OGH 10ObS251/94

OGH10ObS251/9423.11.1994

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Bauer als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Fritz Stejstal (Arbeitgeber) und Dr.Ingrid Schwarzinger (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Silvia H*****, vertreten durch Dr.Johannes Schuster, Rechtsanwalt in Gloggnitz, wider die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, Adalbert-Stifter-Straße 65, 1200 Wien, vertreten durch Dr.Vera Kremslehner, Dr.Josef Milchram und Dr.Anton Ehm, Rechtsanwälte in Wien, wegen Hinterbliebenenleistung, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 19.Mai 1994, GZ 33 Rs 18/94-12, womit infolge Berufung beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Wr.Neustadt als Arbeits- und Sozialgericht vom 26. August 1993, GZ 3 Cgs 104/93h-8, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird aufgehoben; die Sache wird zur neuerlichen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens bilden weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Der verstorbene Ehegatte der Klägerin, der bei der beklagten Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt versichert war, litt an einem Aneurysma der Aorta cerebri communicans anterior. Es handelt sich dabei um eine anlagebedingte krankhafte Gefäßausstülpung (Mißbildung mit dünner Gefäßwand) im arteriellen System des Gehirns. Bis zum Tode des Versicherten war nicht bekannt, daß er an dieser krankhaften Veränderung litt; er klagte auch nicht über ungewöhnlich heftige Kopfschmerzen. Der Versicherte war als Maschinenführer beschäftigt und hatte im Zug dieser Tätigkeit am 11.7.1991 aus einer Grube Kartons zu entfernen. Zu diesem Zweck sprang er in die Grube. Ohne daß er mit dem Kopf irgendwo angestoßen wäre, verspürte er sofort einen stichartigen Schmerz im Bereich der Halswirbelsäule und des Kopfes. In der Folge wurde ihm übel, er mußte erbrechen und litt an Kopfschmerzen. Es war durch den Sprung zu einem leichten Einriß des Aneurysmas und zu Sickerblutungen in den Subarachnoidalraum gekommen. Ohne weiteren Anlaß kam es dann am 7.8.1991 zu einem schweren Einriß des bereits vorgeschädigten Aneurysmas, verbunden mit massiver Subarachnoidalblutung, was schließlich zu seinem Tod führte. Der Riß hätte auch durch ein vergleichbares Ereignis bzw überhaupt ein Ereignis auftreten können, das zu einer Beschleunigung des Kopfes oder zu einer Blutdrucksteigerung im Kopf geführt hätte, sei es bei der Arbeitstätigkeit, sei es außerhalb des Arbeitsprozesses. Die Beschleunigung des Kopfes kann durch Herunterspringen aus einer Höhe von gut einem Meter ebenso auftreten wie beim abrupten Abbremsen eines Fahrzeuges, beim Schifahren, sowie bei anderen Tätigkeiten, die zu einer Drucksteigerung im Gehirnbereich führen, wie etwa das Heben schwerer Lasten, Coitus Husten, Pressen beim Stuhlgang etc. Ein solches Ereignis hätte bereits am Tag nach dem Unfall oder auch später eintreten können. Der Riß war nicht eine spezifische Folge der Tätigkeit des Klägers im Rahmen der Berufsausübung. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß auch ohne Sprung in den Schacht ein Einriß erfolgt wäre.

Das Erstgericht gab dem auf Gewährung von Hinterbliebenenleistungen gerichteten Begehren der Klägerin statt. Der Sprung sei das auslösende Moment für den Riß des Aneurysmas gewesen; er sei kein alltägliches Ereignis und daher keine Gelegenheitsursache gewesen. Es liege somit ein Arbeitsunfall vor.

Das Berufungsgericht wies über Berufung der beklagten Partei das Klagebegehren ab. In der Unfallversicherung gelte für die Kausalität die Theorie der wesentlichen Bedingung. Eine Ursache müsse für den Erfolg wesentlich sein. Dies sei dann der Fall, wenn sie nicht im Hinblick auf andere mitwirkende Ursachen in den Hintergrund trete. Die Kausalität fehle insbesondere dann, wenn der Unfall auf eine innere Ursache zurückzuführen sei. Eine solche liege vor, wenn ein anlagebedingtes Leiden so leicht ansprechbar sei, daß es zur Auslösung akuter Erscheinungen keiner besonderen äußeren Einwirkungen bedurft hätte, sondern jedes andere alltäglich vorkommende Ereignis zur selben Zeit dieselben Erscheinungen ausgelöst hätte. Hier trete der Unfall zufällig ein, sodaß die versicherte Tätigkeit nicht die wesentliche Ursache bilde. Der Sprung des Versicherten in den Schacht sei zwar insofern in einem natürlichen Zusammenhang mit dem Geschehen (Platzen des Aneurysmas) gestanden, daß er nicht weggedacht werden könne, ohne daß nicht der Erfolg wegfiele. Er habe aber so unbedeutend am Eintritt des Erfolges mitgewirkt, daß anzunehmen sei, die Folge wäre aus der Hauptursache, nämlich der anlagebedingten krankhaften Gefäßausstülpung auch ohne dieses Geschehen bei jedem beliebigen ähnlichen Geschehen eingetreten. Der Sprung bilde daher eine Gelegenheitsursache. Der Anscheinsbeweis, der vorerst für die Ursächlichkeit des Arbeitsunfalles spreche, sei entkräftet, weil Tatsachen bewiesen worden seien, aus denen eine andere konkrete Möglichkeit des Geschehensablaufes erschlossen werden könne. Es stehe nämlich fest, daß nicht nur das Heben schwerer Lasten oder Schifahren sowie Herunterspringen aus 1 m Höhe und abruptes Bremsen eines Fahrzeuges geeignet gewesen wäre, das Platzen des Aneurysmas hervorzurufen, sondern bereits Tätigkeiten wie Husten, Pressen beim Stuhlgang oder Coitus. Dabei handle es sich aber um solche, von denen nach der allgemeinen Lebenserfahrung gesagt werden könne, daß sie in naher Zukunft tatsächlich vorgekommen wären. Das Erstgericht habe daher zu Unrecht das Vorliegen der Voraussetzungen für einen Arbeitsunfall bejaht.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Klägerin aus dem Revisionsgrund der Mangelhaftigkeit des Verfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, daß dem Klagebegehren stattgegeben werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Sinne des Eventualantrages berechtigt.

Die Revisionswerberin wendet sich vor allem dagegen, daß das Berufungsgericht bei seiner Entscheidung davon ausging, daß die Ruptur des Aneurysmas auch durch Husten, Pressen beim Stuhlgang oder Coitus ausgelöst hätte werden können; das Berufungsgericht sei diesbezüglich vom Sachverständigengutachten abgewichen. Das Gericht zweiter Instanz hat allerdings keine eigenen Feststellungen getroffen, sondern ausschließlich die Sachverhaltsgrundlage des Erstgerichtes übernommen, das auch die bekämpfte Feststellung getroffen hat. Mit der Revision wird daher eine Tatsachenfeststellung des Erstgerichtes bekämpft, deren Richtigkeit vom Berufungsgericht jedoch nicht überprüft wurde. Weiters macht die Klägerin geltend, im Hinblick auf die Besonderheit des Falles wäre zur Prüfung der relevierten Frage die Einholung eines neurologischen Gutachtens erforderlich gewesen.

Wenngleich der Oberste Gerichtshof nicht Tatsacheninstanz ist und eine Bekämpfung der Tatsachenfeststellungen mit Revision im allgemeinen scheitern muß, steht es der Klägerin im vorliegenden Fall offen, die für sie ungünstigen Feststellungen betreffend andere mögliche Auslösefaktoren für das Platzen des Aneurysmas bzw Mängel des zur Gewinnung dieser Feststellungen durchgeführten Verfahrens erst in der Revision zu bekämpfen. Als in erster Instanz siegreiche Partei war sie nämlich nicht gezwungen, im Verfahren über die Berufung der beklagten Partei eine Stellungnahme zu dem von der beklagten Partei angefochtenen Urteil selbst abzugeben, sie war insbesondere nicht verpflichtet, ihrerseits ausdrücklich eine ihr nachteilige Feststellung des Erstgerichtes zu bekämpfen; nach herrschender Lehre (Fasching, Komm IV 71 und ZPR2 Rz 1785) und Rechtsprechung (SZ 26/262, 48/9, 51/137 uva) konnte sie dies in der Revision nachholen, weil sich erst das Berufungsgericht infolge abweichender rechtlicher Beurteilung auf diese ihr nachteilige Feststellung stützte. Daran hat auch die Umbenennung der früheren Berufungsmitteilung in "Berufungsbeantwortung" durch die Zivilverfahrensnovelle 1983 nichts geändert (Fasching aaO Rz 1785). Die Bekämpfung setzt allerdings voraus, daß die Feststellung für die rechtliche Beurteilung relevant ist und das Berufungsgericht nicht ausgesprochen hat, daß es der Beweiswürdigung des Erstgerichtes jedenfalls beitrete (EFSlg 34.505; SZ 54/160 = JBl 1984, 88; JBl 1986, 121). Unter welchem Revisionsgrund die Ausführungen zur Bekämpfung der Feststellungen des Erstgerichtes erstattet werden, spielt keine Rolle (vgl § 84 Abs 2 Satz 2 ZPO; SZ 45/160 mwN). Eine solche Beweisrüge führt zur Aufhebung des Berufungsurteiles wegen Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens (Fasching, Komm IV 71; SZ 51/137). Wohl wurde vom Obersten Gerichtshof seit der ZPO-Nov 1983 dieser Grundsatz für ao Revisionen differenziert. So führt etwa die Entscheidung 8 Ob 1651/91 unter Berufung auf mehrfache Vorjudikatur aus, daß die in erster Instanz siegreiche Partei nach neuerer Rechtsprechung verpflichtet sei, ihr nachteilige Feststellungen schon im Berufungsverfahren zu bekämpfen. Begründet wurde dieses Ergebnis damit, daß eine außerordentliche Revision nur deshalb begehrt werden könne, weil das Urteil des Berufungsgerichtes auf der unrichtigen Lösung einer Rechtsfrage des materiellen Rechtes oder des Verfahrensrechtes beruhe, der erhebliche Bedeutung im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO zukomme. Darin, daß das Berufungsgericht seiner rechtlichen Beurteilung eine - auch von der in erster Instanz siegreichen Partei - unbekämpft gebliebene Feststellung zugrunde gelegt habe, liege keine unrichtige Lösung einer in diesem Sinne erheblichen Rchtsfrage (JBl 1986, 121 zu Rechtslage vor der WGN 1989). Mit dieser Begründung wurde von der Rechtsprechung die Bekämpfung von Feststellungen in der ao Revision für nicht zulässig erachtet. Was zu gelten hat, wenn es sich um einen Fall handelt, in dem die Revision vom Berufungsgericht wegen Annahme der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 gemäß § 500 Abs 2 Z 1 ZPO für zulässig erklärt wurde, hat der Oberste Gerichtshof - soweit überblickbar - bisher nicht geprüft. Diese Frage kann auch im vorliegenden Fall unerörtert bleiben. Gemäß § 46 Abs 1 Z 4 ASGG ist die Revision ua in Verfahren über wiederkehrende Leistungen in Sozialrechtssachen auch bei Fehlen der - im wesentlichen dem § 502 Abs1 ZPO entsprechenden - Voraussetzungen des § 46 Abs 1 ASGG zulässig. Das ASGG hat daher für diese Fälle die Vollrevision beibehalten. Dies entspricht dem allgemeinen System der ZPO vor der Novelle 1983. Diesbezüglich ist sohin keine Änderung eingetreten. Die in der früheren Judikatur (SZ 26/262, 48/9, 51/137 ua) ausgesprochenen Grundsätze gelten daher für diese Fälle unverändert. Allein der Umstand, daß durch die ZPONov 1983 der Schriftsatz des Berufungsgegners nunmehr mit Berufungsbeantwortung (gegenüber früher Berufungsmitteilung) bezeichnet wurde, rechtfertigt es nicht, in Abgehen von der früheren Judikatur den in erster Instanz siegreichen Berufungsgegner zu verpflichten, ihm nachteilige Feststellungen bei sonstigem Ausschluß in der Berufungsbeantwortung zu bekämpfen (SSV-NF 7/31).

Die in der Revision relevierte Frage ist auch von wesentlicher Bedeutung, weil die Beurteilung, ob der Sprung in die Grube als Gelegenheitsursache zu qualifizieren ist, davon abhängt, welche andere Ursachen als Auslöser für die eingetretenen Folgen in Frage kommen.

Da sich das Berufungsgericht mit einer nach den vorstehenden Ausführungen für die Entscheidung wesentlichen Tatsachenfeststellung, die in der Revision zulässigerweise bekämpft worden ist, nicht auseinandergesetzt hat, mußte das angefochtene Urteil aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden.

Der Kostenvorbehalt stützt sich auf § 52 Abs 1 ZPO.

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