OGH 10ObS253/94

OGH10ObS253/9420.6.1995

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Bauer als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Hon.Prof.Dr.Gottfried Winkler (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Walter Benesch (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Rosa T*****, ohne Beschäftigung, ***** vertreten durch Dr.Maria Hoffelner, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, wegen Invaliditätspension infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 15.Juni 1994, GZ 31 Rs 49/94-87, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 8.September 1993, GZ 14 Cgs 8/93f-78, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben. Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten der Berufung und der Revision sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Mit Bescheid vom 14.1.1989 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin vom 14.11.1988 auf Invaliditätspension mangels Invalidität ab.

Dieser Bescheid ist durch die innerhalb der Frist von drei Monaten ab seiner Zustellung (§ 67 Abs 2 ASGG) erhobene Klage zur Gänze außer Kraft getreten (§ 71 Abs 1 leg cit). Ihr iS des § 82 dieses Gesetzes hinreichend bestimmtes Begehren richtet sich auf eine Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab dem Stichtag. Es stützt sich darauf, daß die am 26.10.1948 geborene, in den letzten 15 Jahren vor dem Pensionsantrag überwiegend als Bedienerin tätig gewesene Klägerin wegen Hypertonie, Angina pectoris, starker Wirbelsäulenabnützung und Platzangst keiner geregelten Tätigkeit nachgehen könne.

Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Die Klägerin könne alle mittelschweren Arbeiten während der normalen Arbeitszeit ohne größere Unterbrechungen leisten und deshalb zB noch als Bürobedienerin, Adjustiererin, Wäschelegerin, Sortiererin und Etikettiererin arbeiten.

Im ersten Rechtsgang wies das Erstgericht das Klagebegehren ab.

Es stellte im wesentlichen fest, daß die Klägerin überwiegend als Bedienerin tätig war. Neben mehreren internen und chirurgisch-orthopädischen Leiden besteht ein Paniksyndrom mit Agoraphobie. Dieses ist grundsätzlich behandelbar, wobei verschiedene, gut erprobte und bewährte medikamentöse Therapien bestehen, deren Erfolgsaussichten auch für die Klägerin als gut zu beurteilen sind. Die Einnahme dieser Medikamente ist unter ärztlicher Aufsicht und Kontrolle gefahrlos. Die Klägerin kann seit der Antragstellung leichte und mittelschwere Arbeiten im Gehen, Stehen und Sitzen während der normalen Arbeitszeit mit den üblichen Pausen verrichten, wenn diese nicht unter dauerndem besonderem Zeitdruck und nicht in andauernder Hitze vor sich gehen. Sie ist für einfache Arbeiten unterweisbar, kann eingeordnet werden und den Arbeitsplatz erreichen. Diese Arbeitsfähigkeit reicht für mehrere Hilfsarbeitertätigkeiten aus, zB für die Tätigkeit einer Bürobedienerin oder Bedienerin in Privathaushalten. Deshalb gelte die Klägerin nicht als invalid iS des § 255 Abs 3 ASVG.

Dieses Urteil wurde mit Beschluß des Berufungsgerichtes vom 16.12.1992 ON 64 aufgehoben; die Sozialrechtssache wurde zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Das Berufungsgericht vertrat die Rechtsansicht, daß ein Versicherter zwar verpflichtet sei, eine Krankenbehandlung, die zur Wiederherstellung seiner Arbeitsfähigkeit führen würde, durchzuführen. Ein Verstoß gegen diese Verpflichtung liege jedoch nur vor, wenn der Versicherte von einer solchen Behandlungsmöglichkeit Kenntnis habe. Es werde daher zu klären sein, ob die unbehandelten Panikattacken Arbeitsunfähigkeit nach sich ziehen, (bejahendenfalls) seit wann das unbehandelte Paniksyndrom mit Agoraphobie vorliegt, seit wann die Klägerin Kenntnis von einer erfolgversprechenden Behandlungsmöglichkeit hat und welcher Zeitraum für eine solche Behandlung zu veranschlagen ist.

Auch im zweiten Rechtsgang wies das Erstgericht das Klagebegehren ab.

Es traf folgende ergänzende Feststellungen: Das Paniksyndrom mit Agoraphobie liegt seit dem Jahre 1985 vor. Schon damals wurden an der (Wiener) Psychiatrischen Universitätsklinik eine medikamentöse Behandlung, eine Bewegungs-, eine Entspannungs- und eine Gruppentherapie eingeleitet. Auch im Jahre 1992 wurden der Klägerin medikamentöse und psychotherapeutische Behandlungsmöglichkeiten erklärt und angeboten. Panikattacken in der anläßlich der Durchuntersuchung im Jahre 1991 im Krankenhaus Rosenhügel beobachteten Stärke machen einen Krankenstand von drei bis vier Wochen notwendig, nach dem die Arbeitsfähigkeit wiederhergestellt ist. Bei einer Stabilisierung der familiären Situation, psychotherapeutischen Maßnahmen, zB iS einer Verhaltenstherapie, und medikamentöser Behandlung und bei Vermeidung psychisch belastender Situationen ist zu erwarten, daß so schwere Panikattacken vermieden werden können. Das Auftreten leichterer Panikattacken wurde im Kalkül des Sachverständigen für Neurologie "unter Einbeziehung der psychologischen Testuntersuchung" bereits berücksichtigt. Aus diesem Grund wurden Arbeiten unter dauerndem besonderem Zeitdruck ausgeschlossen. Leichtere Panikattacken iS eines phobischen Zustandsbildes sind praktisch idente Beschwerden im Rahmen einer Neurose und damit willentlich beeinflußbar. Bei ihrem Gesundheitszustand kann die Klägerin seit der Antragstellung leichte und mittelschwere Arbeiten in der normalen Arbeitszeit mit den üblichen Pausen leisten, die nicht unter dauerndem besonderem Zeitdruck (Band- und Akkordarbeiten) stehen und nicht in andauernder Hitze ablaufen. Sie ist für einfache Arbeiten unterweisbar, kann eingeordnet werden und kann die Wege zum und vom Arbeitsort zurücklegen.

Unter diesen Umständen sei die Klägerin nicht invalid iS des § 255 Abs 3 ASVG.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge.

Es verneinte die behauptete Mangelhaftigkeit (keine Vernehmung einer behandelnden Ärztin), hatte keine Bedenken gegen die bekämpften Tatsachenfeststellungen und teilte auch die rechtliche Beurteilung des Erstgerichtes. Nach dem Aufhebungsbeschluß sei zu klären gewesen, ob die Klägerin während der unbehandelten Panikattacken arbeitsunfähig gewesen sei. Dies sei zu verneinen. Auch schwere Anfälle seien nur mit einem Krankenstand von drei bis vier Wochen verbunden. Unter entsprechender Medikation würden schwere Anfälle aber nicht mehr auftreten. Deshalb könne dahingestellt bleiben, wann die Panikattacken erstmals vorlagen und wie lange eine erfolgreiche Therapie dauert.

In der Revision macht die Klägerin unrichtige rechtliche Beurteilung (der Sache) geltend; sie beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben oder es allenfalls im klagestattgebenden Sinn abzuändern.

Die Beklagte erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nach § 46 Abs 3 ASGG in der hier noch anzuwendenden Fassung BGBl 1989/343 zulässig; sie ist auch iS des Aufhebungsantrages berechtigt.

Da die Klägerin nicht überwiegend in erlernten (angelernten) Berufen iS des § 255 Abs 1 und 2 ASVG tätig war, gilt sie nach Abs 3 leg cit als invalid, wenn sie infolge ihres körperlichen oder geistigen Zustandes nicht mehr imstande ist, durch eine Tätigkeit, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet wird und die ihr unter Berücksichtigung der von ihr ausgeübten Tätigkeiten zugemutet werden kann, wenigstens die Hälfte des Entgeltes zu erwerben, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt.

Diese besondere Anspruchsvoraussetzung für die begehrte Invaliditätspension liegt nach den für die rechtliche Beurteilung maßgeblichen erstgerichtlichen Feststellungen vor. Danach leidet die Klägerin seit dem Jahre 1985, also bereits mehrere Jahre vor dem Stichtag, ua an einem Paniksyndrom mit Agoraphobie. Eine solche Diagnose ist nur zu stellen, wenn mindestens drei Panikattacken innerhalb eines Zeitraumes von drei Wochen auftreten, die nicht auf einer ausgeprägten körperlichen Erschöpfung oder einer lebensbedrohlichen Situation beruhen, wenn sich die Panikattacken in abgegrenzten Perioden mit Ängstlichkeit oder Furcht zeigen und mindestens vier der folgenden Symptome auftreten: Dyspnoe, Palpitationen, Schmerzen mit Unwohlsein in der Brust, Erstickungs- oder Beklemmungsgefühl, Benommenheit, Gefühl der Unwirklichkeit, Parästhesien, Hitze- und Kältewellen, Schwitzen, Schwäche, Zittern, Furcht zu sterben oder verrückt zu werden, und wenn diese Panikattacken nicht durch eine körperliche oder psychische Störung, zB typische Depression, Somatisierungssyndrom oder Schizophrenie bedingt sind (Gutachten von Ärzten der 1. Neurologischen Abteilung des Neurologischen Krankenhauses der Stadt Wien - Rosenhügel ON 43). Derart schwere Panikattacken machen einen Krankenstand von drei bis vier Wochen notwendig; während dieser Zeit ist die Klägerin also nicht in der Lage, einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit nachzugehen. Daraus, daß das Paniksyndrom mit Agoraphobie seit dem Jahre 1985 besteht, ist der Schluß zu ziehen, daß die Klägerin seither dauernd invalid iS des § 255 Abs 3 ASVG ist.

Vorübergehende Invalidität läge nur vor, wenn zu erwarten wäre (begründete Aussicht bestünde), daß sich der gesundheitliche Zustand der Klägerin, der das Absinken ihrer Arbeitsfähigkeit unter das gesetzliche Mindestmaß herbeigeführt hat, mit Sicherheit oder doch hoher Wahrscheinlichkeit (zB SSV 7/8; 18.4.1994, 10 Ob S 193/94) in absehbarer Zeit so weit bessern wird, daß Invalidität nicht mehr vorläge (SSV-NF 8/46 mwN). Der Revisionswerberin ist darin zuzustimmen, daß diese Voraussetzung nicht zutrifft. Bei dem seit dem Jahre 1985 vorliegenden, die Arbeitsunfähigkeit bewirkenden Paniksyndrom mit Agoraphobie handelt es sich um ein grundsätzlich behandelbares, aber bisher nicht ausreichend behandeltes Krankheitsbild. Bei psychotherapeutischen Maßnahmen, zB iS einer Verhaltenstherapie, und medikamentöser Behandlung ist bei einer Stabilisierung der familiären Situation und bei Vermeidung psychisch belastender Situationen zu erwarten, daß schwere Panikattacken, die die Arbeitsunfähigkeit bewirken, vermieden werden können. Dafür, daß sich die schon vor der Antragstellung und damit seit vielen Jahren bestehende familiäre Situation, die die Klägerin ungemein belastet, in absehbarer Zeit wenn schon nicht mit an Sicherheit grenzender, so doch mit hoher Wahrscheinlichkeit wesentlich bessern würde, besteht nach den Verfahrensergebnissen kein Anhaltspunkt.

Aber selbst dann, wenn bei der Klägerin nur vorübergehende Invalidität vorläge, deren Ende von der Duldung bzw Mitwirkung von bzw an therapeutischen Maßnahmen abhinge, wäre erst die schuldhafte Verletzung dieser Duldungs- bzw Mitwirkungspflicht für das Ende des Anspruches auf Invaliditätspension maßgebend und die Leistung für jenen Zeitraum zuzuerkennen, in dem die Invalidität bestanden hätte, wenn die Klägerin diesen Pflichten ordnungsgemäß nachgekommen wäre (SSV-NF 7/8 mwN).

Wie schon erwähnt, wäre die Invalidität selbst dann nicht in absehbarer Zeit zu beenden, wenn sich die Klägerin entsprechenden medikamentösen und psychotherapeutischen Behandlungen unterwürfe, die ihr übrigens durchaus zumutbar wären. Diese Behandlungen würden nämlich nur unter der Voraussetzung zu einem Erfolg führen, daß sich die belastende familiäre Situation wesentlich bessert. Der Klägerin kann jedoch nicht vorgeworfen werden, daß sie sich nicht aus der sie (auch) stark belastenden familiären Situation (Zusammenleben mit dem Ehegatten und den Kindern) gelöst hat. Ein(e) Versicherte(r) ist zwar verpflichtet, diagnostische und therapeutische Maßnahmen zu dulden, die keine Gefahren für Leben oder Gesundheit bergen, nicht mit erheblichen Schmerzen verbunden sind und keinen erheblichen Eingriff in seine körperliche, aber auch geistige und seelische Unversehrtheit bedeuten. Es wäre jedoch ein Eingriff in den ua durch Art 8 Europäische Menschenrechtskonvention garantierten Anspruch auf Achtung des Privat- und Familienlebens, von einem (einer) Versicherten zu verlangen, im Interesse der Versichertengemeinschaft etwa das Zusammenleben mit dem Ehegatten oder den Kindern aufzugeben. Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts ist nach Abs 2 des zit Art nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist. In diesem Zusammenhang darf nicht unberücksichtigt bleiben, daß der Ehegatte der Klägerin dieser nach § 90 ABGB ua zum Beistand verpflichtet ist, auf den sie wegen ihres Leidens besonders angewiesen ist.

Obwohl davon auszugehen ist, daß die Klägerin seit dem Stichtag (1.12.1988) dauernd invalid ist, ist die Streitsache noch nicht vollständig erörtert und zur Entscheidung reif (§ 193 Abs 1 ZPO). Da die Vorinstanzen die vom Revisionsgericht bejahte besondere Anspruchsvoraussetzung der Invalidität verneint haben, wurde die im § 254 Abs 1 ASVG in der am Stichtag geltenden Fassung genannte allgemeine Voraussetzung des Anspruches auf Invaliditätspension, daß die Wartezeit erfüllt ist (§ 236), schon in erster Instanz weder erörtert noch geprüft.

Aus diesem Grund sind die Urteile beider Vorinstanzen aufzuheben; die Sozialrechtssache ist an das Prozeßgericht erster Instanz zur Verhandlung und Urteilsfällung zurückzuverweisen (§ 496 Abs 1 Z 3, §§ 499, 503 Z 4 und 513 ZPO).

Der Vorbehalt der Entscheidung über den Ersatz der Kosten der Berufung und der Revision beruht auf dem gemäß § 2 Abs 1 ASGG auch in Sozialrechtssachen anzuwendenden § 52 Abs 1 ZPO.

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