Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die Klägerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.
Text
Entscheidungsgründe:
Die am 9.6.1949 geborene Klägerin bezieht seit 1.10.1984 eine Berufsunfähigkeitspension von der beklagten Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten. Sie leidet an einem ausgeprägten Karpaltunnelsyndrom rechts mehr als links, einem seit mehreren Jahren bestehenden progredienten Leiden, dessen Auswirkungen sich seit April 1994 wesentlich verstärkten und zu Taubheitsgefühlen des rechten Zeigefingers, des rechten Mittelfingers und des rechten Daumens mit zunehmender Kraftlosigkeit führten. Dieses Leiden könnte durch eine Operation gebessert werden. Es handelt sich dabei um einen relativ kleinen Eingriff, der einen (maximal) zehntägigen Krankenhausaufenthalt erfordert und bei einem sehr hohen Prozentsatz (80 %) zu einer weitgehenden Beschwerdefreiheit führt. Darüberhinaus leidet die Klägerin an einem Residualzustand nach Polimyelitis mit Muskelverschmächtigung. Es finden sich auch Indizien für ein neurasthenisches Persönlichkeitsprofil; solche Patienten können oft nicht leicht von der Notwendigkeit und Nützlichkeit einer Operation überzeugt werden, doch gibt es sehr gute und gut verträgliche Psychopharmaka, welche die Angst vor der Operation weitgehend nehmen können. Die Klägerin benötigt auf Grund der festgestellten Leiden seit Antragstellung am 18.8.1993 fremde Hilfe zur Herbeischaffung der notwendigen Nahrungsmittel und Medikamente, zur Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände sowie zur Pflege der Leib- und Bettwäsche. Seit 1.4.1994 - bis zu einer allfälligen Operation des Karpaltunnelsyndroms - benötigt die Klägerin darüberhinaus fremde Betreuung für die Zubereitung der Mahlzeiten und für das Kopfwaschen.
Die Klägerin wurde im Juli 1994 einem Neurologen zugewiesen, der das Karpaltunnelsyndrom konstatierte und in seiner Beurteilung festhielt, daß im Falle einer Operation wahrscheinlich mit einer Besserung zu rechnen wäre. Auch im schriftlichen Gutachten des Gerichtssachverständigen vom 21.4.1995 ist bereits von den Besserungsmöglichkeiten des Karpaltunnelsyndroms durch eine Operation die Rede; nur als Folge des Karpaltunnelsyndroms ergibt sich die Notwendigkeit für die fremde Betreuung bei der Zubereitung von Mahlzeiten und beim Kopfwaschen. In der mündlichen Erörterung dieses Gutachtens am 22.6.1995 wurden der Klägerin gegenüber nicht nur die Aussichten einer solchen Operation, sondern auch die weiteren Umstände derselben näher auseinandergesetzt, nämlich daß es sich um einen kleinen Eingriff handelt, der von manchen Chirurgen sogar ambulant, in der Regel aber zur Sicherheit doch im Rahmen eines stationären Aufenthaltes im Krankenhaus durchgeführt wird und der einen Aufenthalt in der Dauer von einer Woche bis maximal zehn Tagen erfordert.
Mit Bescheid der Beklagten vom 26.1.1994 wurde der Antrag der Klägerin vom 18.8.1993 auf Zuerkennung eines Pflegegeldes abgewiesen.
Das Erstgericht erkannte die Beklagte schuldig, der Klägerin für den Zeitraum 1.4.1994 bis 30.8.1995 das Pflegegeld der Stufe 1 nach dem BPGG zu gewähren; das Mehrbegehren, das Pflegegeld bereits ab dem 18.8.1993 und über den oben angeführten Zeitraum hinaus unbefristet zu gewähren, wurde abgewiesen.
Rechtlich führte das Erstgericht aus, daß nach § 4 Abs 2 BPGG Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 1 für Personen bestehe, deren Pflegebedarf durchschnittlich mehr als fünfzig Stunden monatlich betrage. Für das Herbeischaffen der Nahrungsmittel und Medikamente, die Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände sowie die Pflege der Leib- und Bettwäsche seien iS des § 2 Abs 2 und 3 EinstV je 10 Stunden monatlich anzunehmen. Für die Zubereitung von Mahlzeiten sei nach § 1 Abs 4 EinstV ein zeitlicher Mindestwert von einer Stunde täglich vorgesehen also 30 Stunden monatlich. Für das Kopfwaschen, das nicht täglich notwendig sei, scheine ein Betreuungsaufwand von zwei Stunden monatlich angemessen. Dies ergebe für den Zeitraum ab 1.4.1994 einen Pflegebedarf von 62 Stunden monatlich, sodaß Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 1 bestehe. Die Operation des Karpaltunnelsyndroms würde mit sehr großer Wahrscheinlichkeit zu einer wesentlichen Besserung, wenn nicht gar zu einer Beschwerdefreiheit führen. Da es sich bei dieser Operation nur um einen kleinen Eingriff ohne besonders Risiko handle, sei sie der Klägerin auch zumutbar. Führe aber eine zumutbare Operation zu einer wesentlichen Besserung des Gesundheitszustandes, so sei der Versicherte verpflichtet, sich einer derartigen Operation zu unterziehen. Die für den Bereich des Sozialversicherungsrechtes bestehende Duldungs- und Mitwirkungspflicht werde aus den Bestimmungen über die Schadensminderungspflicht im bürgerlichen Recht abgeleitet. Ein Anspruch gehe aber nicht schon dann verloren, wenn an dem hiefür maßgeblich Stichtag die Pflicht zur Duldung oder Mitwirkung objektiv bestanden habe, der Verlust des Anspruchs setze vielmehr voraus daß dem Versicherten die Verletzung der Pflicht zur Duldung oder Mitwirkung als Verschulden anzurechnen sei (SSV-NF 6/13; 4/93). Ein Verschulden liege aber erst dann vor, wenn der Versicherte erkennen mußte, zur Duldung oder Mitwirkung verpflichtet zu sein. Bestehe die Mitwirkung darin, sich einer Operation zu unterziehen, so sei es in der Regel geboten, ihm ab dem Zeitpunkt, zu dem erstmals die Zweckmäßigkeit und Zumutbarkeit der Operation ernsthaft in Betracht zu ziehen sei, eine Frist zur Überlegung und Vorbereitung einzuräumen; er müsse auch Gelegenheit haben, sich mit einem Arzt seines Vertrauens zu beraten. Diese Frist werde im allgemeinen mit vier Wochen zu bemessen sein. Die Klägerin habe erstmals am 22.6.1995 die Zweckmäßigkeit und Zumutbarkeit der Operation ernstlich in Betracht ziehen müssen. Berücksichtige man, daß sie aufgrund ihrer neurasthenischen Persönlichkeit nur schwer von der Nützlichkeit einer derartigen Operation zu überzeugen sei und ferner die Operation einen Krankenhausaufenthalt von (maximal) zehn Tagen erfordere, so scheine es angemessen, im vorliegenden Fall das durch die Folgen des Karpaltunnelsyndroms gegebene Leistungskalkül bis zum 30.8.1995 zugrundezulegen. Die Klägerin habe also für den Zeitraum vom 1.4.1994 bis 30.8.1995 die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Stufe 1 des Pflegegeldes nach dem BPGG erfüllt. Darüber hinaus bestehe der Anspruch aber nicht mehr zurecht, weil sich die Klägerin der ihr zumutbaren Operation unterziehen müsse.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Es sei richtig, daß die von der Judikatur entwickelten Grundsätze der Duldungs- und Mitwirkungspflichten darauf aufbauten, das durch die Sozialversicherung zu tragende Risiko möglichst gering zu halten. Sie könnten damit als Ausdruck des auch im Sozialversicherungsrecht geltenden Grundsatzes von Treu und Glauben angesehen werden, der es dem Leistungsempfänger gebiete, die Interessen der Sozialversicherung - und damit die Interessen der anderen Versicherten - in zumutbarer Weise zu wahren (SSV-NF 4/23; 7/8 ua). Diese Grundsätze von Treu und Glauben seien entgegen der Auffassung der Klägerin aber nicht nur dann anzuwenden, wenn unmittelbar mit Beitragszahlungen in Verbindung stehende Leistungen in Anspruch genommen würden. Auch wenn der Anspruch auf Pflegegeld nicht unmittelbar von Beitragszahlungen abhänge, so würden die Kosten des Pflegegeldes doch von der Allgemeinheit und die dadurch begründete Risikogemeinschaft getragen. Es sei also durchaus legitim und sachgerecht, auch bei dieser Leistung nach Treu und Glauben eine Duldungs- und Mitwirkungspflicht zu normieren, wenn durch eine zumutbare Operation die Aufwendungen der Allgemeinheit für den Einzelnen verringert oder gar beseitigt werden könnten.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision der Klägerin ist nicht berechtigt.
Unter dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung führt die Klägerin aus, sowohl der Grundsatz von Treu und Glauben als auch die daraus abgeleiteten Duldungs- und Mitwirkungspflichten der Versicherten hätten im Leistungsrecht der Sozialversicherung durchaus ihre Berechtigung. Das Pflegegeld nach dem BPGG - und auch die entsprechenden landesrechtlichen Leistungen - stellten jedoch keine Leistung der Sozialversicherung dar. Es handle sich dabei nicht um Versicherungsleistungen. Lediglich die Auszahlung erfolge bei Beziehern von Geldleistungen der Sozialversicherung durch den Sozialversicherungsträger. Der Anspruch auf Pflegegeld werde aber nicht durch Beitragsleistung oder - wie in der Bundesrepublik Deutschland - durch Bestehen eines Versicherungsverhältnisses erworben. Der Anspruch auf Pflegegeld bestehe dann, wenn die Anspruchsvoraussetzungen des Bundespflegegeldgesetzes erfüllt erfüllt seien.
Diesen Ausführungen ist folgendes entgegenzuhalten:
Nach dem allgemeinen Grundsatz, daß ein Versicherter die Interessen
des Sozialversicherungsträgers und damit auch die der anderen
Versicherten in zumutbarer Weise zu wahren hat, will er seine
Ansprüche nicht verlieren, ist er nach ständiger Rechtsprechung
verpflichtet, eine notwendige Krankenbehandlung durchzuführen, die zu
einer Heilung und Wiederherstellung seiner Arbeitsfähigkeit führen
würde, sofern die Behandlung für ihn nicht mit unzumutbaren Gefahren
verbunden ist (SZ 61/84 = SSV-NF 2/33 = JBl 1988, 601). Ist ein
Versicherter bloß wegen der durch eine zumutbare Operation behebbaren
Beeinträchtigung seines körperlichen und geistigen Zustandes invalid
oder berufsunfähig, so ist nach ständiger Rechtsprechung seine
Invalidität oder Berufsunfähigkeit nur vorübergehend, weil sie durch
die Operation beendet werden kann. Der Oberste Gerichtshof hat
wiederholt ausgesprochen, daß die
Invaliditäts(Berufsunfähigkeits-)pension in einem solchen Fall gemäß
§§ 256, 271 Abs 3 ASVG bis zu jenem Zeitpunkt zuzuerkennen ist, für
den mit Sicherheit oder mit hoher Wahrscheinlichkeit das Ende der
Invalidität oder Berufsunfähigkeit vorhergesagt werden kann. Hängt
ihr Ende von einer Duldung oder Mitwirkung des Versicherten ab, zu
der er verpflichtet ist, so ist erst die schuldhafte Verletzung der
Pflicht für das Ende seines Anspruches maßgebend. Die Leistung ist
daher für jenen Zeitraum zuzuerkennen, in dem die Invalidität oder
Berufsunfähigkeit bestanden hätte, wenn er seiner Duldungs- oder
Mitwirkungspflicht ordnungsgemäß nachgekommen wäre. Die Kriterien,
nach denen zu beurteilen ist, ob ein operativer Eingriff zur
Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit zumutbar ist, wurden bereits
eingehend dargelegt (SZ 63/32 = SSV-NF 4/23 = JBl 1990, 734 = RdW
1990, 385 = DRdA 1991, 236; SSV-NF 7/8; 8/100 ua). In diesem
Zusammenhang wurde auch klargestellt, daß das Sozialgericht berechtigt ist, eine befristete Pension für die Zukunft zuzusprechen, wenn das Ende der Invalidität oder Berufsunfähigkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt mit Sicherheit oder sehr hoher Wahrscheinlichkeit vorhergesagt werden kann, und zwar schon als verwaltungsvereinfachende Maßnahme, da ein späteres Entziehungsverfahren erspart wird (SZ 64/43 = SSV-NF 5/42 mwN). Eine Erfolgswahrscheinlichkeit von 80 % wurde in diesem Zusammenhang als ausreichend angesehen (SSV-NF 8/100 mwN).
Die soeben dargelegten Grundsätze sind auch für den Anspruch auf Zuerkennung eines Pflegegeldes nach dem BPGG nutzbar zu machen. Dabei wird nicht übersehen, daß es sich beim Pflegegeld um eine Leistung des Bundes handelt, die nicht durch Beiträge, sondern ausschließlich aus Budgetmitteln bedeckt wird (vgl Gruber/Pallinger, Kommentar zum BPGG Rz 2 zu Art I). Artikel 10 der Vereinbarung zwischen dem Bund und den Ländern gemäß Artikel 15 a B-VG über gemeinsame Maßnahmen des Bundes und der Länder für pflegebedürftige Personen (BGBl 1993/866) bestimmt, daß der Aufwand für das Pflegegeld vom Bund und den Ländern im Rahmen der ihnen verfassungsrechtlich zugeordneten Kompetenzbereiche zu tragen ist; die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung haben den Aufwand für das Pflegegeld in dem Ausmaß selbst zu tragen, als dieses auf Grund kausaler Behinderung geleistet wird (vgl dazu Pfeil, Neuregelung der Pflegevorsorge in Österreich 141 ff). Auch wenn also der Anspruch auf Pflegegeld nicht unmittelbar von Beitragszahlungen abhängt, so werden, wie das Berufungsgericht zutreffend dargelegt hat, die Kosten des Pflegegeldes auch von der Allgemeinheit der Steuerzahler und die dadurch begründete Risikogemeinschaft getragen. Der Oberste Gerichtshof teilt daher die Auffassung, daß ein Pflegebedarf nur vorübergehend besteht, wenn die ihn begründende körperliche Behinderung durch eine zumutbare Operation beendet werden kann.
Die befristete Zuerkennung eines Pflegegeldes steht auch mit den Bestimmungen des BPGG nicht in Widerspruch. Richtig ist nur soviel, daß das BPGG den befristeten Zuspruch nicht ausdrücklich regelt. Nach § 4 Abs 1 BPGG gebührt das Pflegegeld bei Zutreffen der Anspruchsvoraussetzungen ab Vollendung des dritten Lebensjahres, wenn aufgrund einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung oder einer Sinnesbehinderung der ständige Betreuungs- und Hilfsbedarf (Pflegebedarf) voraussichtlich mindestens sechs Monate andauern wird oder würde. Daraus ergibt sich, daß der Pflegebedarf voraussichtlich mindestens sechs Monate andauern muß (Gruber/Pallinger aaO Rz 26 zu § 4; vgl auch SSV-NF 9/14 mwN), eine Voraussetzung, die im vorliegenden Fall erfüllt ist. Nach § 9 Abs 1 BPGG gebührt das Pflegegeld mit Beginn des Monats, in dem die Voraussetzungen für die Zuerkennung erfüllt sind. Wenn eine Voraussetzung für die Gewährung von Pflegegeld wegfällt, ist das Pflegegeld zu entziehen; wenn eine für die Höhe des Pflegegeldes wesentliche Veränderung eintritt, ist das Pflegegeld neu zu bemessen (Abs 2). Der Wegfall der Voraussetzungen oder eine wesentliche Veränderung wird im allgemeinen erst nach dem Zeitpunkt der Zuerkennung eintreten; auf diese Regelfälle nimmt der Gesetzestext bedacht. Wenn aber im Zeitpunkt der Entscheidung bzw bei Schluß der Verhandlung erster Instanz das Ende des Pflegebedarfes zu einem bestimmten Zeitpunkt bereits mit Sicherheit oder sehr hoher Wahrscheinlichkeit vorhergesagt werden kann, wie etwa auch bei Zuerkennung einer zeitlich begrenzten Pension nach §§ 256, 271 Abs 3 ASVG (vgl SSV-NF 9/28), dann ist eine zeitliche Begrenzung des Pflegegeldes vorzunehmen, und zwar schon als verwaltungsvereinfachende Maßnahme, da ein späteres Entziehungsverfahren erspart wird. Daß der Klägerin der oben geschilderte operative Eingriff an sich zumutbar ist, wird im Rechtsmittelverfahren nicht mehr in Zweifel gezogen.
Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.
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