Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Das angefochtene Urteil und der stattgebende Teil sowie die Kostenentscheidung des Urteils der ersten Instanz, das in seinem unangefochtenen abweisenden Teil unberührt bleibt, werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird im Umfang der Aufhebung, also in Ansehung der ab 1.6.1992 geltend gemachten Berufsunfähigkeitspension, an das Erstgericht zur Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Die Kosten der Revisionsbeantwortung sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung
Mit Bescheid vom 5.2.1992 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin vom 24.9.1991 auf Berufsunfähigkeitspension ab, weil Berufsunfähigkeit nicht vorliege.
Das auf die abgelehnte Leistung im gesetzlichen Ausmaß gerichtete Klagebegehren stützt sich im wesentlichen darauf, daß die zuletzt als Sekretärin beschäftigte Klägerin wegen einer operativen Versteifung der linken Hüfte keiner regelmäßigen Erwerbstätigkeit nachgehen könne. Sie sei bis Dezember 1990 nach dem ASVG, bis 31.5.1992 nach dem GSVG, anschließend nicht mehr pflichtversichert gewesen.
Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Sie wendete ua ein, daß die Klägerin ihre bisherige Tätigkeit als Sekretärin bzw eine ähnliche Beschäftigung ausüben könne.
Das Erstgericht erkannt die Beklagte schuldig, der Klägerin ab 1.6.1992 eine Berufsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren; das Mehrbegehren auf eine Berufsunfähigkeitspension für die Zeit vom 1.10.1991 bis 31.5.1992 wies es ab.
Nach den wesentlichen Feststellungen der ersten Instanz war die am 29.9.1942 geborene Klägerin nach dem Besuch einer Handelsakademie überwiegend als Sekretärin tätig, und zwar zunächst in einem Metallbetrieb, seit 1.3.1990 in einer Steuerberatungskanzlei. Sie war zuletzt kollektivvertraglich in die Beschäftigungsgruppe 5 eingestuft. Auf die Feststellungen über den körperlichen und geistigen Zustand wird Bezug genommen. "Aus orthopädischer Sicht" kann die Klägerin während der normalen Arbeitszeit mit den üblichen Pausen leichte Arbeiten leisten; und zwar überwiegend im Sitzen, bis zu einem Drittel der Arbeitszeit, aber nicht kontinuierlich auch im Gehen und Stehen. Spätestens nach 30-minütigem ununterbrochenen Sitzen muß sie etwa ein bis zwei Minuten gehen können; kann sie innerhalb von 30 Minuten öfter kurz aufstehen und gehen, reichen auch kürzere Wegstrecken als Ausgleichsbewegungen aus. Die Sitzposition sollte erhöht sein; die Verwendung eines Arthrodesestuhls ist erforderlich. Tätigkeiten, die mit gehäuftem Bücken verbunden sind, und Arbeiten auf Leitern und Gerüsten sind ausgeschlossen. Die Anmarschwege sind nicht eingeschränkt. Die Tätigkeit einer Sekretärin oder einer Sachbearbeiterin ist auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt überwiegend mit Sitzhaltung verbunden. Diese wird durch den Arbeitsablauf begründet zeitweise unterbrochen, zB zum Holen von Geschäftsunterlagen, zur Ablage von Geschäftsfällen, zur Unterschriftsvorlage und dgl. Weitere Unterbrechungen mit Haltungsausgleich ergeben sich durch das Gehen zur Toilette, zur Zubereitung von Kaffee und dgl. Es kann allerdings auch häufiger vorkommen, daß Arbeiten in absoluter Sitzhaltung über 30 Minuten andauern, ohne daß sich durch den Arbeitsablauf ein Haltungswechsel ergibt. Für Sekretärinnen und Arbeitnehmerinnen in verwandten Berufen besteht die Möglichkeit, ihre Arbeit so einzuteilen, daß es im Abstand von etwa 30 Minuten zu kurzem Aufstehen und Gehen kommt. Eine solche Arbeitseinteilung wird von Arbeitgebern toleriert, nicht aber, wenn alle 30 Minuten Gehstrecken von mehr als etwa zehn Schritten möglich sein müssen. Die Verwendung eines Arthrodesestuhls wird im Hinblick auf die Möglichkeit der Finanzierung nach dem Arbeitsmarktförderungsgesetz bzw dem Behinderteneinstellungsgesetz in der Regel toleriert. Arbeiten an exponierten Stellen oder mit ständigem Bücken kommen (in den genannten Berufen) nicht vor.
Nach der Rechtsansicht des Erstgerichtes erfordere die Einstellung einer Büroangestellten, der die Verwendung eines speziellen Arthrodesestuhls und entweder jede halbe Stunde eine Pause von ein bis zwei Minuten oder fortlaufend Pausen nach wenigen Minuten Arbeiten zum Zweck von Ausgleichsbewegungen gestattet werden müssen, ein unzumutbares Maß an Entgegenkommen des Arbeitgebers. Die ständigen Pausen würden nämlich mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erheblichen Störungen des Betriebsablaufes führen. Deshalb gelte die seit dem 1.6.1992 nicht mehr pflichtversicherte Klägerin seither als berufsunfähig iS des § 273 ASVG.
Die Abweisung des Mehrbegehrens blieb unbekämpft.
Das Berufungsgericht gab der gegen den stattgebenden Teil des erstgerichtlichen Urteils gerichteten Berufung der Beklagten nicht Folge. Es teilte die rechtliche Beurteilung des Erstgerichtes, daß die Klägerin nicht mehr auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen werden könne, weil sie spätestens nach 30-minütiger Arbeit im Sitzen eine ein- bis zweiminütige Arbeitspause benötige.
In der Revision macht die Beklagte unrichtige rechtliche Beurteilung geltend; sie beantragt, das Berufungsurteil im klageabweisenden Sinn abzuändern oder es allenfalls aufzuheben.
Die Klägerin beantragt in der Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig; sie ist auch iS des Eventualantrages berechtigt.
Bei der Pensionsversicherung der Angestellten handelt es sich um eine Berufsgruppenversicherung, deren Leistungen bereits einsetzen, wenn der (die) Versicherte infolge seines (ihres) körperlichen und/oder geistigen Zustandes einen Beruf seiner (ihrer) Berufsgruppe nicht mehr ausüben kann. Dabei ist in der Regel von jenem Angestelltenberuf auszugehen, den der (die) Versicherte zuletzt nicht nur vorübergehend ausgeübt hat. Dieser Beruf bestimmt das Verweisungsfeld, das sind alle Berufe, die derselben Berufsgruppe zuzurechnen sind, weil sie eine ähnliche Ausbildung und gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten verlangen (SSV-NF 7/51 und 61; 8/45 jeweils mwN; die letzte E befaßt sich auch mit der Frage, wann die gesundheitsbedingte Aufgabe eines qualifizierten Berufes bei der Beurteilung der Berufsunfähigkeit nicht mehr zu berücksichtigen ist). Innerhalb seiner (ihrer) Berufsgruppe darf der (die) Versicherte nicht auf Berufe verwiesen werden, die für ihn (sie) einen unzumutbaren sozialen Abstieg bedeuten würden (SSV-NF 7/57). Bei der Prüfung der Verweisungsmöglichkeiten ist für die Zuordnung zu einer bestimmten Beschäftigungs- oder Verwendungsgruppe die Art der ausgeübten Beschäftigung, nicht aber die vom Arbeitgeber vorgenommene Einreihung oder das ausgezahlte Gehalt entscheidend (SSV-NF 6/53 mwN; 7/57).
Die Feststellung, daß die Klägerin nach dem Besuch der Handelsakademie überwiegend als "Sekretärin", zunächst in einem Metallbetrieb, seit 1.3.1990 in einer Steuerberatungskanzlei, beschäftigt und zuletzt kollektivvertraglich in der Beschäftigungsgruppe 5 eingestuft war, reicht für die Beurteilung, welchen Beruf sie iS der obigen Ausführungen zuletzt ausgeübt hat, nicht aus. "Sekretäre" sind zB im Kollektivvertrag für die Handelsangestellten als Angestellte mit selbständiger Tätigkeit im Büro- und Rechnungswesen in die Beschäftigungsgruppe 4 eingereiht, wenn es sich um Sekretäre des Betriebsinhabers oder der mit der Führung des Betriebs betrauten Angestellten handelt. Angestellte im Büro- und Rechnungswesen, die Sekretariatstätigkeiten mit Dispositions- und/oder Anweisungstätigkeit selbständig und verantwortlich ausführen, werden im genannten Kollektivvertrag der Beschäftigungsgruppe 5 (Angestellte mit Dispositions- und/oder Anweisungstätigkeiten, die schwierigen Arbeiten selbständig und verantwortlich ausführen oder Angestellte, die Tätigkeiten, wofür Spezialkenntnisse und praktische Erfahrung erforderlich sind, selbständig und verantwortlich ausführen) zugerechnet.
Es wird daher mit den Parteien zu erörtern und, soweit dies nicht zugestanden wird, nach amtswegiger Aufnahme sämtlicher notwendig erscheinenden Beweise (§ 87 Abs 1 und 3 ASGG) festzustellen sein, welche Tätigkeiten die Klägerin als "Sekretärin" zuletzt tatsächlich ausgeübt hat. Auch der Sachverständige für Berufskunde ging in seinem Gutachten ON 5 nicht von der konkreten Tätigkeit der Klägerin aus, sondern vom abstrakten Berufsbild einer in die Verwendungsgruppe III oder IV eingestuften Sekretärin (vgl AS 21). In seinem Ergänzungsgutachten ON 33 AS 99 meint er zwar, daß aus der Beilage E ua die Dienstaufgaben der Klägerin ersichtlich seien. Diese sind dort allerdings lediglich mit "alleinverantwortlich für die Bereiche Sekretariat und allgemeine Verwaltung" umschrieben.
Weiters bedarf es eines präzisen Leistungskalküls für die Zeit ab 1.6.1992. Vom Sachverständigen für Neurologie und Psychiatrie wird aufzuklären sein, ob unter "leichten und mittelschweren Arbeiten" körperliche und/oder geistige Arbeiten gemeint sind. Sollten auch letztere umfaßt sein, dann wäre zu klären, welche geistigen Arbeiten die Klägerin noch verrichten kann. Da der körperliche und geistige Zustand der Klägerin und deren Arbeitsfähigkeit von Sachverständigen mehrerer medizinischer Fachgebiete begutachtet wurden (Chirurgie, Orthopädie sowie Neurologie und Psychiatrie), ist nicht nur ein zusammenfassendes Gutachten erforderlich, in dem die Arbeitsfähigkeit unter Berücksichtigung aller von den einzelnen Fachgutachtern festgestellten gesundheitlichen Beeinträchtigungen dargestellt wird. Entgegen der vom Erstgericht beachteten Vorgangsweise ist daher nicht festzustellen, zu welchen Arbeiten die Klägerin aus der Sicht der einzelnen medizinischen Fachgebiete in der Lage ist. Es ist vielmehr ein Gesamtleistungskalkül seit 1.6.1992 festzustellen (zB SSV-NF 5/5).
Erst dann kann verläßlich beurteilt werden, ob die Arbeitsfähigkeit der Klägerin für die zuletzt ausgeübte Angestelltentätigkeit oder eine zumutbare Verweisungstätigkeit ausreicht.
Der Vorbehalt der Entscheidung über den Kostenersatz beruht auf dem gemäß § 2 Abs 1 ASGG auch in Sozialrechtssachen anzuwendenden § 52 Abs 1 ZPO.
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