OGH 10ObS140/95

OGH10ObS140/9520.7.1995

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Ehmayr als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Dr.Pipin Henzl (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Martin Pohnitzer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Ilse W*****, ohne Beschäftigung, ***** wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr.Hans Pernkopf, Rechtsanwalt in Wien, wegen Berufsunfähigkeitspension infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 12.April 1995, GZ 11 Rs 16/95-13, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Wels als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 22.November 1994, GZ 27 Cgs 118/94-10, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Text

Entscheidungsgründe:

Mit Bescheid vom 8.4.1994 wies die beklagte Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten den Antrag der Klägerin vom 29.11.1993 auf Berufsunfähigkeitspension ab.

Das auf diese Leistung ab 1.12.1993 gerichtete Klagebegehren stützt sich im wesentlichen darauf, daß die ua an fokalen Anfällen mit Bewußtseinstrübung leidende Klägerin ihren Beruf als Operator nicht mehr ausüben könne.

Die Beklagte wendete im wesentlichen ein, die Klägerin sei mit diesem Leiden ins Erwerbsleben eingetreten, und beantragte die Abweisung des Klagebegehrens.

Das Erstgericht erkannte das Klagebegehren als dem Grunde nach zu Recht bestehend und trug dem Versicherungsträger eine vorläufige Zahlung von 6.000 S monatlich auf.

Es traf folgende wesentliche Tatsachenfeststellungen:

Die am 22.10.1942 geborene Klägerin war von November 1957 bis April 1958 als Hilfsarbeiterin, von Mai 1958 bis Jänner 1959 aus Hausgehilfin, von September 1959 bis Juni 1960 als Wäschereigehilfin und seit Juni 1960 als Operator beschäftigt, und zwar etwa ab 1972 in Schichtarbeit.

Sie leidet seit ihrer Kindheit an cerebralen Anfällen ohne klare Ätiologie. Obwohl sie deswegen im Schulalter mehrmals ärztlich untersucht wurde und dauernd in antiepileptischer Behandlung stand, verstärkte sich das Krankheitsbild bis zur Pubertät hin. Etwa ab dem 20. Lebensjahr war die Klägerin bei laufender Medikation etwa zehn Jahre lang zumindest von generalisierten Anfällen frei. Erst um das

30. Lebenjahr trat im zeitlichen Zusammenhang mit der Aufnahme der Schichtarbeit neuerlich ein generalisierter Anfall auf. Es kamen auch wieder kleine Anfälle und ein chronischer Spannungskopfschmerz hinzu. In den letzten Jahren ereigneten sich die generalisierten tonisch-klonischen Anfälle etwa einmal jährlich. Hingegen treten monatlich durchschnittlich zwei bis elf partielle Anfälle, teilweise in Serien, überwiegend mit psychischer und vegetativer Symptomatik auf. Diese kleinen Anfälle sind mit länger dauernden Dämmerzuständen verbunden. Die erhebliche Beeinträchtigung der Klägerin durch ein einzelnes Anfallereignis resultiert vor allem aus der etwa ein bis zwei Stunden dauernden psychischen Begleitsymptomatik. Diese äußert sich zunächst im Gefühl, "nicht denken zu können", anschließend in einem Angstgefühl, manchmal in Zwangsweinen, und dem Bedürfnis, sich hinlegen zu müssen. Weitere konstante psychische Veränderungen iS epileptischer "Wesensveränderungen" sind nicht nachweisbar.

Die Klägerin ist bei Einhalten der üblichen Arbeitspausen "prinzipiell" für leichte Arbeiten im Sitzen, Stehen und Gehen geeignet. Alle Arbeiten, bei denen sie unter erhöhtem psychischem Druck stünde, wie Schicht-, Akkord- und Nachtarbeiten und sonstige Arbeiten unter ständig erhöhtem Zeitdruck, scheiden aus. Bei der angegebenen und aufgrund des Anfallskalenders rekonstruierbaren Anfallsfrequenz sind jedoch weit überdurchschnittliche, aus dem Anfallsleiden resultierende Krankenstände von mehr als acht Wochen jährlich zu erwarten, zumal die Klägerin trotz korrekter medizinischer Behandlung eine relative Therapieresistenz zeigt und "mit einer tageszeitlichen Bindung der Anfälle nicht zwingend gerechnet werden kann". Die therapeutischen Möglichkeiten sind zur Zeit ausgeschöpft.

Wegen der zu erwartenden langen Krankenstände erachtete das Erstgericht die Klägerin als berufsunfähig iS des § 273 Abs 1 ASVG. Sie habe zwar schon vor der Aufnahme ihrer (ersten) Erwerbstätigkeit an cerebralen Anfällen unterschiedlicher Intensität gelitten und sei mit dieser gesundheitlichen Beeinträchtigung in das Versicherungsverhältnis eingetreten. Sie sei jedoch einmal nahezu zehn Jahre anfallsfrei gewesen und während dieses beachtlichen Zeitraumes ohne jede körperliche und geistige Beeinträchtigung ihrer Berufstätigkeit nachgegangen. Anschließend habe sie diese trotz der wieder aufgetretenen cerebralen Anfälle weitere 20 Jahre ausgeübt. Deshalb könne nicht von einem im wesentlichen unveränderten körperlichen und geistigen Zustand während des gesamten Arbeitslebens gesprochen werden.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten, in der unvollständige Tatsachenfestellung und unrichtige rechtliche Beurteilung geltend gemacht wurden, nicht Folge.

Nach der rechtlichen Beurteilung des Gerichtes zweiter Instanz setze der zu den Versicherungsfällen der geminderten Arbeitsfähigkeit zählende Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit nach stRsp des Obersten Gerichtshofes voraus, daß sich der körperliche oder geistige Zustand des Versicherten nach dem Beginn seiner Erwerbstätigkeit in einem für die Arbeitsfähigkeit wesentlichen Ausmaß verschlechtert hat. Das Erstgericht habe aber zutreffend die Besonderheit des vorliegenden Falles beachtet, daß die Klägerin (während ihres Berufslebens) einmal fast zehn Jahre anfallsfrei gewesen und während dieses beachtlichen Zeitraumes ihrer Berufstätigkeit ohne jede körperliche und geistige Beeinträchtigung nachgegangen sei. Die höchstgerichtliche Judikatur, nach der ein bereits vor Beginn der Erwerbstätigkeit eingetretener und damit in das Versicherungsverhältnis eingebrachter, im wesentliche unveränderter körperlicher oder geistiger Zustand nicht zum Eintritt eines Versicherungsfalles der geminderten Arbeitsfähigkeit führen könne, stelle nicht bloß auf den Zeitpunkt des Eintrittes in das Berufsleben, sonder auch darauf ab, inwiefern während desselben eine wesentliche Änderung eingetreten sei. Auch dann sei die (bestandene) Arbeitsfähigkeit iS des § 273 Abs 1 ASVG "herabgesunken". In den bisher entschiedenen Fällen sei der in die Erwerbstätigkeit eingebrachte Zustand unverändert geblieben; der Zustand der Klägerin sei hingegen während eines erheblichen Zeitraumes ihrer Berufstätigkeit dem eines unbeschränkt arbeitsfähigen Versicherten gleichzuhalten gewesen. Selbst wenn die Klägerin beim Eintritt in das Erwerbsleben invalid gewesen wäre, wäre sie später wieder arbeitsfähig geworden. Diese (wiedererlangte) Arbeitsfähigkeit sei nunmehr wieder herabgesunken.

In der unbeantwortet gebliebenen Revision macht die Beklagte Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und unrichtige rechtliche Beurteilung der Sache geltend; sie beantragt, das angefochtene Urteil im klageabweisenden Sinn abzuändern oder es, allenfalls auch das der ersten Instanz, aufzuheben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, aber nicht berechtigt.

Die geltend gemachte Mangelhaftigkeit (§ 503 Z 2 ZPO) liegt nicht vor (§ 510 Abs 3 leg cit). Entgegen der Meinung der Revisionswerberin hat das Berufungsgericht keine von denen des Erstgerichtes abweichenden Feststellungen getroffen. Es hat seiner Entscheidung vielmehr gemäß § 498 Abs 1 ZPO "die in den erstrichterlichen Prozeßakten und im Urteile der ersten Instanz festgestellten, durch die geltend gemachten Berufungsgründe nicht berührten Ergebnisse der Verhandlung und Beweisführung zugrunde gelegt". Dabei hat es diese Ergebnisse nicht "umgewürdigt", sondern deren Bedeutung in ihrem Zusammenhang richtig erfaßt.

Die rechtliche Beurteilung des festgestellten Sachverhaltes durch das Berufungsgericht ist richtig (§ 48 ASGG). Zu diesen Feststellungen gehört auch, daß die Klägerin etwa vom zwanzigsten bis zum dreißigsten Lebensjahr anfallsfrei war und ihrer Berufstätigkeit ohne jede körperliche und geistige Beeinträchtigung nachgehen konnte. Vergleicht man den Gesundheitszustand der Klägerin während ihres dritten Lebensjahrzehntes mit dem nunmehrigen, dann ergibt sich eine wesentliche Verschlechterung und damit das für den Eintritt des Versicherungsfalles der Berufsunfähigkeit wesentliche Herabsinken der während des Versicherungsverhältnisses bestandenen Berufsfähigkeit. Dies entspricht der von den Vorinstanzen beachteten stRsp des Obersten Gerichtshofes (SSV-NF 1/33 und 67; 2/87; 4/60; 5/14 und 100; 6/28; 8/2 und 46). Danach gehört zum Begriff der Versicherungsfälle der geminderten Arbeitsfähigkeit auch die Voraussetzung, daß sich der körperliche oder geistige Zustand des Versicherten nach dem Beginn der Erwerbstätigkeit in einem für die Arbeitsfähigkeit wesentlichen Ausmaß verschlechtert hat. Ein bereits vor dem Beginn der Erwerbstätigkeit eingetretener, im wesentlichen unveränderter körperlicher oder geistiger Zustand kann daher nach dieser Rsp bei Leistungen aus diesen Versicherungsfällen nicht zum Eintritt des Versicherungsfalles führen.

Da sich der Gesundheitszustand der Klägerin während ihrer Erwerbstätigkeit zunächst bis zu ihrer vollen Arbeitsfähigkeit gebessert und sodann wieder wesentlich verschlechtert hat, sind die von der Revision vermißten Feststellungen darüber, in welcher Dauer epilepsiebedingte Krankenstände vor dem Eintritt ins Erwerbsleben zu erwarten waren, nicht entscheidungswesentlich.

Soweit die Rechtsrüge nicht davon ausgeht, daß die Klägerin etwa vom zwanzigsten bis zum dreißigsten Lebensjahr anfallsfrei war und ihrer Berufstätigkeit ohne jede körperliche und geistige Beeinträchtigung nachgehen konnte, und daß wegen der seit dem Stichtag auftretenden Anfallsfrequenz mit hoher Wahrscheinlichkeit Krankenstände von mehr als acht Wochen jährlich zu erwarten sind, ist diese Rüge nicht gesetzgemäß ausgeführt. Eine Beweisrüge ist jedoch wegen der abschließenden Aufzählung der Revisionsgründe im § 503 ZPO nicht zulässig.

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