OGH 10ObS91/95

OGH10ObS91/9522.8.1995

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Bauer und Dr.Ehmayr sowie die fachkundigen Laienrichter Dr.Karlheinz Kux (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Norbert Kunc (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Erika B*****, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, Roßauer Lände 3, 1092 Wien, vertreten durch Dr.Andreas Grundei, Rechtsanwalt in Wien, wegen Pflegegeld, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 26.Jänner 1995, GZ 33 Rs 138/94-14, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 27.Juli 1994, GZ 11 Cgs 54/94z-10, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß sie zu lauten haben:

Das Begehren des Inhalts, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei Pflegegeld der Stufe 2 ab 1.7.1993 zu gewähren, wird abgewiesen.

Text

Entscheidungsgründe:

Bei der Klägerin besteht ein depressiver Verstimmungszustand bei einfach strukturierter Persönlichkeit. Sie ist in der Lage, sich allein an- und auszuziehen, zu waschen, den Wohnraum oberflächlich instand zu halten und einfache Speisen zuzubereiten, und zwar Speisen, die aus einem Gang bestehen wie Fleisch, Salat und Zuspeise. Sie ist in der Lage, die Heizung zu warten, die kleine Leibwäsche zu waschen und Lebensmittel einzuholen. Große Reinigungsarbeiten und das Waschen der großen Wäsche ist ihr nicht möglich. Sie benötigt dreimal wöchentlich (je) eine Stunde Aufsicht damit gewährleistet ist, daß sie die von ihr allein durchzuführenden Tätigkeiten auch tatsächlich verrichtet. Diese Beaufsichtigung ist deshalb erforderlich, weil die Klägerin bei dieser Gelegenheit einen Anstoß von einer Kontrollperson erhalten muß, wobei der ihr vermittelte "Impetus" etwa zwei Tage anhält. Es könnte andernfalls nicht ausgeschlossen werden, daß die Klägerin nach zwei Tagen so antriebslos wäre, daß sie der Verwahrlosung ausgesetzt wäre. Die Reinigung der großen Wäsche ist der Klägerin nur dann zuzumuten, wenn sie hiezu angeleitet wird. Arbeiten an exponierten Stellen wie Fensterputzen und Vorhänge aufhängen sind auszuschließen.

Mit Bescheid vom 17.1.1994 lehnte die beklagte Partei den Antrag der Klägerin vom 28.7.1993 auf Gewährung von Pflegegeld ab.

Mit der gegen diesen Bescheid gerichteten Klage begehrt die Klägerin Pflegegeld der Stufe 2; es bestehe ein Pflege-, Betreuungs- und Hilfsbedarf, der 75 Stunden monatlich übersteige.

Die beklagte Partei beantragt die Abweisung der Klage. Die Klägerin sei in der Lage, alle maßgeblichen Verrichtungen selbst zu besorgen.

Das Erstgericht erkannte im Sinne des Klagebegehrens. Gemäß § 4 EinstV sei die Anleitung und Beaufsichtigung von Menschen mit geistiger oder psychischer Behinderung bei der Durchführung der in den §§ 1 und 2 angeführten Verrichtungen - dazu gehöre auch das Waschen der Wäsche und die gründliche Wohnungsreinigung - der Betreuung und Hilfe selbst gleichzusetzen. Für jede dieser Hilfsverrichtungen sei ein fixer Zeitwert von monatlich 10 Stunden anzunehmen. Der gleiche Wert sei für die Hilfe beim Einkaufen anzusetzen. Dazu kämen nach § 1 EinstV für die Betreuung beim An- und Auskleiden 20 Stunden monatlich, für die Betreuung beim Waschen 25 Stunden und beim Kochen von 30 Stunden. Daraus errechne sich ein Betreuungsaufwand von insgesamt 105 Stunden. Wenngleich die Klägerin der Anleitung nicht täglich bedürfe, sei doch nach § 5 EinstV von einem ständigen Pflegebedarf auszugehen, da dieser Bedarf regelmäßig mehrmals wöchentlich bestehe.

Das Berufungericht gab der Berufung der beklagten Partei nicht Folge.

§ 4 EinstV habe die Fälle im Auge, in denen jemand wohl körperlich in der Lage sei, die dauernd wiederkehrenden lebensnotwendigen Verrichtungen selbst durchzuführen, wegen seiner Kritik- und Antriebslosigkeit jedoch dazu angehalten werden müsse. Danach sei die Anleitung und Beaufsichtigung von Menschen mit geistiger oder psychischer Behinderung bei der Durchführung der in den §§ 1 und 2 leg cit genannten Verrichtungen der Betreuung und Hilfe selbst gleichzusetzen. Auch die Anleitung und Beaufsichtigung zählten daher zum Pflegebedarf und seien unter Berücksichtigung der in den §§ 1 und 2 EinstV normierten zeitlichen Vorgaben bei der Ermittlung des Bedarfsausmaßes in Rechnung zu stellen; der zeitliche Aufwand sei hier insofern der gleiche. § 4 EinstV sehe eine begriffliche Gleichstellung der Anleitung und Beaufsichtigung mit der Betreuung und Hilfe selbst vor. Der dafür erforderliche Pflegeaufwand dürfe daher bei der Ermittlung des Pflegebedarfes nicht außer Betracht bleiben. Es wäre dem Verordnungsgeber offen gestanden, für diesen Aufwand eine eigene zeitliche Pauschalierung vorzunehmen oder auch das System der Pauschalierung zu verlassen; dies sei aber nicht erfolgt. Durch die Gleichstellung mit der Betreuung und Hilfe sei offenbar auf eine systemwidrige und überdies schwierigere Ermittlung des konkreten Anleitungs- und Beaufsichtigungsaufwandes verzichtet worden; es seien vielmehr die zeitlichen Vorgaben der §§ 1 und 2 EinstV herangezogen worden. Es treffe auch nicht zu, daß die in § 4 EinstV genannte Anleitung nur im Sinne einer Anweisung zu einzelnen Verrichtungen und der darauf folgenden Kontrolle zu verstehen sei. Die Bestimmung solle gerade jene Fälle erfassen, in denen der Anstoß zur Verrichtung wiederkehrender Tätigkeiten, die der Kranke rein physisch selbst verrichten könne, in denen aber bei der Ausführung der Tätigkeit die regelmäßige Anwesenheit einer anderen Person notwendig sei. Daß der Anleitungsaufwand, der erforderlich sei, um den psychisch Kranken zu eigenem aktiven Tun zu bewegen, den gleich zeitlichen Aufwand umfassen müsse wie die Tätigkeit selbst und daß die Anwesenheit der Kontrollperson während der gesamten Tätigkeit erforderlich sei, könne dem Wortlaut des § 4 EinstV nicht entnommen werden und es finde sich auch in den Erläuternden Bemerkungen kein Hinweis in dieser Richtung. Der Zeitaufwand für die Anleitung sei daher mit demselben Zeitwert anzusetzen wie die Tätigkeiten, zu denen die Anleitung erforderlich sei. Im übrigen bestünde Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 1 jedenfalls auch dann, wenn der Anleitungsaufwand nur im tatsächlich aufzuwendenden Ausmaß angesetzt würde, weil die Klägerin nicht in der Lage sei, sich eine ordentliche Mahlzeit zuzubereiten und auch Hilfe bei der Wohnungsreinigung bedürfe, so daß sich ein Gesamtaufwand von mehr als 50 Stunden monatlich ergebe.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der beklagten Partei aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, daß das Klagebegehren abgewiesen werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Klägerin hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist berechtigt.

Gemäß § 4 EinstV ist die Anleitung und Beaufsichtigung von Menschen mit geistiger oder psychischer Behinderung bei der Durchführung der in den §§ 1 und 2 EinstV angeführten Verrichtungen der Betreuung und Hilfe selbst gleichzusetzen. Die betroffene Person ist hier zwar rein physisch in der Lage, die in Frage kommenden Verrichtungen zu besorgen, kann dies aber wegen einer im psychischen Bereich liegenden Behinderung nur unter Anleitung und unter Aufsicht einer Betreuungsperson besorgen. Die Bestimmung hat Fälle im Auge, in denen die Anwesenheit der Betreuungsperson während der Verrichtung erforderlich ist (arg "Anleitung und Beaufsichtigung .......... bei der Verrichtung"). Nur in diesem Fall erklärt sich die Regelung der Verordnung, daß die Anleitung und Beaufsichtigung mit dem für die Verrichtungen in den §§ 1 und 2 bestimmten Zeitwert gleichzusetzen ist.

Im vorliegenden Fall bedarf die Klägerin der Anwesenheit einer Betreuungsperson während der Vornahme der Verrichtungen nicht. Erforderlich ist nur dreimal wöchentlich ein einstündiges Gespräch, in dem die Klägerin auf alle notwendigen Tätigkeiten zur Pflege ihrer Person und zur Instandhaltung des Haushaltes hingewiesen wird; die dabei erörterten Verrichtungen besorgt sie dann durch 2 Tage selbständig, ohne daß sie einer Aufsicht bedarf. Diese Gespräche und Hinweise entsprechen nicht dem Tatbestandsmerkmal der "Anleitung und Beaufsichtigung" im Sinne des § 4 EinstV, sondern stellen sich vielmehr als eine Form der psychischen Betreuung der Klägerin dar. Sie dienen dazu, der Klägerin, bei der eine Antriebsschwäche besteht, den Rahmen der notwendigen Tätigkeiten vorzugeben, wobei der notwendige Zeitaufwand im Verhältnis zu dem für die Verrichtungen selbst erforderlichen Zeitaufwand relativ geringt ist. § 4 EinstV ist daher auf diesen Fall nicht anwendbar.

Der Bundesminister für Arbeit und Soziales ist gemäß § 4 Abs 5 BPGG ermächtigt, nach Anhörung des Bundesbehindertenbeirates nähere Bestimmungen für die Beurteilung des Pflegebedarfes durch Verordnung festzulegen. Die Verordnung kann insbesondere festlegen: 1. eine Definition der Begriffe "Betreuung" und "Hilfe", 2. Richtwerte für den zeitlichen Betreuungsaufwand, wobei verbindliche Mindestwerte zumindest für die tägliche Körperpflege, die Zubereitung und das Einnehmen von Mahlzeiten sowie für die Verrichtung der Notdurft festzulegen sind, 3. verbindliche Pauschalwerte für den Zeitaufwand der Hilfsverrichtungen. ................. Diese Bestimmung gibt dem Bundesminister für Arbeit und Soziales den Regelungsumfang der Verordnung vor, doch ergibt sich hieraus nicht, daß sämtliche denkbaren Verrichtungen von der Verordnung erfaßt sein müssen, daß diese sohin die einzige Grundlage für die Beurteilung des Pflegeaufwandes bildet. So führt etwa auch Pfeil, Neuregelung der Pflegevorsorge in Österreich, 183 dazu aus, daß für die meisten Verrichtungen im Rahmen der Betreuung und für alle Hilfsverrichtungen Vorgaben hinsichtlich des dafür jeweils zu veranschlagenden zeitlichen Ausmaßes getroffen wurden; er räumt damit ein, daß Betreuungsmaßnahmen denkbar sind, die von der Regelung der Verordnung nicht erfaßt sind und diese damit nicht erschöpfend ist. Die Gesetzesmaterialien (776 BlgNR 18.GP, 26) weisen darauf hin, daß die Festlegung von Pauschalwerten für den Zeitaufwand unbedingt erforderlich sei, da eine Prüfung im Einzelfall verwaltungstechnisch zu aufwendig und damit kaum administrierbar wäre. Da das Pflegegeld außerdem nur der teilweisen Abdeckung des pflegebedingten Mehraufwandes diene, erscheine überdies schon aus diesem Grund eine Pauschalierung sachlich gerechtfertigt. Durch die Pauschalierung solle auch eine einheitliche Entscheidungspraxis im gesamten Bundesgebiet sichergestellt werden. Auch die Gesetzesmaterialien bieten daher keinen Hinweis darauf, daß die EinstV eine abschließende Regelung für alle Betreuungsfälle vorzunehmen hätte. Die dort dargestellten Motive für die getroffene Regelung lassen eher den Schluß zu, daß die gängigsten, häufigsten Fälle des Betreuungsaufwandes der Pauschalierung unterworfen werden sollen, um die Erledigung der Masse der Fälle nach einer einheitlichen Leitlinie sicherzustellen. Dies schließt aber nicht aus, daß in einzelnen Fällen, in denen ein spezifischer Betreuungsaufwand anfällt, der sich vom üblichen unterscheidet, dessen Umfang konkret zu ermitteln ist.

Wurden durch die EinstV für eine bestimmte Betreuungsverrichtung Pauschalwerte nicht festgelegt, so ist daher der tatsächlich notwendige Zeitaufwand zu ermitteln und in Anschlag zu bringen. Hier steht fest, daß die Klägerin dreimal wöchentlich eines Betreuungsgespräches von einer Stunde bedarf. Der Zeitaufwand beträgt daher auf ein Monat berechnet etwa 12 Stunden. Dieser Wert ist bei Prüfung des geltend gemachten Anspruches zugrunde zu legen.

Nicht beigetreten werden kann auch der Ansicht des Berufungsgerichtes, daß die Klägerin zur Zubereitung von Mahlzeiten der Betreuung bedarf. Nach den Feststellungen ist sie in der Lage, eine aus einem Gang bestehende Mahlzeit, und zwar Fleisch, Salat und Zuspeise selbst zuzubereiten. Dafür, daß der Betroffene imstande ist, für seine Ernährung selbst vorzusorgen, ist aber nicht erforderlich, daß er in der Lage ist, mehrgängige Menüs zu kochen. Da die Klägerin eine aus Fleisch, Zuspeise und Salat bestehende Mahlzeit selbst herstellen kann, ist sichergestellt, daß sie sich aus eigenem auf angemessene Weise ernähren kann. Die Voraussetzungen für einen Betreuungsaufwand für das Zubereiten einer Mahlzeit gemäß § 1 Abs 4

2. Fall EinstV bestehen daher nicht.

Bedarf nach Hilfe von dritter Seite benötigt die Klägerin nach den Feststellungen für die Reinigung der Wohnung und das Waschen der Wäsche. Dafür ist ein Zeitaufwand von 20 Stunden (§ 2 Abs 3 EinstV) zu veranschlagen. Berücksichtigt man zusätzlich den Betreuungsbedarf für die dreimal wöchentlichen einstündigen Gespräche, die der Motivierung der Klägerin dienen, so ergibt sich ein Gesamtaufwand von 32 Stunden, der damit unter der Grenze liegt, ab der nach dem Gesetz Anspruch auf Pflegegeld besteht.

Das Begehren der Klägerin ist daher nicht berechtigt.

Eine Kostenentscheidung entfällt, da Kosten nicht verzeichnet wurden.

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