Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, daß das Urteil des Erstgerichtes, mit dem das Klagebegehren abgewiesen wurde, zur Gänze wiederhergestellt wird.
Der Kläger hat die Kosten des Revisionsverfahrens selbst zu tragen.
Text
Entscheidungsgründe:
Der am 4.7.1941 geborene Kläger war nach dem Besuch der Pflichtschule in verschiedenen Berufen tätig. Von 1958 bis 1960 absolvierte er eine Buchbinderlehre, daraufhin arbeitete er, unterbrochen durch den Präsenzdienst, später ein halbes Jahr im Ausland und in der Folge bei verschiedenen Dienstgebern in diesem Beruf. Vom 1.6.1986 bis 31.10.1992 war er als selbständiger Tabak-Trafikant erwerbstätig. Die vom Kläger betriebene Tabak-Trafik befand sich am Wiener Südbahnhof und befaßte sich nicht mit dem Lotto-Toto-Geschäft. Er beschäftigte eine Angestellte und eine Teilzeitkraft. In orthopädischer Hinsicht besteht beim Kläger eine Fehlhaltung der Wirbelsäule, eine beginnende Coxarthrose ohne Funktionseinschränkung, Abnützungsleiden beider Kniegelenke noch ohne Behinderung und statische Insuffizienz. In interner Hinsicht leidet er an einem kleinen Zwerchfelldurchbruch sowie einem chronisch rezidivierenden Ulcus duodendi. Zusammenfassend kann der Kläger noch leichte und mittelschwere körperliche Arbeiten in allen Arbeitshaltungen in der normalen Arbeitszeit und bei den üblichen Unterbrechungen, jedoch ohne dauernden besonderen Zeitdruck und ohne Nacht- und Wechselschicht-Arbeiten verrichten.
Mit Bescheid der beklagten Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft vom 18.10.1993 wurde der Antrag des Klägers vom 15.4.1993 auf Gewährung einer Erwerbsunfähigkeitspension gemäß § 132 GSVG abgelehnt.
Mit der rechtzeitigen Klage begehrte der Kläger die Zuerkennung der Erwerbsunfähigkeitspension ab 1.5.1993.
Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens, weil der Kläger nicht dauernd erwerbsunfähig sei.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es gelangte zu dem Ergebnis, daß der Kläger die Erwerbstätigkeit eines selbständigen Tabak-Trafikanten noch ausüben könne. Für diese Tätigkeit seien weder körperlich schwere Arbeiten noch Arbeiten unter dauerndem besonderen Zeitdruck berufsnotwendig; auch Schichtdienste würden im Regelfall nicht anfallen. In der vom Kläger betriebenen Trafik seien Schichtdienste zu leisten gewesen, doch gebe es in ganz Österreich eine ausreichende Anzahl von Trafiken, bei denen dies nicht erforderlich sei. Rechtlich leitete das Erstgericht daraus ab, daß der Kläger nicht erwerbsunfähig iS des § 133 Abs 1 oder 2 GSVG sei. Er könne die Tätigkeit eines selbständigen Tabak-Trafikanten weiterhin ausüben. Da der Kläger zwar das 50., aber noch nicht das 55. Lebensjahr vollendet habe, sei es irrelevant ob er konkret Schichtdienst geleistet habe oder nicht.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers Folge und erkannte ihm die Erwerbsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1.5.1993 zu. Außerdem trug es der Beklagten die Erbringung einer vorläufigen Zahlung von S 5.000,-- auf. Es war der Meinung, daß auf Grund der festgelegten Öffnungszeiten einer Tabak-Trafik von 54,5 Wochenstunden und der sonstigen Arbeitserfordernisse bei einem Tabak-Trafik-Händler ein besonderer Zeitdruck gegeben sei. Die phasenweisen Streßsituationen in den Morgenstunden, in der Mittagszeit und in den Nachmittagsstunden, insbesondere durch das Lotto-Toto-Geschäft, würden auch einem dauernden besonderen Zeitdruck gleichkommen. Damit sei die Tätigkeit eines Tabak-Trafik-Händlers für den Kläger wesentlich kalkülüberschreitend, selbst wenn der Lotto-Toto-Betrieb ausgeschaltet werde. Der Kläger sei daher nicht mehr in der Lage, den Tabak-Trafik-Handel zu betreiben. Auf Grund der eingeschränkten Leistungsfähigkeit sowie des Umstandes, daß er keine kaufmännische Ausbildung genossen habe, könnten keine selbständigen Tätigkeiten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten genannt werden. Daraus folgerte das Berufungsgericht rechtlich, daß der Kläger erwerbsunfähig im Sinn des § 133 Abs 2 GSVG sei, weil er das 50. Lebensjahr vollendet habe, seine persönliche Arbeitsleistung zur Aufrechterhaltung des Betriebes notwendig gewesen sei und weil er außerstande sei, einer selbständigen Erwerbstätigkeit nachzugehen, die eine ähnliche Ausbildung sowie gleichwertige Kenntnisse oder Fähigkeiten wie die Erwerbstätigkeit erfordere, die er zuletzt durch mindestens sechzig Kalendermonate ausgeübt habe.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der beklagten Partei aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung dahin, daß das Ersturteil wiederhergestellt werde, hilfsweise wird Aufhebung und Zurückverweisung beantragt.
Der Kläger erstattete eine Revisionsbeantwortung und beantragte, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist berechtigt.
Der Kläger hat am Stichtag das 50. Lebensjahr vollendet. Wenn man unterstellt, daß seine persönliche Arbeitsleistung zur Aufrechterhaltung seines Betriebes (Tabak-Trafik) ungeachtet der Tatsache, daß er eine Angestellte und eine Teilzeitkraft beschäftigte, notwendig war, dann ist die Frage seiner Erwerbsunfähigkeit seit 1.7.1993 auch nach § 133 Abs 2 GSVG idF der 19. GSVG-Novelle, BGBl 1993/336, zu prüfen. Nach dieser Gesetzesstelle würde der Kläger als erwerbsunfähig gelten, wenn er infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte dauernd außerstande wäre, einer selbständigen Erwerbstätigkeit nachzugehen, die eine ähnliche Ausbildung sowie gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten erfordert wie die von ihm zuletzt durch mindestens sechzig Kalendermonate ausgeübte (selbständige) Erwerbstätigkeit als Tabak-Trafikant. Dabei ist vom medizinischen Leistungskalkül auszugehen, wonach der Kläger lediglich von schweren körperlichen Arbeiten, von Arbeiten mit dauerndem besonderen Zeitdruck und von Schichtarbeit ausgeschlossen ist. Daß es einem Tabak-Trafikanten durchaus zumutbar ist, das Heben und Tragen von für ihn zu schweren Lasten (z.B. von Zeitungspaketen) durch einfache Organisationsmaßnahmen, etwa die Teilung solcher Pakete, zu vermeiden, hat der Senat schon in der Entscheidung SSV-NF 2/70 ausgesprochen und in der Entscheidung 10 ObS 82/95 bekräftigt. In diesem Zusammenhang wurde auch auf die Möglichkeit der Lieferung von Zeitungspaketen auf eine erhöhte, allenfalls bewegliche Ablagefläche hingewiesen (10 ObS 99/95). Aus der bisherigen Judikatur läßt sich entnehmen, daß bei der Beurteilung der Organisationsmöglichkeiten eines Tabaktrafikanten eher ein strenger Maßstab anzulegen ist, was umso mehr gilt, wenn weiteres Personal vorhanden ist. Wie die Beklagte zutreffend ausgeführt hat, widerspricht es tatsächlich der Lebenserfahrung, daß die Tätigkeit eines Tabak-Trafikanten nur unter dauerndem besonderen Zeitdruck ausgeübt werden kann. Einem durchschnittlichen Zeitdruck oder auch einem gelegentlichem besonderen Zeitdruck ist der Kläger nach den Feststellungen ja gewachsen. Daß Tabak-Trafikanten im allgemeinen keinem dauerndem besonderen Zeitdruck ausgesetzt sind, ist offenkundig und bedarf keines weiteren Beweises. Nach den Feststellungen der Entscheidungen SSV-NF 2/70 war die dortige Klägerin überdurchschnittlichlichem Zeitdruck, Akkord- und Fließbandarbeit nicht mehr gewachsen. Dennoch bestand kein Zweifel daran, daß sie die Tätigkeit einer Trafikantin weiterhin ausüben konnte. Nach dem Sachverhalt der Entscheidung 10 ObS 82/95 war der dortige Kläger ständigem durchschnittlichem Zeitdruck gewachsen; auch diese Einschränkung stand der Beurteilung nicht entgegen, daß er weiterhin als Tabak-Trafikant tätig sein könnte. Schließlich geht auch das Berufungsgericht im vorliegenden Fall gar nicht davon aus, daß ein Tabak-Trafikant ständigem besonderen Zeitdruck ausgesetzt ist, weil es Streßsituationen nur "phasenweise", nämlich in den frühen Morgenstunden, zur Mittagszeit und in den späten Nachmittagsstunden annimmt. Wie schon das Erstgericht zutreffend erkannt hat, kommt es jedoch auf die besondere Ausgestaltung der vom Kläger betriebenen Trafik nicht an: der Anspruch auf vorzeitige Alterspension wegen dauernder Erwerbsunfähigkeit nach § 131 c Abs 1 GSVG stellt zwar auf jene selbständige Erwerbstätigkeit ab, die der Versicherte zuletzt ausgeübt hat, setzt aber die Vollendung des 55. Lebensjahres voraus.
Zusammenfassend ergibt sich, daß beim Kläger entgegen den Annahmen des Berufungsgerichtes Erwerbsunfähigkeit iS des § 133 Abs 2 GSVG nicht vorliegt, sodaß in Stattgebung der Revision das die Klage abweisende erstgerichtliche Urteil wiederherzustellen war.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.
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