OGH 1Ob591/94

OGH1Ob591/9423.9.1994

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schubert als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schiemer, Dr. Gerstenecker, Dr. Rohrer und Dr. Pimmer als weitere Richter in der Unterbringungssache des Franz T*****, infolge Revisionsrekurses der Patientenanwältin Dr. Ingeborg Scheidacker, Verein für Sachwalterschaft und Patientenanwaltschaft, Geschäftsstelle Niederösterreich Landesnervenklinik Gugging, gegen den Beschluß des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgerichtes vom 3. Mai 1994, GZ 44 R 364/94-16, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Klosterneuburg vom 7. April 1994, GZ Ub 276/94-10, bestätigt wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung

Der Kranke, ein 32-jähriger Pensionist, wurde ohne seinen Willen am 28. Februar 1994 - mit der Diagnose eines manischen Zustandsbildes mit deutlich herabgesetzter Realitätstüchtigkeit bei gegebener Selbst- und Fremdgefährdung durch unbesonnene Handlungen in hochgradig angetriebsgesteigerten Zustand - zum wiederholten Male in die NÖ Landesnervenklinik Gugging aufgenommen. Die formelle Unterbringung erfolgte nach der Rückkehr aus einem seit 9. März 1994 bestehenden Urlaub am 17. März 1994; sie gelangte am 25. März 1994 zur Kenntnis des Erstgerichtes, das am 28. März 1994 die sogenannte Erstanhörung nach §§ 19 ff UbG vornahm und die mündliche Verhandlung nach §§ 22 ff UbG für den 7. April 1994 anberaumte. Der Kranke entwich am 29. März 1994. Das bei der sogenannten Erstanhörung veranlaßte psychiatrische Gutachten des Sachverständigen Dr. Otto S*****, durch das die bei der Aufnahme erstellte Diagnose sowie das Vorliegen von Selbst- und Fremdgefahr bestätigt wurde, lag bereits am 31. März 1994 vor. Am 5. April 1994 wurde der - von seiner Mutter zurückgebrachte - Kranke neuerlich in die Anstalt aufgenommen. Das Erstgericht führte nun nach der Rückkehr des Kranken in die Anstalt keine neuerliche sogenannte Erstanhörung, sondern die bereits ausgeschriebene mündliche Verhandlung vom 7. April 1994 durch, bei der es die Unterbringung des Kranken bis 18. April 1994 für zulässig erklärte.

Die Anstalt meldete mit Schreiben vom 13. April 1994, bereits nach Zustellung des erstgerichtlichen Beschlusses, es bestehe die Notwendigkeit einer weiteren Unterbringung, weil zu erwarten sei, daß der Patient nach Entlassung die Behandlung sofort abbrechen werde, dann jedoch am 19.April 1994 die Beendigung der Unterbringung.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Patientenanwältin gegen die endgültige Zulässigkeit einer Unterbringung bis 18. April 1994 nicht Folge.

Rechtliche Beurteilung

Der dagegen von der Patientenanwältin, die gemäß § 14 Abs 1 UbG kraft Gesetzes Vertreterin des Kranken für das im UbG vorgesehenen gerichtliche Verfahren ist, erhobene, von der zweiten Instanz zugelassene Revisionsrekurs, auf den die Vorschriften der §§ 13 ff AußStrG anzuwenden sind, ist ungeachtet der Tatsache, daß der Kranke nicht mehr in der Anstalt untergebracht ist, zulässig aber nicht gerechtfertigt.

Im Rechtsmittel werden - wie schon in zweiter Instanz - nicht die von den Vorinstanzen angenommenen meritorischen Unterbringungsvoraussetzungen (§ 3 UbG) in Ansehung des Kranken bestritten, sondern ausschließlich ein behaupteter Verfahrensfehler gerügt. Dieser wird unter den Rechtsmittelgründen der Nichtigkeit, des erheblichen Verfahrensmangels sowie der unrichtigen rechtlichen Beurteilung darin erblickt, daß der Erstrichter nach dem Entweichen des Kranken und seiner neuerlichen Aufnahme am 5. April 1994 nicht dessen (neuerliche) sogenannte Erstanhörung durchgeführt habe, sondern die bereits anberaumt gewesene mündliche Verhandlung, die sich indes auf eine durch das Entweichen des Kranken gegenstandlos gewordene Unterbringung bezogen habe.

Der gerügte Verfahrensfehler liegt nicht vor. Gemäß § 19 Abs 1 UbG hat sich das Gericht binnen vier Tagen ab Kenntnis von der Unterbringung einen persönlichen Eindruck vom Kranken in der Anstalt zu verschaffen. Es hat ihn über Grund und Zweck des Verfahrens zu unterrichten und hiezu zu hören. Gelangt das Gericht - wie hier am 28. März 1994 - bei der Anhörung des Kranken zum Ergebnis, daß die Voraussetzungen der Unterbringung vorliegen, so hat es diese vorläufig bis zur Entscheidung nach § 26 Abs 1 UbG für zulässig zu erklären und eine mündliche Verhandlung anzuberaumen, die spätestens innerhalb von 14 Tagen nach der Anhörung stattzufinden hat (§ 20 Abs 1 UbG). Der Verhandlung ist neben dem Abteilungsleiter und dem Patientenanwalt zumindest ein Sachverständiger beizuziehen (§ 22 Abs 1 UbG), der ein schriftliches Gutachten über das Vorliegen der Unterbringungsvoraussetzungen zu erstatten hat. Eine endgültige Entscheidung über die vorläufige Unterbringung für einen bestimmten Zeitraum soll somit erst nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung auf wesentlich erweiterter Sachgrundlage gefällt werden. Nach den Materialien (JAB 1202 BlgNR XVII.GP, 2 f) ist ausschließlich der Schutz der Persönlichkeitsrechte, insbesondere des Rechts auf die körperliche Bewegungsfreiheit psychisch Kranker in geschlossenen Bereichen von Krankenanstalten, Ziel des UbG (JBl 1993, 455 mwN). Die sogenannte Erstanhörung ist dabei nicht Selbstzweck, sondern Ausdruck des Spannungsverhältnisses jedes gerichtlichen Verfahrens; dieses liegt darin, daß einerseits nach möglichst kurzer Verfahrensdauer eine gerichtliche Entscheidung getroffen werden und andererseits diese Entscheidung inhaltlich im Tatsachenbereich der materiellen Wahrheit möglichst nahekommen und rechtlich richtig sein soll. Dieses Spannungsverhältnis ist in einem Verfahren wie dem nach dem UbG, das die gerichtliche Kontrolle der Freiheitsentziehung von Kranken - deren Rechtsschutz im formlosen Einweisungsverfahren nur gering ist - zum Inhalt hat und bei dem komplexe und erst durch Auslegung zu bestimmende (3 Ob 552/92) Unterbringungsvoraussetzungen zu prüfen sind, besonders ausgeprägt (vgl Kopetzki, Unterbringungsgesetz Rz 367). Der Gesetzgeber des UbG hat deshalb versucht, diesen divergierenden Zielsetzungen durch eine Zweiteilung des Verfahrens Rechnung zu tragen: Eine rasche Anhörung durch den Richter binnen vier Tagen unter Beiziehung des Patientenanwalts und des Abteilungsleiters soll dem Gericht einen unmittelbaren Eindruck vom Kranken verschaffen und eine sofortige vorläufige Entscheidung über die Unterbringung möglich machen. Wird aufgrund dieser sogenannten Erstanhörung die Unterbringung vorläufig für zulässig erklärt, ist dann bei einer mündlichen Verhandlung innerhalb von 14 Tagen aufgrund eingehender Beweisaufnahmen über die Zulässigkeit der Unterbringung des Kranken endgültig zu entscheiden (Kopetzki aaO Rz 367).

Wenn diese eingehende Beweisaufnahmen im Ermittlungsverfahren, in dem das Gericht von Amts wegen und nach freier Überzeugung die entscheidungserheblichen Tatsachen (Kopetzki aaO Rz 395) und damit eine für die Zulässigkeit der Unterbringung des Kranken (§ 3 UbG) ausreichend breite Sachverhaltsgrundlage schafft, bereits innerhalb der Viertagesfrist des § 19 Abs 1 UbG getroffen werden können, besteht für die im Regelfall notwendige Zweiteilung des Verfahrens und damit die sogenannte Erstanhörung kein Anlaß, weil in einem solchen Fall bereits in der mündlichen Verhandlung nach §§ 22 ff UbG eine rasche und richtige Entscheidung gefällt werden kann. Das Gericht hat bei der sogenannten Erstanhörung sich einen persönlichen Eindruck vom Kranken in der Anstalt zu verschaffen (§ 19 Abs 1 UbG), den Kranken über Grund und Zweck des Verfahrens zu unterrichten und hiezu zu hören (§ 19 Abs 1 UbG), in die Krankengeschichte Einsicht zu nehmen (§ 19 Abs 2 UbG) sowie den Patientenanwalt, den Abteilungsleiter sowie in der Anstalt anwesende gesetzliche oder gewillkürte Vertreter zu hören (§ 19 Abs 2 UbG). Wenn die „Anhörung des Kranken“ nach §§ 19 f UbG Beweisaufnahmecharakter hat und ein Akt des rechtlichen Gehörs ist (Hopf-Aigner, Unterbringungsgesetz Anm 2 zu § 19), wird die mündliche Verhandlung beiden gerecht. Es wäre sinnentleerter Formalismus und eine nicht zu rechtfertigende Vergeudung der knappen richterlichen Ressourcen, innerhalb der viertägigen Frist die Durchführung der sogenannten Erstanhörung ungeachtet einer bereits möglichen Verhandlung zu verlangen. Durch die sofortige mündliche Verhandlung ist der Kranke besser gestellt, weil sofort verläßlich darüber entschieden werden kann, ob seine Unterbringung zulässig oder unzulässig ist. Auch im Bereich des formellen Rechtsschutzes ist der Patient dadurch nicht beschwert, weil gegen die Entscheidung über die vorläufige Zulässigkeit einer Unterbringung ein abgesondertes Rechtsmittel nicht zulässig ist (§ 20 Abs 3 UbG), wogegen die Unterbringung nach mündlicher Verhandlung anfechtbar ist (§ 28 Abs 1 UbG).

Da aus diesen Erwägungen eine innerhalb der Frist des § 19 UbG durchgeführte mündliche Verhandlung nach §§ 22 ff UbG die sogenannte Erstanhörung nach § 19 UbG vollwertig ersetzt, muß hier die Frage, ob das Entweichen eines Patienten aus der Anstalt ungeachtet der Regelung der §§ 31 f UbG rechtlich eine Aufhebung der Unterbringung - die hier vorläufig für zulässig erklärt wurde - darstellt und nach neuerlicher Unterbringung deshalb eine neuerliche Erstanhörung vorzunehmen ist (vgl dazu Kopetzki aaO Rz 365), nicht mehr geprüft werden.

Dem Revisionsrekurs ist nicht Folge zu geben.

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