OGH 1Ob633/95

OGH1Ob633/9530.1.1996

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Schlosser als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Schiemer, Dr.Gerstenecker, Dr.Rohrer und Dr.Zechner als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Egon S*****, vertreten durch Dr.Michael Jöstl, Rechtsanwalt in Innsbruck, wider die beklagte Partei Paula K*****, vertreten durch Dr.Heinz Knoflach und Dr.Eckart Söllner, Rechtsanwälte in Innsbruck, wegen 90.500 S sA infolge der Revisionen der klagenden Partei (Revisionsinteresse 30.000 S sA) und der beklagten Partei (Revisionsinteresse 50.500 S sA) gegen das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck als Berufungsgerichtes vom 13.September 1995, GZ 4 R 443/95-29, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Bezirksgerichtes Innsbruck vom 18.Mai 1995, GZ 16 C 1277/94-23, abgeändert wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Beide Revisionen werden zurückgewiesen.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 4.058,88 S (darin 676,48 S) bestimmten Kosten deren Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu bezahlen.

Die klagende Partei hat die Kosten ihrer Revisionsbeantwortung selbst zu tragen.

Text

Begründung

Der Kläger ist seit 1985 Mieter einer Wohnung im dritten Stock des der Beklagten gehörigen Hauses. Am 17.März 1994 benützte der damals 79 Jahre alte Kläger die zu seiner Mietwohnung führende Wendeltreppe. Als ihm zwischen dem zweiten und dritten Stockwerk eine von oben kommende Frau begegnete, wich er „aus Höflichkeit“ von der bisher benützten rechten auf die linke Treppenseite aus. Er hatte dabei keine Möglichkeit, sich an einem Handlauf festzuhalten, verlor während des Wechsels auf die linke Treppenseite das Gleichgewicht und „stürzte zehn Stufen über die Treppe ab“; diese verlief vom zweiten in das dritte Stockwerk in einer Linkswindung und bestand aus etwa 20 aus Lärchenbrettern gefertigten Stufen. Der Sturz des Klägers ereignete sich im Bereich der 12.Stufe. Dort war eine Stufe 142 cm lang, sowie am rechten Rand 45,5 cm, am linken 11,5 cm und auf halber Länge 28 cm tief. An der Innenseite der Treppe schloß „eine runde Mauerung“ an. An dieser gab es „keinerlei Haltemöglichkeit“. Dagegen war „am rechten Rand der Treppe“ ein Stahlrohrgeländer in einer Höhe von 85 cm fest im Mauerwerk verankert. Rechts war die Treppe „nicht auffallend steil“, wohl jedoch links, „wo die einzelnen Treppenstufen in einem Winkel von 75 bis 80° abfielen“. Die Treppe war in brauchbarem Zustand und „nicht übermäßig ausgetreten“. Besondere Vorkehrungen gegen ein Rutschen waren nicht getroffen. Als Folge seines Sturzes erlitt der Kläger eine leichtgradige Gehirnerschütterung und Prellungen im Bereich des Schädels (mit Abschürfungen), des rechten Knies und der rechten Schulter. Neurologische Spätfolgen sind unwahrscheinlich. Unfallskausal hatte der Kläger - gerafft - einen Tag starke, zehn Tage mittelstarke und drei bis vier Wochen leichte Schmerzen zu erdulden. Nicht feststellbar ist, ob auf der Wendeltreppe vorher andere Personen zu Sturz gekommen waren.

Der Kläger begehrte den Zuspruch von 90.500 S sA (90.000 S Schmerzengeld und 500 S „unfallskausale Spesen“) und brachte im wesentlichen vor, die Beklagte habe ihre „Verkehrssicherungspflicht“ als Hauseigentümerin und Vertragspartnerin verletzt. Die Wendeltreppe am Unfallort sei nämlich „äußerst gefährlich“. Als „Mindesterfordernis“ einer Absicherung wäre die Anbringung einer Haltemöglichkeit an der Treppeninnenseite erforderlich gewesen. Es sei auf der Wendeltreppe „schon mehrfach zu Unfällen und Stürzen mit erheblichen Verletzungen gekommen“.

Die Beklagte wendete im wesentlichen ein, das Stiegenhaus entspreche der Tiroler Bauordnung und den dazu erlassenen technischen Bauvorschriften. Darin sei bloß angeordnet, daß „jede Stiege mindestens an einer Seite mit einem Handlauf ausgestattet sein“ müßte. Bloß Stiegen mit einer Breite von mehr als 1,80 m seien mit Handläufen auf beiden Seiten zu versehen. Die Breite der Wendeltreppe, auf der der Kläger gestürzt sei, betrage jedoch an keiner Stelle 1,80 m. Es liege daher keine Verletzung vertraglicher oder außervertraglicher Rechtspflichten vor. Dem Kläger sei die Örtlichkeit „bestens bekannt“. Dessen Sturz sei durch „Ungeschicklichkeit“ verursacht worden. Der eingeklagte Schaden sei daher „selbst verschuldet“.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab und führte in rechtlicher Hinsicht im wesentlichen aus, jeder Hauseigentümer sei verpflichtet, alle Gänge, Treppen und sonstigen Teile des Gebäudes, die für dessen ordnungsgemäße Benützung erforderlich seien, in einem verkehrssicheren und gefahrlosen Zustand zu erhalten. Die einschlägigen verwaltungsrechtlichen Vorschriften dienten als Vorbeugung gegen in typischer Weise gefahrenträchtige Treppen. Die Wendeltreppe am Unfallort habe den technischen Bauvorschriften des Landes Tirol entsprochen. Wenn auch verwaltungsrechtliche Vorschriften nur „Indiz-, und somit keine Bindungswirkung, für das Zivilrecht“ hätten, wäre die Treppe im Haus der Beklagten nur dann als „typische Gefahrenquelle“ anzusehen gewesen, wenn darauf bereits mehrere Personen zu Sturz gekommen wären. Diese Voraussetzung für eine Haftung der Beklagten sei jedoch nicht erfüllt.

Das Berufungsgericht gab dem Klagebegehren mit 50.500 S sA statt und wies das Mehrbegehren von 40.000 S sA ab. Es sprach aus, daß die ordentliche Revision zulässig sei, und erwog in rechtlicher Hinsicht, jeder Eigentümer eines Hauses sei verpflichtet, die zur ordnungsgemäßen Benützung von Gängen, Treppen und sonstigen Teilen des Hauses erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, um sie in einem verkehrssicheren und gefahrlosen Zustand zu erhalten. Dem Mieter einer Wohnung gewähre überdies das vertragliche Nutzungsrecht „das Verkehrsrecht im Flur und Stiegenhaus zumindest im Bereich zwischen Hauseingang und Wohnungseingang“. Jeder, der auf einem ihm gehörenden oder seiner Verfügung unterstehenden Grund einen Verkehr für Menschen eröffne, habe im Rahmen des Zumutbaren auch für die Verkehrssicherheit zu sorgen, um dadurch Schädigungen Dritter nach Tunlichkeit zu vermeiden. Diese Verpflichtung bestehe im vorliegenden Fall „auch als Ausfluß nebenvertraglicher Schutzpflichten des zwischen den Streitteilen abgeschlossenen Mietvertrages“. Da die Beweislastumkehr gemäß § 1298 ABGB auch auf die Verletzung vertraglicher Nebenpflichten anzuwenden sei, habe der Mieter bloß das Vorliegen des gefährlichen Zustandes und eines ihm dadurch entstandenen Schadens nachzuweisen, während vom Vermieter zu beweisen sei, daß er die nötige Sorgfalt nicht vernachlässigt habe. Dieser hafte bei Verschulden für jeden durch die Vernachlässigung seiner Verpflichtungen entstandenen Schaden. Allerdings dürften die Sorgfaltspflichten eines Hauseigentümers nicht überspannt und die Grenze des Zumutbaren nicht überschritten werden. Ob ein gefährlicher und als solcher schadensursächlicher Zustand bestanden habe, dem der Vermieter in zumutbarer Weise hätte vorbeugen müssen, lasse sich nur anhand des Einzelfalls beurteilen. Im vorliegenden Fall ergebe die durchzuführende Abwägung, daß der Beklagten die Anbringung von Haltegriffen an der Innenseite der Wendeltreppe zumutbar gewesen wäre. Allein die Einhaltung bestehender Bauvorschriften entbinde den Hauseigentümer nicht von seiner allgemeinen Verkehrssicherungspflicht, „aufgrund eigener besserer Erkenntnis“ zumutbare Maßnahmen zur Abwendung von Gefahren zu treffen. Baurechtliche Vorschriften seien daher keine erschöpfende Regelung dessen, was einem Hauseigentümer im Rahmen der allgemeinen Verkehrssicherungspflicht zumutbar sei. Gemäß § 11 Abs 6 der technischen Bauvorschriften seien zwar nur Stiegen mit einer Breite von mehr als 1,80 m an beiden Seiten mit Handläufen auszustatten, doch ergebe sich aus deren § 11 Abs 8 ein „Hinweis für die besondere Gefährlichkeit der gegenständlichen Wendeltreppe“. Danach dürfe „die Steigung von Hauptstiegen, ausgenommen bei Ein- und Zweifamilienhäusern, nicht mehr als 33° betragen“, während die Innenseite der Wendeltreppe im vorliegenden Fall eine Steigung von 75 bis 80° aufgewiesen habe. Ein „tendenzielles Indiz für die Gefährlichkeit“ der Stiege ergebe sich im übrigen aus der „vergleichsweisen Heranziehung der (freilich nicht verbindlichen) Ö-Normen B 5370 und B 5371“; danach seien „Stiegen wie die vorliegende auf beiden Seiten mit Handläufen auszustatten“ und müsse „die Auftrittsfläche einer Stufe mindestens 27 cm betragen“. Es sei daher eine Haftung der Beklagten für das Schadensereignis vom 17.März 1994 zu bejahen. Ein Mitverschulden des Klägers sei nicht erwiesen. Als Schmerzengeld sei aufgrund der vorzunehmenden Globalbemessung ein Betrag von 50.000 S angemessen. Die Revision sei zulässig, weil „zu den Anforderungen an die Verkehrssicherungspflicht bei Wendeltreppen im Fall des (weitgehenden) Fehlens von baupolizeilichen Schutzvorschriften“ eine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs fehle.

Beide Revisionen sind unzulässig.

Rechtliche Beurteilung

Gemäß § 508 a Abs 1 ZPO ist der Oberste Gerichtshof an einen Ausspruch des Berufungsgerichts nach § 500 Abs 2 Z 3 ZPO nicht gebunden.

Die Revision gegen das Urteil des Berufungsgerichts ist gemäß § 502 Abs 1 ZPO nur zulässig, wenn die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage des materiellen Rechts oder des Verfahrensrechts von erheblicher Bedeutung abhängt. An dieser Voraussetzung fehlt es, wenn die zu klärende Rechtsfrage in besonderer Weise durch die Verhältnisse des Einzelfalls determiniert ist und sich in ihrer Bedeutung auf diesen beschränkt. Hielt sich das Berufungsgericht ohne Verkennung der Rechtslage an die durch die ständige Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vorgegebenen Grundsätze, ist deren Anwendung auf den Einzelfall nicht revisibel. Die Kasuistik des Einzelfalls schließt daher im allgemeinen die Zulässigkeit der Revision aus. Nur im Falle einer groben Fehlbeurteilung kann der Lösung einer Rechtsfrage, die nur für den Anlaßfall Bedeutung hat, eine erhebliche Bedeutung im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO unter dem Gesichtspunkt der Wahrung der Rechtssicherheit zukommen. Das gilt insbesondere auch für Ermessensentscheidungen wie im Falle der Beurteilung eines Schmerzengeldanspruchs. Nur wenn bei der Anwendung richterlichen Ermessens ein gravierender, an die Grenzen des Mißbrauchs gehender Fehler unterlief oder ein bestehender Ermessensspielraum eklatant überschritten wurde, kann dies zu einer Korrektur der fehlerhaften Entscheidung durch den Obersten Gerichtshof führen (RZ 1994/45; Kodek in Rechberger, Kommentar zur ZPO Rz 3 zu § 502 je mzwN).

Der Kläger releviert in seiner Revision lediglich eine fehlerhafte Ausmittlung seines Schmerzengeldanspruchs und meint, ihm stehe nicht nur ein Betrag von 50.000 S, sondern ein solcher von 80.000 S zu. Er geht in seiner Argumentation aber von anderen als der vom Erstgericht unbekämpft festgestellten Schmerzperioden aus, will er doch der Beurteilung einen Tag starker, 17 Tage mittelstarker und 39 Tage leichter Schmerzen zugrunde legen. Daß das Berufungsgericht die feststehenden Schmerzperioden unrichtig beurteilt hätte, wird dagegen in der Revision gar nicht behauptet. Der Kläger holt mit seinem Rechtsmittel in Wahrheit nur unzulässigerweise die im Berufungsverfahren zu den Feststellungen über die Schmerzperioden versäumte Beweisrüge nach; die Behauptung, das Erstgericht habe übersehen, daß die nach chirurgischen und neurologischen Gesichtspunkten beurteilten Schmerzperioden zusammenzurechnen gewesen wären (ON 18 S 9 f), kann in dritter Instanz jedenfalls nicht mehr überprüft werden.

Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts lassen sich im übrigen keine in ihrer Bedeutung über den Einzelfall hinausgehenden Aussagen dazu treffen, welche Beschaffenheit eine Wendeltreppe und die damit verbundenen Anlagen haben müßten, um als verkehrssicher zu gelten. Gerade auch wenn eine solche Treppe baurechtlichen Vorschriften im Zeitpunkt ihrer Errichtung entspricht und es - wie offenbar auch hier - an nachträglich erteilten Aufträgen der Baubehörde fehlt, bestimmte, der Sicherheit ihrer Benützer dienende Maßnahmen zu treffen, hängt die Beurteilung ihrer Verkehrssicherheit nur von im Einzelfall maßgebenden Faktoren (etwa Höhe, Länge und Neigungswinkel der Stufen, Breite deren Trittfläche, Lichteinfall und Beleuchtung, allgemeiner Erhaltungszustand des Stiegenhauses bzw dessen Lage in Beziehung zu anderen Bauteilen des Hauses) ab. Es belegt auch die ausführlich begründete und die wesentlichen Themen behandelnde Revision der Beklagten, daß die Entscheidung nicht von der Lösung von Rechtsfragen abhängt, die in ihrer Bedeutung über den Einzelfall hinausgehen. Maßgebend sind vielmehr Wertungen im Rahmen der vom Berufungsgericht richtig dargestellten Rechtslage zu den von der Beklagten gegenüber dem Kläger zu erfüllenden mietvertraglichen Schutz- und Sorgfaltspflichten. Eine auffallende Fehlbeurteilung des Einzelfalls, ausgehend von den durch die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs geprägten Grundsätzen, läßt sich der Entscheidung des Gerichts zweiter Instanz als Voraussetzung für die Zulässigkeit der Revision der Beklagten jedenfalls nicht entnehmen, und zwar auch dann nicht, wenn für die Innenseite der Wendeltreppe tatsächlich bloß von einem Gefälle von 52,52° und nicht einem solchen von 75 bis 80° auszugehen wäre. Die Erwägungen des Berufungsgerichts beruhen nämlich auf zahlreichen anderen Tatsachen, deren Beurteilung in der vorzunehmenden Gesamtschau nicht allein deshalb als kraß unrichtig erschienen, wäre von einem anderen als dem vom Erstgericht für das Treppengefälle festgestellten Winkel auszugehen.

Soweit die Revision einen für die Beurteilung eines allfälligen Mitverschuldens des Klägers relevanten Feststellungsmangel rügt, ist ihr nicht zu folgen. Daß dem Kläger, der vor dem Schadensereignis am 17.März 1994 bereits neun Jahre im dritten Stock des Hauses der Beklagten wohnte, die Anlage und der Zustand der Wendeltreppe sowie das Fehlen eines Handlaufs an deren Innenseite nicht verborgen geblieben sein kann, ist eine nach der Lebenserfahrung offenkundige Tatsache, die keiner besonderen Feststellung bedarf. Die angefochtene Entscheidung läßt auch nicht erkennen, daß das Berufungsgericht bei der Verneinung eines Mitverschuldens des Klägers das für jedermann Offenkundige unbeachtet gelassen hätte. Es ist aber auch die Frage nach einem allfälligen Mitverschulden, wenn - wie hier - eine grobe Fehlbeurteilung jedenfalls zu verneinen ist, nicht revisibel (Kodek in Rechberger aaO Rz 5 zu § 502 mwN).

Beide Revisionen sind daher wegen Fehlens einer erheblichen Rechtsfrage im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO gemäß §§ 508 a Abs 1 und 510 Abs 3 ZPO zurückzuweisen.

Der Beklagten sind die Kosten ihrer Revisionsbeantwortung zuzuerkennen, weil sie darin auf die Unzulässigkeit der Revision des Klägers hinwies. Dagegen hat der Kläger die Kosten seiner Revisionsbeantwortung selbst zu tragen, weil er nicht die Zurückweisung des Rechtsmittels der Beklagten wegen Unzulässigkeit begehrte.

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