OGH 10ObS128/94

OGH10ObS128/9428.6.1994

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Bauer als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Dr.Robert Prohaska (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Walter Benesch (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Stefanie F*****, Pensionistin, ***** vertreten durch Dr.Franz Sturm, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, wegen Hilflosenzuschusses und Pflegegeldes infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 26.November 1993, GZ 33 Rs 135/93-13, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 3.August 1993, GZ 10 Cgs 60/93y-9 (richtig 10), abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die Beklagte hat der Klägerin binnen vierzehn Tagen die einschließlich 338,24 S Umsatzsteuer mit 2.029,44 S bestimmten halben Kosten der Revision zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Mit Bescheid vom 30.3.1993 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin vom 5.1.1993 auf Hilflosenzuschuß mit der Begründung ab, daß sie nicht ständig der Wartung und Hilfe bedürfe.

Das Erstgericht verurteilte die Beklagte, der Klägerin ab 15.2.1993 den Hilflosenzuschuß im gesetzlichen Ausmaß und ab 1.7.1993 ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 2 zu leisten. Das auf Leistung des Hilflosenzuschusses für die Zeit vom 5.1. bis 14.2.1993 gerichtete Mehrbegehren wies es ab.

Als Ergebnis der die Umstände des Falles sehr genau behandelnden Feststellungen des Erstgerichtes über die Einschränkungen der körperlichen und geistigen Funktionen der am 17.8.1916 geborenen Klägerin und deren Fähigkeit zur selbständigen Ausführung der lebensnotwendigen Verrichtungen läßt sich festhalten, daß sie seit Mitte Februar 1993 die einmal täglich benötigte Insulininjektion nicht mehr selbst vornehmen kann und seit der Antragstellung auch nicht mehr in der Lage ist, Nahrungsmittel und Medikamente herbeizuschaffen, die grobe Wohnungsreinigung durchzuführen und die große Wäsche zu waschen. Alle übrigen lebensnotwendigen Verrichtungen kann sie jedoch nach wie vor selbst ausführen.

Das Erstgericht vertrat die Rechtsansicht, daß allein im Zusammenhang mit der Insulininjektion ein täglicher Zeitaufwand von einer Stunde entstehe. Unter Mitberücksichtigung der notwendigen Hilfe beim Einkaufen, bei den groben Wohnungsreinigungsarbeiten und bei der großen Wäsche ergebe sich ab 15.2.1993 daher ein Kostenaufwand in der Höhe des begehrten Hilflosenzuschusses. Da der Klägerin zum 30.6.1993 ein Hilflosenzuschuß zustehe, sei ihr (nach § 43 Abs 2 iVm § 38 Abs 1 S 1 BPGG) ab 1.7.1993 ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 2 zu gewähren.

Die Abweisung des Mehrbegehrens blieb unbekämpft. Gegen den stattgebenden Teil des erstgerichtlichen Urteils erhob die Beklagte Berufung, in der sie unrichtige rechtliche Beurteilung geltend machte und die gänzliche Abweisung des Klagebegehrens beantragte.

Das Berufungsgericht gab der Berufung Folge und änderte das angefochtene Urteil durch gänzliche Abweisung des Klagebegehrens ab.

Es vertrat insbesondere unter Bezugnahme auf die E SSV-NF 2/58 die Rechtsansicht, daß der Klägerin bis 30.6.1993 kein Hilflosenzuschuß gebühre, weil der mit der notwendigen Hilfe verbundene Mehraufwand die Höhe des begehrten Hilflosenzuschusses nicht erreiche. Damit fehlten auch die Voraussetzungen für die Gewährung des Pflegegeldes.

In der Revision macht die Klägerin Mangelhaftigkeit des Verfahrens, Aktenwidrigkeit und unrichtige rechtliche Beurteilung (der Sache) geltend und beantragt, das Berufungsurteil im klagestattgebenden Sinn (wohl durch Wiederherstellung des erstgerichtlichen Urteils) abzuändern oder es allenfalls aufzuheben.

Die Beklagte erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

Die nach § 46 Abs 3 ASGG zulässige Revision ist nicht berechtigt.

Die geltend gemachte Mangelhaftigkeit und Aktenwidrigkeit (§ 503 Z 2 und 3 ZPO) liegen nicht vor (§ 510 Abs 3 ZPO). Darauf, wer der Klägerin die Insulininjektion verabreicht, kommt es nach Ansicht des erkennenden Senates nicht an.

Auch die Rechtsrüge ist im Ergebnis nicht berechtigt.

Das Bundesgesetz, mit dem ein Pflegegeld eingeführt wird (Bundespflegegeldgesetz - BPGG) und mehrere Bundesgesetze geändert werden BGBl 1993/110, gliedert sich in drei Teile. Der 1. Teil ist das BPGG, der 2. Teil enthält Änderungen von Bundesgesetzen, darunter auch des ASVG, der 3. Teil Schlußbestimmungen. Das BG BGBl 1993/110 trat nach Z 1 des 1.Abschnittes des 3. Teiles, soweit in den folgenden Z 2 bis 5 nichts anderes bestimmt ist, mit 1.7.1993 in Kraft. Mangels einer Ausnahmebestimmung trat Art I Z 12 des 2. Teiles des BG BGBl 1993/110, durch den § 105a ASVG (Hilflosenzuschuß) aufgehoben wurde, am 1.7.1993 in Kraft.

Nach § 43 Abs 2 BPGG sind allen am 1.7.1993 noch nicht rechtkräftig abgeschlossenen Verfahren, also auch dem vorliegenden, für die Zeit bis zum 30.6.1993 die bis zu diesem Zeitpunkt jeweils für die Beurteilung des Anspruches geltenden Bestimmungen der im § 3 BPGG genannten Normen zugrunde zu legen, hier also § 105a ASVG; § 38 Abs 1 erster Satz und Abs 2 gelten sinngemäß. Dies gilt auch für gerichtliche Verfahren. Die Leistung eines Pflegegeldes einer höheren Stufe richtet sich nach § 4 Abs 4. Nach dem im § 43 Abs 2 bezogenen, sinngemäß anzuwendenden § 38 Abs 1 erster Satz ist Personen, denen zum 30.6.1993 ua ein Hilflosenzuschuß nach den im § 3 BPGG angeführten Normen, zu denen auch das ASVG gehört, rechtskräftig zuerkannt ist ("bisherige pflegebezogene Leistung") und die zum anspruchsberechtigten Personenkreis gemäß § 3 leg cit zählen, was bei Beziehern einer Pension nach dem ASVG mit gewöhnlichem Aufenthalt im Inland zutrifft, von Amts wegen mit Wirkung vom 1.7.1993 nach den Vorschriften dieses BG ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 2 zu gewähren.

Nach der Begründung der RV zum BPGG 776 BlgNR 18. GP, ua zit in MGA ASVG 57 ErgLfg N 10, 357 FN 1, erwiesen sich die Anordnungen im Abs 2 (des § 43) als notwendig, um Ungleichbehandlungen zu vermeiden. Es sollte geregelt werden, daß auch in Fällen, in denen der Anspruch auf eine bisherige pflegebezogene Leistung zum 30.6.1993 erst nachträglich festgestellt wird, ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 2 gebührt. Ein Fehlen einer solchen Bestimmung könnte - auch bei völlig gleichen Gegebenheiten - zur Schlechterstellung jener Personen führen, über deren Anträge erst nach dem 1.7.1993 abgesprochen wird. Die Gerichte könnten im Überleitungsverfahren nur ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 2 gewähren, weil auf diesen Betrag ein gesetzlicher Rechtsanspruch bestehe.

Fink, Die verfahrensrechtlichen Bestimmungen des Bundespflegegeldgesetzes, SozSi 1993, 352 (371) führt zu § 38 Abs 1 BPGG zutreffend aus, von Amts wegen bedeute, daß ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 2 mit Wirkung vom 1.7.1993 auch dann zu gewähren sei, wenn der Anspruchswerber sein Begehren nicht in diesem Sinn modifiziert habe. Hier liege eine ex lege angeordnete Ausnahme von § 405 ZPO vor. Außerdem werde der Grundsatz der sukzessiven Kompetenz durchbrochen, weil der Anspruch auf Pflegegeld iSd BPGG nicht Gegenstand des vorgeschalteten Verwaltungsverfahrens gewesen sei (aaO FN 193).

Auch nach Kuras, Das neue Pflegeleistungssystem, ZAS 1993, 161 (168 samt FN 63) gilt § 38 Abs 1 S 1 BPGG auch, wenn sich in einem zum 30.6.1993 noch nicht beendeten Verfahren auf Gewährung einer bisherigen pflegebezogenen Leistung herausstellt, daß diese zum 30.6.1993 zusteht. Sollte sich etwa in einem langwierigen gerichtlichen Verfahren über einen Hilflosenzuschuß beispielsweise im Mai 1994 herausstellen, daß zum 30.6.1993 der Hilflosenzuschuß zusteht, dann ist auch das Pflegegeld der Stufe 2 ab dem 1.7.1993 zuzusprechen.

Ob der Klägerin für die Zeit vom 15.2.1993 - ihr Begehren auf Hilflosenzuschuß für die Zeit vom 5.1. bis 14.2.1993 wurde bereits vom Erstgericht rechtskräftig abgewiesen - bis 30.6.1993 die Erhöhung ihrer Pension infolge Zuerkennung eines Hilflosenzuschusses gebührt, ist daher nach § 105a ASVG und (noch) nicht nach § 4 Abs 1 und 2 BPGG und der Verordnung des Bundesministers für Arbeit und Soziales über die Beurteilung des Pflegebedarfes nach dem Bundespflegegeldgesetz (Einstufungsverordnung zum Bundespflegegeldgesetz) BGBl 1993/314 zu beurteilen.

Falls der Klägerin zum 30.6.1993 ein Hilflosenzuschuß zustünde, dann wäre ihr wegen der im § 43 Abs 2 zweiter Halbsatz BPGG verfügten sinngemäßen Geltung des § 38 Abs 1 erster Satz leg cit von Amts wegen mit Wirkung vom 1.7.1993 nach den Vorschriften dieses BG ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 2 zuzusprechen. Stünde ihr zum 30.6.1993 kein Hilflosenzuschuß zu, dann wäre zu prüfen, ob sie seit 1.7.1993 Anspruch auf Pflegegeld nach dem BPGG hat.

Nach § 105a BSVG gebührte Beziehern einer Pension, die derart hilflos waren, daß sie ständig der Wartung und Hilfe bedurften, zu der Pension ein Hilflosenzuschuß (Abs 1 S 1) im halben Ausmaß der Pension, jedoch mindestens 3.002 S (1993) und höchstens 3.028 S (1993) (Abs 2).

Nach der seit SSV-NF 1/46 stRsp des erkennenden Senates gebührt der Hilflosenzuschuß dann, wenn ein Penionist oder eine Pensionistin aus gesundheitlichen Gründen notwendige Verrichtungen nicht mehr allein ausführen kann und die deshalb aufzuwendenden Kosten fremder Hilfe üblicherweise unter Berücksichtigung zur Verfügung stehender oder Personen ähnlicher Einkommen im selben Lebenskreis üblicherweise zur Verfügung stehender Hilfsmittel mindestens so hoch sind wie der begehrte Hilflosenzuschuß. Ein Bedürfnis nach ständiger Wartung und Hilfe ist jedoch nur dann gegeben, wenn die für die notwendigen Dienstleistungen nach dem Lebenskreis des Pensionsbeziehers üblicherweise aufzuwendenden Kosten im Monatsdurchschnitt etwa so hoch sind wie der begehrte Hilflosenzuschuß.

Nach der bereits vom Berufungsgericht zit E SSV-NF 2/58 handelt es sich bei der Verabreichung einer Insulininjektion um eine Handreichung von nur wenigen Minuten. Berücksichtigt man, daß § 1 Abs 3 Einstufungsverordnung zum Bundespflegegesetz für den zeitlichen Betreuungsaufwand für die Reinigung bei inkontinenten Patienten, für die Kanülenpflege und die Katheterpflege - auf einen Tag bezogen - Richtwerte von jeweils zehn Minuten festlegt, dann erscheint ein solcher Zeitaufwand auch für die im Zusammenhang mit der Verabreichung einer Insulininjektion vorzunehmenden Handreichungen angemessen. Dafür sind daher - auf einen Monat bezogen - etwa fünf Stunden zu veranschlagen. Daß diese Handreichungen von einer Hilfsperson vorgenommen werden, die nach den Revisionsbehauptungen im

10. Wiener Gemeindebezirk wohnt und für die tägliche Hin- und Rückfahrt zur in einem nördlich der Donau gelegenen Stadtteil wohnenden Klägerin insgesamt zwei Stunden benötigt, kann dabei nicht berücksichtigt werden.

Selbst wenn schon für die Zeit bis 30.6.1993 die im § 2 Abs 2 und 3 Einstufungsverordnung zum Bundespflegegeldgesetz für die Hilfsverrichtungen bei der Herbeischaffung von Nahrungsmitteln und Medikamenten, bei der Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände sowie bei der Pflege der Leib- und Bettwäsche festgelegten - auf einen Monat bezogenen - Zeitwerte von je zehn Stunden mit berücksichtigt werden, ist der monatliche Zeitaufwand einer Hilfsperson für die der Klägerin nicht mehr möglichen Verrichtungen im Monatsdurchschnitt höchstens mit 35 Stunden anzunehmen.

Unter diesen Umständen gebührt der Klägerin aber bis 30.6.1993 kein Hilflosenzuschuß nach § 105a ASVG und ab 1.7.1993 daher auch kein Pflegegeld, für dessen Stufe 1 nach § 4 Abs 2 BPGG ein Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 50 Stunden monatlich, für die Stufe 2 sogar von durchschnittlich mehr als 75 Stunden monatlich erforderlich wäre.

Das Klagebegehren wurde daher vom Berufungsgericht zu Recht abgewiesen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b und Abs 2 ASGG.

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