OGH 10ObS229/94

OGH10ObS229/9418.10.1994

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dipl.Ing. Dr. Hans Peter Bobek (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Klaus Hajek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Eva Z*****, Pensionistin, *****, vertreten durch Dr. Günter Philipp, Rechtsanwalt in Mattersburg, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, wegen Pflegegeldes, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 27. Juni 1994, GZ 32 Rs 73/94-47, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Eisenstadt als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 18. Jänner 1994, GZ 17 Cgs 1318/93x-43, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

1. Soweit sich die Revision gegen die Abweisung des Begehrens auf Hilflosenzuschuß für die Zeit vom 19.9.1991 bis 30.6.1993 richtet, wird sie zurückgewiesen.

2. Im übrigen wird der Revision Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben, soweit sie über das Begehren auf Pflegegeld ab 1.7.1993 entschieden haben, aufgehoben. In diesem Umfang wird die Sozialrechtssache zur Verhandlung und Entscheidung an das Prozeßgericht erster Instanz zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten erster Instanz.

Text

Begründung

Die am 7.8.1910 geborene Klägerin bezieht seit 1.6.1991 eine Witwenpension zuzüglich Ausgleichszulage. Ihr Antrag vom 19.9.1991 auf Gewährung des Hilflosenzuschusses wurde mit der Begründung abgelehnt, daß die Voraussetzungen nach § 105 a ASVG nicht erfüllt seien.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren, die Beklagte sei schuldig, der Klägerin ab 19.9.1991 einen Hilflosenzuschuß im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren, ab. Es stellte fest, daß sich die Klägerin alleine an- und auskleiden, ihren Körper oberflächlich reinigen, selbständig die Toilette aufsuchen, einfache kurz dauernde Mahlzeiten zubereiten, alleine essen, einen Herd warten, Einkäufe in kleinen Mengen, die keine langen Gehstrecken erfordern, tätigen, kleine Mengen persönliche Wäsche waschen sowie einen Wohnraum oberflächlich säubern könne. Zur gründlichen Körperreinigung in der Badewanne, zum Waschen der großen Wäsche, zum gründlichen Säubern eines Wohnraumes sowie für Großeinkäufe bedürfe sie fremder Hilfe. Daraus folgerte das Erstgericht, daß für die der Klägerin nicht mehr zumutbaren dauernd wiederkehrenden lebensnotwendigen Verrichtungen ein Zeitaufwand einer dritten Person von höchstens 25 Stunden im Monat erforderlich sei. Bei Kosten von S 80,-- pro Stunde würden die üblicherweise aufzuwendenden Kosten im Monatsdurchschnitt nicht den Betrag des begehrten Hilflosenzuschusses erreichen. Die Klägerin sei daher nicht hilflos iS des § 105 a ASVG. Ab 1.7.1993 bestehe ein Rechtsanspruch auf das Pflegegeld in Höhe der Stufen 1 und 2, wenn der abzugeltende Pflegebedarf durchschnittlich mehr als 50 Stunden bzw. 75 Stunden monatlich betrage. Der für die Vornahme der oben angeführten Verrichtungen durch Dritte notwendige und dem Pflegebedarf der Klägerin entsprechende Zeitaufwand reiche jedoch für die Gewährung des Pflegegeldes nicht aus. Daher stehe der Klägerin auch ein Pflegegeld nicht zu.

Gegen dieses Urteil erhob die Klägerin Berufung insoweit, als ihr nicht für den Zeitraum ab 1.7.1993 das Pflegegeld der Stufe 1 zugesprochen wurde; die Abweisung des Begehrens auf Hilflosenzuschuß bis zum 30.6.1993 ist mangels Anfechtung in Rechtskraft erwachsen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung nicht Folge und bestätigte das Ersturteil mit der Maßgabe, daß auch das Begehren der Klägerin auf Pflegegeld der Stufe 1 ab 1.7.1993 abgewiesen werde. Zu Recht sei das Erstgericht davon ausgegangen, daß für die Klägerin ein Zeitaufwand von rund 100 Minuten pro Woche oder 7 Stunden pro Monat für die gründliche Körperreinigung ausreichten. Insgesamt ergebe sich unter Berücksichtigung von jeweils 6 Stunden für die gründliche "Wohnungseinrichtung" (gemeint offenbar Wohnungsreinigung), das Herbeischaffen größerer Mengen von Lebensmitteln und für das Waschen der Großwäsche ein Zeitaufwand von 25 Stunden, weshalb der Klägerin kein Pflegegeld gebühre.

Dieses Urteil wird von der Klägerin seinem gesamten Inhalt nach mit Revision wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung angefochten. Sie beantragt die Abänderung dahin, daß ihrem Klagebegehren auf Hilflosenzuschuß für die Zeit vom 19.9.1991 bis 30.6.1993 und auf Pflegegeld in der für die Stufe 1 vorgesehenen Höhe ab 1.7.1993 stattgegeben werde. Hilfsweise stellt sie einen Aufhebungsantrag.

Die Beklagte erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

1. Die Revision ist in Ansehung des Begehrens auf Hilflosenzuschuß bis zum 30.6.1993 unzulässig, weil die Abweisung dieses Begehrens durch das erstgerichtliche Urteil in Rechtskraft erwachsen ist. Insoweit war die unzulässige Revision zurückzuweisen.

2. Im übrigen, also hinsichtlich des Begehrens auf Pfleggeld ab 1.7.1993, ist die Revision im Sinne ihres hilfsweise gestellten Aufhebungsantrages berechtigt.

Das Pflegegeld gebührt bei Zutreffen der Anspruchsvoraussetzungen, wenn auf Grund einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung oder einer Sinnesbehinderung der ständige Betreuungs- und Hilfsbedarf (Pflegebedarf) voraussichtlich mindestens 6 Monate andauern wird oder würde (§ 4 Abs 1 BPGG). Anspruch auf Pflegegeld besteht in Höhe der Stufe 1 für Personen, deren Pflegebedarf durchschnittlich mehr als 50 Stunden monatlich beträgt (Abs 2). Unter Betreuung sind alle in relativ kurzer Folge notwendigen Verrichtungen anderer Personen zu verstehen, die vornehmlich den persönlichen Lebensbereich betreffen und ohne die der pflegebedürftige Mensch der Verwahrlosung ausgesetzt wäre (§ 1 Abs 1 der Einstufungsverordnung zum BPGG, BGBl 1993/314 - EinstV). Zu den genannten Verrichtungen zählen insbesondere auch solche bei der Körperpflege und der Zubereitung und Einnahme von Mahlzeiten (Abs 2). Zur Körperpflege gehört auch ein Vollbad in der Badewanne. Die Revisionswerberin verkennt jedoch, daß der in § 1 Abs 4 EinstV festgelegte zeitliche Mindestwert von 2 x 25 Minuten nur für die tägliche Körperpflege gilt. Der Senat hat bereits wiederholt ausgesprochen, daß ein Wannenvollbad - abgesehen von medizinischer Notwendigkeit, für die hier kein Anhaltspunkt besteht - nicht zur täglichen Körperpflege zählt und daß die in dieser Hinsicht pflegebedürftige Klägerin auch dann nicht der Verwahrlosung ausgesetzt wäre, wenn sie pro Woche nur zwei solche Bäder nehmen könnte (10 Ob S 139/94, 10 Ob S 143/94 ua). Die Richtigkeit dieser Auffassung ergibt sich zum einen aus der Differenzierung zu § 1 Abs 2 EinstV, wo von Körperpflege schlechthin gesprochen wird. Zudem hätte es wohl deutlicher Hinweise bedurft, wenn nunmehr von der bisher maßgebenden Auffassung abgewichen werden sollte, wonach jede Form der Ganzkörperreinigung ausreicht, es sei denn es bestünde eine besondere medizinische Notwendigkeit (SSV-NF 2/12 uva; zutreffend Pfeil, Pflegebedürftigkeit als Rechtsproblem, 3. Teil, Abschnitt 2, III 3.5.3 - in Druck). Der zeitliche Betreuungsaufwand im Zusammenhang mit einem Wannenvollbad (oder auch mit einem Duschbad) kann in Anlehnung an den in § 1 Abs 4 EinstV für eine tägliche Körperpflege festgelegten zeitlichen Mindestwert von etwa 25 Minuten angenommen werden (10 Ob S 143/94). Geht man davon aus, daß die Klägerin auch dann nicht der Verwahrlosung ausgesetzt wäre, wenn sie wöchentlich nur zwei Wannenvollbäder nehmen kann, dann ergibt sich diesbezüglich ein zeitlicher Betreuungsaufwand von etwa 3,5 bis 4 Stunden monatlich.

Nicht beantwortet werden kann aber nach den bisherigen Feststellungen die Frage, ob die Klägerin einen Betreuungsaufwand für die Zubereitung von Mahlzeiten hat. Für diesen wäre nach § 1 Abs 4 EinstV ein zeitlicher Mindestwert von einer Stunde täglich anzunehmen, also 30 Stunden im Monat. Die Unfähigkeit zur Zubereitung einzelner Mahlzeiten, etwa nur des Frühstücks, würde die Anerkennung des pauschalen Bedarfs von mindestens einer Stunde täglich an sich nicht rechtfertigen können. Der Verordnungsgeber dürfte aber hier davon ausgegangen sein, daß es solche Konstellationen gar nicht gibt, weil jemand, der kein Frühstück allein zubereiten kann, wohl auch für andere Mahlzeiten fremder Hilfe bedarf. Denkbar wäre aber, daß die betreffende Person auf Grund der Behinderung lediglich zur Zubereitung einer warmen Hauptmahlzeit unfähig ist, Frühstück oder Jause usw. dagegen zubereiten könnte. Der dennoch verbleibende Betreuungsaufwand läge dennoch nicht erheblich unter dem normierten Mindestwert. Weiters ist zu bedenken, daß sogar nach der diesbezüglich relativ strengen Rechtsprechung zum Hilflosenzuschuß die Notwendigkeit einer ordentlich zubereiteten warmen Mahlzeit am Tag anerkannt war (SSV-NF 4/125, 5/46 ua). In Ermangelung jeglicher Hinweise im BPGG oder in der EinstV, daß von dieser Praxis abgegangen werden sollte, wäre damit der Tatbestand in § 1 Abs 4 EinstV jedenfalls als erfüllt anzusehen (ebenso Pfeil aaO). Die Feststellung, die Klägerin könne nur "einfache kurz dauernde Mahlzeiten zubereiten", läßt nicht erkennen, ob sie sich damit ohne Betreuung auf eine dem allgemeinen Standard angemessene Weise ernähren könnte (10 Ob S 121/94). Für eine dem allgemeinen Standard angemessene menschengerechte Lebensführung (vgl. auch § 1 BPGG) ist einmal täglich die Einnahme einer ordentlich gekochten warmen Mahlzeit erforderlich, deren Zubereitung nicht nur eine ganz kurze Zeit in Anspruch nimmt. Es ist einem Rentner oder Pensionisten auch nicht zumutbar, sich ausschließlich von aufgewärmten Speisen zu ernähren, wenngleich bei Prüfung des für die Speisezubereitung notwendigen Aufwandes das handelsübliche Angebot an Tiefkühlkost und Fertiggerichten zu berücksichtigen ist, wobei immer auf den Einzelfall abzustellen und zu beurteilen ist, ob die Speisen, die ein Pensionist selbst zubereiten kann, für seine Versorgung als ausreichend angesehen werden können (vgl. SSV-NF 5/46 mwN). Zur Gewinnung der entsprechenden Tatsachenfeststellungen bedarf es offenbar einer Verhandlung in erster Instanz.

Unter Hilfe versteht § 2 Abs 1 EinstV aufschiebbare Verrichtungen anderer Personen, die den sachlichen Lebensbereich betreffen und zur Sicherung der Existenz erforderlich sind. Hilfsverrichtungen sind (Abs 2) die Herbeischaffung von Nahrungsmitteln und Medikamenten, die Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände, die Pflege der Leib- und Bettwäsche, die Beheizung des Wohnraumes einschließlich der Herbeischaffung von Heizmaterial und die Mobilitätshilfe im weiteren Sinn. Für jede Hilfsverrichtung ist ein fixer Zeitwert von 10 Stunden monatlich anzunehmen (Abs 3). Der Pflegebedarf ist allerdings insoweit nicht anzunehmen, als die notwendigen Verrichtungen vom Anspruchswerber durch die Verwendung einfacher Hilfsmittel selbständig vorgenommen werden können oder könnten und ihm der Gebrauch dieser Hilfsmittel mit Rücksicht auf seinen physischen und psychischen Zustand zumutbar ist (§ 3 Abs 1 EinstV). Die Normierung eines fixen Zeitwertes von 10 Stunden für jede der genannten Hilfsverrichtungen eröffnet keinen Spielraum für ein Abweichen von diesem Zeitwert nach oben oder unten. Ist im Bereich einer der im § 2 Abs 2 EinstV genannten Hilfsverrichtungen, soweit sie zur Sicherung der Existenz erforderlich sind, ein Bedarf des Anspruchswerbers auf fremde Hilfe gegeben, so ist ohne Rücksicht darauf, wie weitgehend dieses Hilfsbedürfnis ist, der angeordnete fixe Zeitwert zugrunde zu legen. Daß der Anspruchswerber die Hilfe nicht in vollem Umfang benötigt und imstande ist, im Bereich der in Frage kommenden Hilfsverrichtungen einzelne einfachere Verrichtungen selbst zu besorgen, rechtfertigt nicht ein Abweichen von den in der Verordnung ausdrücklich als fix bezeichneten Zeitwerten (10 Ob S 139/94). Die Notwendigkeit, auf subjektive oder individuelle Besonderheiten einzugehen, soll eben durch Pauschalwerte iS des § 4 Abs 5 Z 3 BPGG gerade vermieden werden. Bereits dem Gesetz ist somit zu entnehmen - und die EinstV hat dies lediglich umgesetzt - daß bei Hilfsverrichtungen keine konkret-individuelle Prüfung anzustellen ist. Die Gefahr, daß es dadurch zu allenfalls nicht zu rechtfertigenden Verzerrungen kommen könnte, besteht nicht: Zum einen vermag ein Bedarf nach Hilfe allein keinen Pflegegeldanspruch zu begründen, zum andern sind die Pauschalwerte für die Hilfsverrichtungen so niedrig angesetzt, daß ein Bedarf in mindestens drei Hilfsbereichen (3 Stunden) vorliegen müßte, damit ein Pflegebedürftiger bloß in den Genuß eines Pflegegeldes der Stufe 2 statt eines solchen der Stufe 1 gelangen könnte. Das Ausmaß des Hilfsbedarfes ist daher im Einzelfall nicht festzustellen, da ein Abweichen von diesem Zeitwert nicht zulässig ist. Sehr wohl ist aber in concreto zu prüfen, ob ein solcher Bedarf besteht (so zutreffend Pfeil aaO Punkt 3.5.2).

Da die Klägerin nach den Feststellungen Hilfe für die Herbeischaffung von Nahrungsmitteln, für die Reinigung der Wohnung und zur Pflege der großen Wäsche bedarf, würde sich hiefür ein fixer Zeitwert von 3 x 10 = 30 Stunden errechnen. Unter Berücksichtigung der erforderlichen Betreuung bei der (wenn auch nicht täglichen) Körperpflege wird also entscheidend sein, ob die Klägerin Betreuung bei der Zubereitung von Mahlzeiten braucht, weil sie nur dadurch einen Pflegebedarf von mehr als 50 Stunden monatlich hätte, der als Untergrenze für die Zuerkennung des Pflegegeldes festgesetzt ist. Daß die Klägerin einer Mobilitätshilfe im weiteren Sinne bedarf, ist nach den Feststellungen nicht anzunehmen, weil sie abgesehen von langen Gehstrecken noch ausreichend gehfähig ist (vgl. 10 Ob S 105/94).

Der Revision war daher im aufgezeigten Umfang Folge zu geben.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG.

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