OGH 10ObS202/95

OGH10ObS202/9531.10.1995

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Heinrich Basalka und Dr. Peter Hübner (beide aus dem Kreis der Arbeitgeber) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Dipl. Ing. Erhard G*****, Pensionist, *****, vertreten durch Dr. Reinhard Tögl und Dr. Nicoletta Wabitsch, Rechtsanwälte in Graz, wider die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft, 1051 Wien, Wiedner Hauptstraße 84-86, wegen Alterspension, infolge Rekurses der klagenden Partei gegen den Beschluß des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 18. Mai 1995, GZ 8 Rs 2/95-11, womit aus Anlaß der Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes für ZRS Graz als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 7. September 1994, GZ 31 Cgs 117/94a-7, und das Verfahren als nichtig aufgehoben und die Klage zurückgewiesen wurden, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluß wird aufgehoben. Dem Berufungsgericht wird die Entscheidung über die Berufung unter Abstandnahme vom Zurückweisungsgrund der Streitanhängigkeit aufgetragen.

Die Kosten des Rekursverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Mit Bescheid der Beklagten vom 2.11.1993 wurde dem Kläger die Alterspension gemäß § 130 GSVG ab 1.6.1993 in der monatlichen Höhe von S 5.609,60 zuerkannt. Gegen diesen Bescheid brachte der Kläger zu 31 Cgs 228/93y des Landesgerichtes für ZRS Graz eine Klage mit der Begründung ein, daß einerseits von einem falschen Pensionsstichtag ausgegangen und andererseits infolge Nichtberücksichtigung weiterer Versicherungszeiten die Pensionshöhe falsch errechnet worden sei. Die Beklagte beantragte die Abweisung dieses Klagebegehrens. Der diesbezügliche Rechtsstreit ist noch in erster Instanz anhängig.

Mit Bescheid vom 29.3.1994 sprach die Beklagte aus, daß gemäß § 194 GSVG die Alterspension des Klägers vom 1.6. bis 31.12.1993 mit monatlich S 5.711,60 und ab 1.1.1994 mit monatlich S 5.854,40 unter Berücksichtigung fremdstaatlicher Versicherungszeiten festgestellt werde. Die Neufeststellung erfolge gemäß § 69 GSVG; dadurch werde der Bescheid vom 2.11.1993 abgeändert. Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger die vorliegende Klage mit dem Begehren, die Beklagte sei schuldig, ihm ab dem der Antragstellung vom 15.12.1980 nächstmöglichen Stichtag die Alterspension in der gesetzlichen Höhe zu zahlen. Dabei stellte der Kläger den Antrag auf Verbindung beider anhängiger Sozialrechtssachen zur gemeinsamen Verhandlung. Die Beklagte beantragte die Abweisung auch dieses Klagebegehrens.

Das Erstgericht sprach dem Kläger die Alterspension entsprechend dem Bescheid der Beklagten vom 29.3.1994 zu, ohne allerdings das den Bescheidinhalt übersteigende Mehrbegehren ausdrücklich abzuweisen.

Gegen dieses Urteil erhob der Kläger Berufung wegen unrichtiger Tatsachenfeststellung infolge Aktenwidrigkeit und unrichtiger Beweiswürdigung sowie unrichtiger rechtlicher Beurteilung. Inhaltlich bekämpfte er das Urteil erster Instanz nur mehr hinsichtlich des Pensionsstichtages. Die Beklagte beantragte in ihrer Berufungsbeantwortung, der Berufung nicht Folge zu geben.

Aus Anlaß dieser Berufung hob das Berufungsgericht das angefochtene Urteil und das erstinstanzliche Verfahren als nichtig auf; es wies die vorliegende Klage wegen Streitanhängigkeit zurück. Zur Begründung führte das Berufungsgericht aus, die zweite Klage scheitere nicht nur an der Identität ihres Klagebegehrens mit der früheren Klage, sondern der Anspruch werde auch aus denselben rechtserzeugenden Tatsachen abgeleitet. Damit sei Streitanhängigkeit iS des § 233 ZPO gegeben. Diese Streitanhängigkeit bewirke, daß während ihrer Dauer über den geltend gemachten Anspruch kein neuer Rechtsstreit durchgeführt werden dürfe. Die Nichtberücksichtigung dieses Hindernisses begründe auch eine in höherer Instanz von Amts wegen wahrzunehmende Nichtigkeit.

Rechtliche Beurteilung

Der gegen diesen Beschluß vom Kläger erhobene Rekurs ist berechtigt.

Das Wesen der sukzessiven Kompetenz der Gerichte in Leistungssachen besteht darin, daß gemäß § 71 Abs 1 ASGG durch die rechtzeitige Einbringung der Klage der Bescheid des Versicherungsträgers im Umfang des Klagebegehrens außer Kraft tritt. Dabei ist nach ständiger Rechtsprechung das Ausmaß des Außerkrafttretens verhältnismäßig weit anzunehmen: Bei Erhebung der Klage wird nur jener Teil des Bescheides rechtskräftig, der sich inhaltlich vom angefochtenen Teil trennen läßt (SSV-NF 1/18 uva). Der beklagte Versicherungsträger hat während des durch die erste Klage gegen seinen die Alterspension feststellenden Bescheid vom 2.11.1993 eingeleiteten Verfahrens den weiteren, ebenfalls die Alterspension feststellenden Bescheid vom 29.3.1994 erlassen, gegen den ebenfalls im Sinne der richtigen Rechtsbelehrung im Bescheid zur Außerkraftsetzung nach § 71 Abs 1 ASGG Klage erhoben wurde. Durch die rechtzeitige zweite Klage trat damit auch der weitere Bescheid im Umfang des Klagebegehrens außer Kraft. Nach der Rechtsprechung des Senates (SSV-NF 4/152; 10 Ob S 137/90; 10 Ob S 127,128/95) ist die zweite Klage aber nicht wegen Streitanhängigkeit zurückzuweisen: Infolge der über einen Anspruch erlassenen verschiedenen Bescheide des Versicherungsträgers kann nämlich von einer völligen Identität des Anspruches nicht gesprochen werden.

Aus § 71 Abs 5 ASGG ist abzuleiten, daß in dem über die zweite Klage eingeleiteten Verfahren selbst die Rechtskraft einer denselben Anspruch betreffenden früher gefällten gerichtlichen Entscheidung nicht zu berücksichtigen wäre, daß also eine solche frühere Entscheidung für den im zweiten Verfahren zu entscheidenden Anspruch des Klägers nicht mehr maßgeblich wäre. Ein auf Grund der gegen den ersten Bescheid gerichteten Klage ergangenes Urteil wäre daher für den Anspruch des Klägers insoweit ohne Bedeutung, als darüber im zweiten Bescheid entschieden wurde. Mit der Erlassung des zweiten Bescheides verliert der Kläger sein Rechtsschutzinteresse an der gerichtlichen Entscheidung über seinen Anspruch auch im darüber noch anhängigen ersten Verfahren (SSV-NF 4/152; 10 Ob S 127, 128/95). Hingegen hätte die Zurückweisung der späteren Klage im Sinne der Auffassung des Berufungsgerichtes zur Folge, daß der spätere Bescheid des Versicherungsträgers - mangels tauglicher Anfechtung - in Rechtswirksamkeit erwüchse und den Kläger in die unhaltbare Lage versetzte, seinen Anspruch überhaupt nicht mehr verfolgen zu können.

Dem Rekurs des Klägers ist daher Folge zu geben, allerdings nicht im Sinne seines weiteren Antrages, der Oberste Gerichtshof wolle auch in der Sache selbst entscheiden und das erstgerichtliche Urteil in stattgebendem Sinne abändern. Da das Berufungsgericht über die Berufung nicht meritorisch, sondern formell im Sinne einer Nichtigerklärung und Zurückweisung der Klage entschieden hat, kann der Oberste Gerichtshof über den berechtigten Rekurs nur dem Berufungsgericht die meritorische Entscheidung über die Berufung auftragen, nicht aber selbst in der Sache erkennen (SSV-NF 5/36; 10 Ob S 127, 128/95).

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG.

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