OGH 10ObS46/95

OGH10ObS46/9511.4.1995

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Bauer als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Dr.Franz Köck (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Gerald Kopecky (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Ing.Herbert B*****, Angestellter, ***** vertreten durch Dr.Franz F. Podovsovnik, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr.Anton Paul Schaffer, Rechtsanwalt in Wien, wegen Berufsunfähigkeitspension infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 19.Oktober 1994, GZ 33 Rs 105/94-33, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Wiener Neustadt als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 10.Juni 1994, GZ 4 Cgs 337/93f-27, teilweise bestätigt und teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das Urteil des Berufungsgerichtes, das hinsichtlich der Abweisung des Mehrbegehrens auf Berufsunfähigkeitspension für die Zeit vom 1.8.1992 bis 30.6.1993 als unangefochten unberührt bleibt, wird im übrigen dahin abgeändert, daß es zu lauten hat:

"Das Klagebegehren, die Beklagte sei schuldig, dem Kläger ab 1.7.1993 eine Berufsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren, wird abgewiesen.

Der Kläger hat seine Verfahrenskosten selbst zu tragen."

Text

Entscheidungsgründe:

Mit undatiertem Bescheid wies die Beklagte den Antrag des Klägers vom 29.7.1992 auf Berufsunfähigkeitspension ab, weil er nicht berufsunfähig und am Stichtag, dem 1.8.1992, in der Pensionsversicherung nach dem ASVG pflichtversichert gewesen sei.

Das Erstgericht wies das auf Leistung einer Berufsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1.8.1992 gerichtete Klagebegehren ab.

Es traf folgende wesentliche Tatsachenfeststellungen:

Der am 1.4.1944 geborene Kläger leidet seit der Antragstellung an einer chronischen Raucherbronchitis, einer geringen (alkoholischen) Fettleber und an einem Zustand nach Alkoholerkrankung mit etwas hypomanischer Verstimmung bei neurotisch-strukturierter Persönlichkeit. Er ist intellektuell gut begabt, Abbauzeichen finden sich nicht; er ist unterweisbar und kann eingeordnet werden. Er kann körperlich leichte und mittelschwere Arbeiten, geistig auch schwere Arbeiten in der normalen Arbeitszeit mit den üblichen Arbeitspausen leisten und den Arbeitsplatz erreichen. Ausgeschlossen sind Arbeiten in der chemischen Industrie, in der Tabak- und Alkoholindustrie und in der Gastronomie, in staubigem Milieu und unter dauerndem besonderem Zeitdruck. Er kann gewohnte - also bisher ausgeübte - Tätigkeiten weiter ausüben, soweit es sich nicht um Führungspositionen (führende Tätigkeiten) handelt, bei denen Entscheidungen zu treffen sind, die die Existenz eines Unternehmens betreffen. Eine derzeit noch zumutbare Alkoholabstinenz kann das Absinken des Kurzzeitgedächtnisses verhindern.

Der Kläger ist HTL-Absolvent und seit 1.9.1970 als technischer Angestellter bei der S***** AG ***** beschäftigt. Mit 1.1.1967 kam er in die VGr VI. Am 1.3.1977 wurden ihm Gruppenvollmacht und Handlungsvollmacht erteilt. Seit der Einstufung in die VGr VI bezog sich seine Verantwortung auf den Rechnerdienst der Programm- und Systemabwicklung Nr 1 des Unternehmens, den er selbständig leitete. Er war Leiter eines der beiden Rechenzentren eines Großunternehmens und damit Leiter der gesamten EDV in einem Unternehmen mit Großanlagen bei umfassender integrierter Anwendung iS der VGr VI des Rahmenkollektivvertrages für Angestellte der Industrie. Der Umfang (richtig: Umsatz) dieses Rechnerdienstes betrug pro Jahr 20,000.000 S, die jährlichen Investitionen rund 6,000.000 S; die Verwaltung der Kunden- und Leihanlagen (Fremdanlagen) betraf einen Anlagewert von 38,000.000 S. Der Kläger war nur einem Vorgesetzten direkt untergeordnet, der seinerseits direkt dem Vorstand unterstellt ist. Ihm selbst waren sechs Mitarbeiter, überwiegend HTL-Ingenieure, unterstellt, für deren Beurteilung er zuständig war. Alle anderen Personalentscheidungen konnten nur im Einvernehmen mit dem Vorstand getroffen werden. Eine fehlerhafte Tätigkeit des Klägers hätte zu einer essentiellen Schädigung der Abteilung BS 1 (Softwareentwicklung) mit 300 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von 350,000.000 S führen können. Die Handlungsvollmacht ist für alle Rechts- und Bankgeschäfte an die Zeichnung durch zwei Bevollmächtigte gebunden. Im internen Verkehr sind Einzelfertigungen möglich. So konnte der Kläger allein hinsichtlich des ihm unterstehenden Anlagevermögens Entscheidungen über das Ausscheiden von Vermögenswerten (Abbuchungen etc) treffen. In dem Unternehmen werden Beschäftigte ab der VGr VI als "Oberbeamte" tituliert. Mit dieser Einreihung ist auch eine "Oberbeamtenpension" verbunden. Bei einer Rückreihung in die VGr V würde die dann wirksame "Tarifangestelltenpension" nur ein Zehntel der Oberbeamtenpension betragen. Der Kläger bezieht ein Gehalt von 66.000 S. Die kollektivvertragliche Entlohnung betrüge 55.982 S. Für eine Verweisung kämen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt die der VGr V zuzuordnenden Tätigkeiten eines Systemprogrammierers, eines Programmierers, der projektbezogene Gesamtprogramme erstellt, und eines Analytikers in Betracht, der aufgrund seiner besonderen Qualifikation schwierige Organisationsabläufe für die Programmierung vorbereitet. Aufgrund seiner bisherigen umfassenden Tätigkeit auf dem Gebiet der EDV müßte der Kläger die entsprechenden Kenntnisse für diese Arbeiten besitzen. Es handelt sich dabei nicht um ausgesprochene Führungspositionen und auch nicht um Tätigkeiten, die das Florieren eines Unternehmens direkt entscheidend beeinflussen.

Da die Verweisung auf diese Tätigkeiten nicht mit einem unzumutbaren Abstieg verbunden sei, gelte der Kläger nicht als berufsunfähig.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers teilweise Folge. Es änderte das angefochtene Urteil dahin ab, daß es das Klagebegehren ab 1.7.1993 dem Grunde nach als zu Recht bestehend erkannte und der Beklagten ab 1.7.1993 eine vorläufige Zahlung von monatlich 10.000 S auftrug. Das auf eine Berufsunfähigkeitspension für die Zeit vom 1.8.1992 bis 30.6.1993 gerichtete Mehrbegehren wies es ab.

Das Berufungsgericht ging davon aus, daß der Kläger die seit 1.3.1977 ausgeübten Tätigkeiten eines leitenden Angestellten der VGr VI nicht mehr ausüben könne. Die vom Erstgericht genannten Verweisungstätigkeiten der VGr V könnte er nicht in einer ausgesprochenen Führungsposition ausführen. Mit einer solchen Verweisung wäre ein unzumutbarer sozialer Abstieg verbunden. Die frühere Stellung des Klägers als Abteilungsleiter genieße nämlich in den Augen der Öffentlichkeit ein wesentlich höheres Ansehen als die untergeordneten Verweisungstätigkeiten. Jede Verweisung auf eine Tätigkeit in der zweiten und dritten Führungsebene bedeute grundsätzlich einen unzumutbaren sozialen Abstieg (WBl 1993, 329). Deshalb bestehe das Klagebegehren seit 1.7.1993 dem Grunde nach zu Recht. Das Mehrbegehren für die Zeit vom 1.8.1992 bis 30.6.1993 sei wegen der Pflichtversicherung in diesem Zeitraum abzuweisen.

Gegen den stattgebenden Teil des Berufungsurteils richtet sich die Revision der Beklagten wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung der Sache; sie beantragt, das Berufungsurteil iS einer gänzlichen Abweisung des Klagebegehrens abzuändern.

Der Kläger erstattete eine Revisionsbeantwortung; er beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig und berechtigt.

Nach § 273 Abs 1 ASVG gilt der Versicherte als berufsunfähig, dessen Arbeitsfähigkeit infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. In diesem Rahmen muß sich der Versicherte grundsätzlich auch auf andere, geringere Anforderungen stellende und geringer entlohnte Berufe seiner Berufsgruppe verweisen lassen, sofern damit nicht ein unzumutbarer sozialer Abstieg verbunden ist. Ein solcher Abstieg liegt vor, wenn die Verweisungstätigkeiten in den Augen der Umwelt ein wesentlich geringeres Ansehen genießen. Die Einstufung einer Tätigkeit in einem Kollektivvertrag bildet dabei einen Anhaltspunkt für die Einschätzung des sozialen Wertes und wird daher nach stRsp zur Beurteilung eines sozialen Abstieges herangezogen. Die Verweisung eines Angestellten auf Tätigkeiten, die einer Beschäftigungs- oder Verwendungsgruppe entsprechen, die der bisherigen unmittelbar nachgeordnet ist, wird in stRsp für zulässig erachtet; durch eine solche Verweisung werden die Unzumutbarkeitsgrenzen nicht überschritten (SSV-NF 4/16; 6/135 uva, zuletzt 14.3.1995, 10 Ob S 45/95).

Dem Erstgericht und der Revisionswerberin ist darin beizupflichten, daß der Kläger bei Berücksichtigung dieser stRsp ohne unzumutbaren sozialen Abstieg von seiner bisherigen Tätigkeit als Angestellter der VGr VI (Leiter eines Großrechners) auf verschiedene Tätigkeiten eines kaufmännischen und administrativen Angestellten der VGr V verwiesen werden kann. Angestellte dieser VGr erledigen Arbeiten, die besonders

verantwortungsvoll sind, selbständig ausgeführt werden müssen und zu denen umfangreiche, überdurchschnittliche Berufskenntnisse und mehrjährige praktische Erfahrungen erforderlich sind. Ferner zählen zu dieser VGr Angestellte, die regelmäßig und dauernd mit der verantwortlichen Führung, Unterweisung und Beaufsichtigung von größeren Angestelltengruppen (über fünf Angestellte, von denen entweder einer der VGr IV oder mehrere der VGr III angehören müssen) beauftragt sind. Die Annahme des Berufungsgerichtes, der Kläger wäre in der ersten Führungsebene tätig gewesen und könne deshalb nicht in die zweite oder dritte Führungsebene verwiesen werden, geht nicht von der erstgerichtlichen Feststellung aus, daß der Kläger einem Vorgesetzten direkt untergeordnet war, der seinerseits wieder direkt dem Vorstand unterstellt war. Danach gehörte der Kläger also sicher nicht der ersten, sondern am ehesten der dritten Führungsebene an.

Das Berufungsurteil ist daher wie aus dem Spruch ersichtlich abzuändern.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

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