozeß nach der Aufhebung des § 268 ZPO, AnwBl 1996, 77) folgenden Rechtssatz: "Wirkt die materielle Rechtskraft der strafgerichtlichen Verurteilung derart, daß der Verurteilte das Urteil gegen sich gelten lassen muß, und wirkt dieses für den Rechtskreis des Verurteilten, für diesen aber gegen jedermann, so kann sich niemand im nachfolgenden Rechtsstreit einer anderen Partei gegenüber darauf berufen, daß er eine Tat, derentwegen er strafgerichtlich verurteilt wurde, nicht begangen habe, gleichviel, ob der andere am Strafverfahren beteiligt war oder in welcher verfahrensrechtlichen Stellung er dort aufgetreten ist."
Hiezu führte der verstärkte Senat näher ua folgendes aus: Sei auch die materielle Rechtskraft des strafgerichtlichen Schuldspruchs zu bejahen, so könne folgerichtig dann auch deren Bindungswirkung nicht geleugnet werden. Sie sei allerdings - da, abgesehen vom öffentlichen Ankläger, bei der Verfolgung von Offizialdelikten, wie hier, ausschließlich dem Angeklagten (Beschuldigten) volle Parteienrechte zugestanden werden ‑ auf den Rechtskreis des Verurteilten zu beschränken. Diese subjektiven ‑ parteibezogenen - Grenzen der Rechtskraft müßten trotz der dadurch möglichen unterschiedlichsten Verfahrensergebnisse beachtet werden, um dem höher zu bewertenden, durch Art 6 Abs 1 MRK im Verfassungsrang anerkannten Grundrecht des rechtlichen Gehörs in gebotener Weise Rechnung zu tragen. Die Rechtskraft wirke also derart, daß der Verurteilte das Erkenntnis gegen sich gelten lassen müsse, es wirke somit für den Rechtsbereich des Verurteilten, bezogen auf diesen Rechtsbereich aber gegen jedermann. Damit könne sich aber im nachfolgenden Rechtsstreit niemand gegen eine andere Partei darauf berufen, er habe eine Tat, derentwegen er vom Strafgericht rechtskräftig verurteilt worden sei, nicht begangen, ganz unabhängig davon, ob diese andere Partei am Strafprozeß beteiligt und bejahendenfalls, welche prozessuale Stellung ihr in diesem Verfahren eingeräumt war. Diese Lösung sei vor allem gerechtfertigt, weil dem Verurteilten alle Rechtsschutzmöglichkeiten an die Hand gegeben gewesen seien, um die Verurteilung abzuwehren. Die andere Partei des Zivilprozesses habe aber aus der fehlenden Beteiligung am Strafprozeß oder - wie der Privatbeteiligte - aus der eingeschränkten verfahrensrechtlichen Position im Strafverfahren keinerlei Nachteil zu besorgen, soweit sie sich auf eine rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilung des Gegners berufe. ... Die auf den Rechtskreis des Verurteilten beschränkte Bindungswirkung begegne auch aus dem Blickwinkel der in Art 6 MRK im Verfassungsrang festgeschriebenen Verfahrensgarantien keinen Bedenken: Das könne zwanglos dem verfassungsgerichtlichen Erkenntnis, mit dem § 268 ZPO aufgehoben worden sei (VfSlg 12.504/1990), entnommen werden, das die Verletzung des in Art 6 Abs 1 MRK verankerten Grundrechts des rechtlichen Gehörs darin erblicke, daß der Anspruch desjenigen auf Gehör durch das seine Sache entscheidende Gericht nicht erfüllt sei, der den Beweis und die Zurechnung einer für die Entscheidung über seine Ansprüche und Verpflichtungen wesentlichen Handlungen im Rechtsstreit nicht in Frage stellen könne, weil das Gericht an die Entscheidung im Strafverfahren gebunden sei, zu dem er aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen keinen Zugang gehabt habe. Sei ihm dagegen dieser Zugang gesichert gewesen, so sei ihm auch im gebotenen Ausmaß rechtliches Gehör eingeräumt worden. ... Nicht zu entscheiden sei hier, ob das verurteilende Straferkenntnis für die Frage der vertraglichen Deckungspflicht eines Versicherers Tatbestandswirkung haben könne.
Aus der vom verstärkten Senat für seine Rechtsansicht ausführlich zitierten Literatur ist im Hinblick auf die hier zu lösende Frage folgendes hervorzuheben:
Nach Nowakowski, Die materielle Rechtskraft des Schuldspruchs, ÖJZ 1948, 546, wirkt der Schuldspruch aus Gründen des rechtlichen Gehörs nur für und gegen den Verurteilten selbst Rechtskraft, nicht aber bezüglich anderer Personen: Seine materielle Rechtskraft wirke lediglich für den Rechtskreis des Verurteilten, für diesen jedoch gegenüber jedermann, weshalb man den Umfang der Rechtskraft als "persönlich‑absolut" bezeichnen könnte.
Walter, Strafgerichtliche Verurteilung im Zivilprozeß, ecolex 1991, 379, hält die Lösung Nowakowskis deshalb für gerechtfertigt, weil der Verurteilte alle Rechtsschutzmöglichkeiten zur Verfügung gehabt habe, um die Verurteilung abzuwehren. Die andere Partei habe aber durch die fehlende Beteiligung am Strafprozeß, soweit sie sich auf eine erfolgte Verurteilung stütze, keinerlei Nachteile. Dieses Ergebnis sei mit dem verfassungsgerichtlichen Erkenntnis durchaus in Einklang zu bringen und begegne auch keinerlei Bedenken unter dem Gesichtspunkt des Art 6 MRK.
Morscher, Bindung und Bundesverfassung JBl 1991, 86, leitet aus der Bundesverfassung ab, daß eine solche Bindungswirkung nicht grenzenlos bestehe, sie erstrecke sich vielmehr regelmäßig nur auf die Parteien jenes Verfahrens, dessen Ergebnis Bindung schaffen solle.
Zu den Auswirkungen seines Rechtssatzes auf die Klage gegen den Haftpflichtversicherer sagte der verstärkte Senat zu 1 Ob 612/95 nichts aus (vgl Graff, AnwBl 1996, 80); hiezu hatte er auch keinen Anlaß, da ihm eine solche Klage nicht vorlag. Zweifelhaft ist in diesem Zusammenhang aber, was im Rechtssatz des verstärkten Senates unter "Rechtskreis" (diese Diktion wurde offenbar von Nowakowski übernommen; an anderer Stelle der Entscheidung: "Rechtsbereich") des Verurteilten zu verstehen ist. Waren damit nur die "rechtlichen Belange" des Verurteilten selbst gemeint, so ergäben sich daraus keine grundrechtlichen Bedenken. Sollten mit "Rechtskreis" aber vom Verurteilten verschiedene Personen gemeint gewesen sein, so bestünde, wenn diese Personen am Strafverfahren nicht beteiligt waren, ein Spannungsverhältnis zu den Ausführungen des verstärkten Senates und der von ihm für seine Ansicht zitierten Autoren über das Grundrecht des rechtlichen Gehörs.
Dafür, daß der verstärkte Senat eine Bindungswirkung gegenüber dem Versicherer des Verurteilten nicht im Auge hatte, spricht, daß er den Versicherer nur im Zusammenhang mit einer Tatbestandswirkung des verurteilenden Straferkenntnisses für die Frage der vertraglichen Deckungspflicht erwähnt hat (vgl hiezu Oberhammer aaO). Diese Frage ist aber auch im vorliegenden Fall nicht zu entscheiden, weil hier das Verhältnis zwischen den Haftpflichtversicherern mehrerer Schädiger in einem Rückgriffsfall und nicht das Verhältnis zwischen einem Schädiger und dessen Haftpflichtversicherer maßgeblich ist.
Auch aus der Möglichkeit zur Direktklage des Geschädigten gegen den Versicherer und der gesamtschuldnerischen Haftung von Versicherer und ersatzpflichtigem Versicherten gemäß § 26 KHVG ergibt sich nicht, daß dem Versicherer nach einer strafgerichtlichen Verurteilung des Versicherten das rechtliche Gehör entzogen wäre. Eine Bindung des Versicherers läßt sich aus dieser Vorschrift nicht ableiten.
Aus den oben wiedergegebenen Erwägungen des Verfassungsgerichtshofes, des verstärkten Senates und der Lehre hält es der erkennende Senat für ausgeschlossen, die Bindungswirkung des Strafurteils auf den Haftpflichtversicherer, der im Strafprozeß kein rechtliches Gehör hatte, zu erstrecken. Schon in 1 Ob 694/89 = JBl 1990, 662 wurde im übrigen ausgesprochen, daß eine Bindung an nachteilige Wirkungen eines Verfahrens, in dem der nunmehr Betroffene nicht eingebunden war und die er unabänderlich hinnehmen müßte, gegen das verfahrensrechtliche Grundgesetz des rechtlichen Gehörs gemäß Art 6 MRK verstoße (vgl Fasching, Lehrbuch2 Rz 862). Rechtliches Gehör sei eben nicht nur den an einem Verfahren förmlich Beteiligten zu gewähren, der Grundsatz des rechtlichen Gehörs greife auch dann durch, wenn jemand an ein Ergebnis eines zwischen anderen Personen abgeführten Verfahrens, durch das er unmittelbar rechtlich betroffen werden sollte, gebunden sein sollte.
Das Nebeneinander gebundener und nicht gebundener Beteiligter ist zwar - wie schon der Verfassungsgerichtshof in VfSlg 12.504 erkannt hat - problematisch, ergibt sich aber aus der durch den verstärkten Senat mit 1 Ob 612/95 geschaffenen Rechtslage. Der erkennende Senat hält es nicht für seine Aufgabe, diese Situation durch eine Grundrechtsverletzung zu "bereinigen". Auch die Vermeidung einer Mehrbelastung der Zivilgerichte kann gegenüber der Wahrung der im Verfassungsrang stehenden Grundrechte kein Entscheidungskriterium sein. Schon der verstärkte Senat hat die Höherwertigkeit des Grundrechts auf rechtliches Gehör trotz der Möglichkeit unterschiedlichster Verfahrensergebnisse betont. Dieses Grundrecht kann nicht dort, wo es zu komplizierten verfahrensrechtlichen Fragestellungen führt, einfach ignoriert werden (Rechberger/Oberhammer, Das Recht auf Mitwirkung im österreichischen Zivilverfahren im Lichte von Art 6 EMRK, ZZP 106‑1993, 347, 365 FN 90 aE).
Für den vorliegenden Fall ergibt sich somit, daß es dem rückgriffsbeklagten Haftpflichtversicherer nicht verwehrt ist, das Verschulden des Motorradfahrers am Unfall trotz dessen strafgerichtlicher Verurteilung zu bestreiten. Damit ist für die Beklagte im Ergebnis aber nichts gewonnen:
Das Verschulden der PKW‑Lenkerin am Unfall ist unstrittig. Was das Verschulden des Motorradlenkers anlangt, so ist dem Berufungsgericht zuzugeben, daß sich das Motorrad im Zeitpunkt der Kollision noch innerhalb des markierten Rechtsabbiegestreifens befunden hat (dieser endet nicht vor Beginn der Kreuzung des Schwarzenbergplatzes mit der Zaunergasse, sondern erstreckt sich bis in den Bereich der verlängert gedachten Fahrbahn der Zaunergasse, einer Einbahn) und der Lenker daher gar nicht mehr Gelegenheit hatte, gegen das Weiterfahrgebot des § 9 Abs 6 StVO (der vom Berufungsgericht mitzitierte Abs 5 ist hier nicht einschlägig) zu verstoßen. Aus den Sachverständigengutachten ergibt sich zwar, daß das Motorrad vor der Kollision zur geraden Weiterfahrt eingereiht war; nicht festgestellt wurde aber, daß der Motorradlenker etwa angesichts der von ihm eingehaltenen Fahrgeschwindigkeit nur mehr geradeaus hätte weiterfahren können.
Dem Motorradlenker ist allerdings vorzuwerfen, daß er nicht in kurzem Bogen nach rechts eingebogen ist, andernfalls wäre er gar nicht an die ungefähre Kontaktstelle im Bereich des Sperrlinienbeginns gelangt. Im übrigen hat er selbst zugegeben, in weitem Bogen nach rechts eingebogen zu sein (AS 51 f, Beilage ./II). Die von ihm eingehaltene Fahrlinie entsprach aber nicht der Bestimmung des § 13 Abs 1 StVO, wobei zu beachten ist, daß er sowohl vor als auch nach dem Einbiegen das Rechtsfahrgebot des § 7 Abs 1 StVO zu befolgen hatte. Die in der Revisionsbeantwortung aufgestellte Behauptung, der Motorradlenker hätte auf Höhe des Beginns der Sperrlinie gar nicht weiter rechts fahren können, weil rechts neben ihm alles verparkt gewesen sei, ist aktenwidrig, weil die rechts gelegene Parkmöglichkeit schon vorher endete. Ein Rechtsabbiegen in engem Bogen war daher nicht ausgeschlossen.
§ 13 Abs 1 StVO hat den Zweck, allen möglichen Gefahren des Straßenverkehrs vorzubeugen (ZVR 1975/6). Die Vorschrift dient auch dem Schutz anderer Rechtsabbieger, sogar wenn sich diese selbst verbotwidrig verhalten. Auch der Rechtswidrigkeitszusammenhang ist daher gegeben.
Darüber hinaus hatte die PKW‑Lenkerin den rechten Blinker schon weit vor der Unfallstelle - im Mischfahrstreifen - gesetzt; der an der aufgestauten PKW‑Kolonne rechts vorbeifahrende Motorradlenker hatte ihn aber erst bemerkt, als er schon auf Höhe des ‑ wieder angefahrenen - PKWs war. Hätte er dem Blinkzeichen schon früher seine Aufmerksamkeit geschenkt, wäre er durch das Rechtsabbiegen des PKWs der Unfallsgegnerin nicht überrascht worden, sondern hätte er sich auf die unklare Verkehrssituation einstellen können, zumal sich der Kontakt bereits auf Höhe des Beginns der Sperrlinie ereignete, dh knapp nach der Aufteilung des Mischfahrstreifens in einen Geradeaus‑ und Rechtssabbiegestreifen.
Angesichts dieser Fehlleistungen des Motorradlenkers ist die Annahme eines gleichteiligen Verschuldens nicht zu beanstanden, weshalb das erstgerichtliche Urteil wiederherzustellen war.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 41, 50 ZPO.
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