OGH 10ObS32/95

OGH10ObS32/9528.3.1995

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Bauer als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Dr.Michael Manhard (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag.Ernst Löwe (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Albert G*****, vertreten durch Dr.Peter Jandl, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, wegen Hilflosenzuschusses und Pflegegeldes infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 9.September 1994, GZ 32 Rs 82/94-30, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 18.Jänner 1994, GZ 7 Cgs 189/93x-21, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß sie zu lauten haben:

"1. Die Beklagte ist schuldig, dem Kläger zur Pension einen Hilflosenzuschuß zu zahlen, und zwar für die Zeit vom 27.7. bis 31.12.1992 im monatlichen Ausmaß von 3.002 S und für die Zeit vom 1.1. bis 30.6.1993 im monatlichen Ausmaß von 3.028 S, alle Beträge binnen vierzehn Tagen.

2. Die Beklagte ist weiters schuldig, dem Kläger ab 1.7.1993 das Pflegegeld in Höhe der Stufe 2 zu gewähren, und zwar vom 1.7. bis 31.12.1993 im monatlichen Ausmaß von 3.500 S, vom 1.1. bis 31.12.1994 im monatlichen Ausmaß von 3.588 S und ab 1.1.1995 im monatlichen Ausmaß von 3.688 S. Das bis zur Rechtskraft fällige Pflegegeld ist binnen vierzehn Tagen zu zahlen, das weitere Pflegegeld jeweils am Monatsersten im voraus."

Die Beklagte hat dem Kläger binnen vierzehn Tagen die einschließlich 1.127,04 Umsatzsteuer und 40 S weiteren Barauslagen mit 6.802,24 S bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens und die einschließlich 676,48 S Umsatzsteuer mit 4.058,88 S bestimmten Kosten der Revision zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Mit Bescheid vom 28.9.1992 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers vom 27.7.1992 auf Hilflosenzuschuß ab.

Die Klage, die kein ausdrückliches Begehren enthält, aber offenbar bis 30.6.1993 auf den abgelehnten Hilflosenzuschuß, ab 1.7.1993 auf das Pflegegeld gerichtet ist, stützt sich im wesentlichen darauf, daß der Kläger nach einem im April 1992 erlittenen Schlaganfall und einer Lungenentzündung neun Wochen im Spital gewesen sei. Seit dem Schlaganfall könne er nicht mehr allein gehen, sondern sich nur langsam fortbewegen, wenn er sich dauernd mit einer Hand anhalte; er könne seine Hände nicht mehr wie früher gebrauchen und deshalb seinen Krankenfahrstuhl nicht bedienen; er könne keine Wäsche waschen, sich nicht bücken und komme allein nicht aus dem Haus. Wegen einer wesentlichen Verschlechterung seines Gesundheitszustandes sei er vom 15.7. bis 6.8.1993 und vom 10.8. bis 29.9.1993 neuerlich in stationärer Krankenhauspflege gewesen.

Das Erstgericht wies im Spruch seines Urteils das Klagebegehren, die Beklagte sei schuldig, dem Kläger "ab 27.7.1992 einen Hilflosenzuschuß im gesetzlichen Ausmaß" zu gewähren, ausdrücklich ab. Aus dem letzten Absatz der Entscheidungsgründe ergibt sich, daß das Unterbleiben der spruchmäßigen Abweisung des auf ein Pflegegeld ab 1.7.1993 gerichteten Begehrens eine offenbare und daher an sich gemäß § 419 ZPO berichtigungsfähige Auslassung darstellt (vgl Rechberger in Rechberger, ZPO § 419 Rz 3).

Nach den erstgerichtlichen Feststellungen wohnt der am 28.1.1936 geborene Kläger in einer zentralbeheizten Mezzaninwohnung, zu der vom Straßenniveau zehn Stufen hinaufführen. In der zentralbeheizten Wohnung befinden sich ein WC und ein Badezimmer, ein Gasherd und ein Kühlschrank sind vorhanden. Die zur Deckung des "Tagesbedarfes" erforderlichen Geschäfte, ein Arzt und eine Apotheke befinden sich "im Umkreis von wenigen Gassen". Beim Kläger bestehen diskrete Halbseitenzeichen links, eine schwere Polyneuropathie der Beine mit Muskelatrophie und Beinschwäche. Deshalb kann er nur kurz stehen, wobei er sich wegen Schwindelanfällen anhalten muß. "Sonst" muß er einen Rollstuhl benützen. Eine cerebelläre Ataxie macht das Gehen ohne Krücken unmöglich. Der Kläger kann ohne fremde Hilfe aufstehen und sich niederlegen, sich waschen, die Toilette aufsuchen und sich (nach Verrichtung der Notdurft) reinigen, sich an- und auskleiden, sitzend kleine, einfache Speisen zubereiten, die Nahrung einnehmen, "die Wohnung ober der Tischebene oberflächlich säubern", die kleine Wäsche waschen und die Heizung warten. Für Reinigungsarbeiten unter Tischebene, für die Zubereitung vollständiger Mahlzeiten und für alle außerhäuslichen Erledigungen benötigt er eine Hilfsperson.

Das Erstgericht nahm an, daß der Kläger wöchentlich acht Stunden (monatlich rund 35 Stunden) eine Hilfskraft brauche. Der dadurch entstehende monatliche Aufwand von rund 2.800 S liege unter der durchschnittlichen Höhe des Hilflosenzuschusses von 3.100 S. Deshalb sei der Kläger (bis 30.6.1993) nicht hilflos iS des §105a ASVG gewesen. Da seine "Behinderung" auch die nach der Einstufungsverordnung zum (Bundes)Pflegegeldgesetz erforderlichen "Richtwerte" nicht erreiche, könne auch kein Pflegegeld zuerkannt werden.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge; es bestätigte das angefochtene Urteil mit der Maßgabe, daß auch das Begehren, ab 1.7.1993 ein Pflegegeld zu gewähren, spruchmäßig abgewiesen wurde.

Das Gericht der zweiten Instanz verneinte die geltend gemachte Mangelhaftigkeit, übernahm die erstgerichtlichen Feststellungen und teilte auch deren rechtliche Beurteilung. Da der Kläger nur für die Zubereitung vollständiger Mahlzeiten, das Großreinemachen und die außerhäuslichen Erledigungen fremder Hilfe bedürfe, sei er nicht hilflos iS des § 105a ASVG. Sein Pflegebedarf betrage monatlich nicht mehr als 50 Stunden; deshalb gebühre auch kein Pflegegeld.

In der Revision macht der Kläger unrichtige rechtliche Beurteilung (der Sache) und Mangelhaftigkeit des Verfahrens geltend; er beantragt, das Berufungsurteil im klagestattgebenden Sinn abzuändern oder es, allenfalls auch das Urteil der ersten Instanz, aufzuheben.

Rechtliche Beurteilung

Die Beklagte erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Die Revision ist nach § 46 Abs 3 ASGG in der gemäß Art X § 2 Z 7 Arbeits- und Sozialgerichts-Novelle 1994 BGBl 624 hier noch anzuwendenden Fassung BGBl 1989/343 jedenfalls zulässig; sie ist auch berechtigt.

Allen am 1.7.1993 noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren sind nach § 43 Abs 2 Bundespflegegeldgesetz - BPGG BGBl 1993/110 - für die Zeit bis zum 30.Juni 1993 die bis zu diesem Zeitpunkt jeweils für die Beurteilung des Anspruches geltenden Bestimmungen der im § 3 leg cit genannten Normen zugrunde zu legen; § 38 Abs 1 erster Satz und Abs 2 gelten sinngemäß. Dies gilt auch für gerichtliche Verfahren.

Ob dem Kläger für die Zeit bis 30.6.1993 die Erhöhung seiner Pension infolge Zuerkennung eines Hilflosenzuschusses gebührt, ist daher nach § 105a ASVG und nicht nach § 4 Abs 1 und 2 BPGG und der Verordnung des Bundesministers für Arbeit und Soziales über die Beurteilung des Pflegebedarfes nach dem Bundespflegegeldgesetz (Einstufungsverordnung zum Bundespflegegeldgesetz) BGBl 1993/314 zu beurteilen. Falls dem Kläger zum 30.6.1993 ein Hilflosenzuschuß zustünde, wäre ihm wegen der im § 43 Abs 2 zweiter Halbsatz BPGG verfügten sinngemäßen Geltung des § 38 Abs 1 erster Satz leg cit von Amts wegen mit Wirkung vom 1.7.1993 nach den Vorschriften dieses Bundesgesetzes ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 2 zuzusprechen. Stünde ihm zum 30.6.1993 kein Hilflosenzuschuß zu, dann wäre zu prüfen, ob er seit 1.7.1993 Anspruch auf Pflegegeld hat (vgl SSV-NF 8/58 mwN).

Nach § 105a ASVG gebührte Beziehern einer Pension ....., die derart hilflos waren, daß sie ständig der Wartung und Hilfe bedurften, zu der Pension ein Hilflosenzuschuß (Abs 1 Satz 1) im halben Ausmaß der Pension, jedoch mindestens 2.887 S (1992) bzw 3.002 S (1993) und höchstens 2.969 S (1992) bzw 3.028 S (1993) (Abs 2). Für den Kläger kämen die jeweiligen Höchstbeträge in Betracht.

Nach der seit der E SSV-NF 1/46 stRsp des erkennenden Senates gebührt der Hilflosenzuschuß dann, wenn ein Pensionist aus gesundheitlichen Gründen notwendige Verrichtungen nicht mehr allein ausführen kann und die deshalb aufzuwendenden Kosten fremder Hilfe üblicherweise unter Berücksichtigung zur Verfügung stehender oder Personen mit ähnlichen Einkommen im selben Lebenskreis üblicherweise zur Verfügung stehender Hilfsmittel mindestens so hoch sind wie der begehrte Hilflosenzuschuß.

Diese Voraussetzungen treffen beim Kläger entgegen der Einschätzung der Vorinstanzen zu. Bei ihm fällt besonders ins Gewicht, daß er in sehr hohem Maß in seiner Beweglichkeit eingeschränkt ist: er kann nur dann kurz stehen, wenn er sich dabei anhält; Gehen ohne Krücken ist (auch innerhalb der Wohnung) unmöglich; sonst muß er einen Rollstuhl benützen. Er braucht (täglich) Hilfe für die Zubereitung vollständiger Mahlzeiten, - entgegen der Meinung des Berufungsgerichtes - nicht nur für das Großreinemachen, sondern für alle Reinigungsarbeiten unter Tischniveau, insbesondere also auch zum Säubern des Fußbodens, für die über die Reinigung der kleinen Wäsche hinausgehenden, vom Berufungsgericht aber nicht berücksichtigten Wäsche-, Kleider- und Schuhreinigungsarbeiten und schließlich für alle außerhäuslichen Erledigungen, vor allem für das Herbeischaffen von Nahrungsmitteln, Medikamenten und anderen Bedarfsgegenständen. Die - für die Zeit vor dem 1.7.1993 allerdings noch nicht unmittelbar anzuwendende - Einstufungsverordnung zum Bundespflegegeldgestz setzt für die Zubereitung von Mahlzeiten einen zeitlichen Mindestwert von einer Stunde (§ 1 Abs 4) fest und für die Herbeischaffung von Nahrungsmitteln und Medikamenten, die Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände, die Pflege der Leib- und Bettwäsche und die Mobilitätshilfe im weiteren Sinn je einen - auf den Monat bezogenen - fixen Zeitwert von zehn Stunden an (§ 2 Abs 2 und 3). Danach wäre im vorliegenden Fall ein monatlicher Pflegebedarf von 70 Stunden anzunehmen. Selbst wenn man berücksichtigt, daß diese Stundenanzahl für die Zeit vor dem 1.7.1993 deshalb zu verringern ist, weil der Kläger die Reinigung der Wohnung teilweise selbst vornehmen und die kleine Wäsche selbst waschen konnte, ist der erforderliche monatliche Zeitaufwand einer Hilfskraft erheblich höher als von den Vorinstanzen einzuschätzen, die dafür nur etwa 35 Stunden annahmen. Selbst unter Zugrundelegung des auch vom Berufungsgericht eingesetzten Stundenlohnes von 80 S ergibt sich daher insgesamt ein monatlicher Mehraufwand, der den begehrten Hilflosenzuschuß erreicht (vgl SSV-NF 6/121). Deshalb gebührt dem Kläger für die Zeit vom 27.7.1992 (Tag der Anmeldung des Anspruches auf Erhöhung der Pension um den Hilflosenzuschuß - § 97 Abs 1 ASVG) bis 30.6.1993 nach § 105a ASVG zur Pension ein Hilflosenzuschuß im gesetzlichen Ausmaß. Ab 1.7.1993 gebührt ihm gemäß § 4 Abs 1 iVm dem nach § 43 Abs 2 sinngemäß geltenden § 38 Abs 1 erster Satz BPGG das Pflegegeld in Höhe der Stufe 2 in dem sich aus § 5 Abs 1 und 2 leg cit und der auf Grund des Abs 3 dieser Gesetzesstelle erlassenen Verordnungen ergebenden Ausmaß.

Die Urteile der Vorinstanzen sind daher wie aus dem Spruch ersichtlich abzuändern.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a und Abs 2 ASGG (Bemessungsgrundlage 50.000 S) iVm dem gemäß § 2 Abs 1 leg cit auch in Sozialrechtssachen anzuwendenden § 50 Abs 1 ZPO. Der Schriftsatz vom 31.5.1994 ON 28 war zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung nicht notwendig. Die im Berufungsverfahren verzeichneten Postgebühren sind mit dem Einheitssatz abgegolten (§ 23 Abs 1 RATG).

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