OGH 14Os33/94

OGH14Os33/9417.5.1994

Der Oberste Gerichtshof hat am 17.Mai 1994 durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Walenta als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Ebner, Dr.E.Adamovic, Dr.Holzweber und Dr.Schmucker als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag.Gründl als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Dr.Friedrich Wilhelm K***** wegen des Verbrechens des Mordes nach § 75 StGB und einer anderen strafbaren Handlung über die von der Generalprokuratur erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen den Beschluß des Landesgerichtes Korneuburg vom 29.November 1993, GZ 10 Vr 949/82-1265, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwalt Dr.Bassler, und des Verteidigers Dr.Soyer, jedoch in Abwesenheit des Verurteilten, zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Beschluß des Landesgerichtes Korneuburg vom 29.November 1993, GZ 10 Vr 949/82-1265, verletzt das Gesetz in der Bestimmung des § 410 Abs 1 StPO.

Dieser Beschluß wird aufgehoben, und es wird dem Landesgericht Korneuburg aufgetragen, über den Antrag des Verurteilten Dr.Friedrich Wilhelm K***** vom 4.November 1993 (ON 1260) neuerlich zu entscheiden bzw dem Gesetz gemäß zu verfahren.

Text

Gründe:

Mit Urteil des Geschworenengerichtes beim Kreis-(jetzt Landes-)Gericht Korneuburg vom 18.Dezember 1984, GZ 10 Vr 949/82-570, wurde der Angeklagte Dr.Friedrich Wilhelm K***** des Verbrechens des Mordes nach § 75 StGB und des Vergehens nach § 36 Abs 1 lit b (aF) WaffenG schuldig erkannt, nach §§ 28, 75 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von 20 Jahren verurteilt und seine Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher gemäß § 21 Abs 2 StGB angeordnet.

Dieses Urteil wurde mit Entscheidung des Obersten Gerichtshofes vom 2. Juli 1986, GZ 9 Os 76/85-27, im Schuldspruch bestätigt, im Strafausspruch jedoch dahin abgeändert, daß der Angeklagte einerseits zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt, andererseits der Antrag auf Unterbringung gemäß § 21 Abs 2 StGB in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher abgewiesen wurde.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte mit Entscheidung vom 21.September 1993, Zl 29/1992/374/448, fest, daß nach Lage des Falles die persönliche Anwesenheit des Angeklagten beim Gerichtstag über die Berufung im Interesse der Fairneß des Verfahrens geboten gewesen wäre und erblickte in der unterbliebenen Sicherstellung der Anwesenheit des Angeklagten bei der mündlichen Berufungsverhandlung, um ihn solcherart in die Lage zu versetzen, sich "persönlich selbst zu verteidigen", eine Verletzung des Art 6 Abs 1 iVm Abs 3 lit c der EMRK.

Gestützt auf diese Entscheidung des EGMR beantragte der Verurteilte am 4.November 1993 beim Landesgericht Korneuburg die nachträgliche Strafmilderung gemäß § 410 StPO. Im wesentlichen machte er geltend, daß die Verletzung seiner Konventionsrechte eine Belastung darstelle, die das Strafübel schwerer empfinden lasse.

Mit Beschluß vom 29.November 1993, GZ 10 Vr 949/82-1265, wies das Landesgericht Korneuburg diesen Antrag des Verurteilten ab.

In seiner Begründung bejahte das Erstgericht, "daß eine allfällige Gesetzesverletzung einen Milderungsgrund darstellen kann". Mit Rücksicht auf die vom EGMR festgestellte Konventionsverletzung meinte es, daß "somit nur zu prüfen bliebe, ob der Oberste Gerichtshof bei der Verhandlung über die Berufung des Antragstellers in seinem Ausspruch über die Strafe anders entschieden hätte, wenn der Antragsteller bei dieser Berufungsverhandlung zugegen gewesen wäre". Als Ergebnis dieser Prüfung führte das Landesgericht aus, daß die Abwesenheit eines Rechtsmittelwerbers bei einer Verhandlung über die Berufung vor dem Obersten Gerichtshof keinen Einfluß auf die Willensbildung der Richter habe. Es sei gleichgültig, ob ein Verteidiger bzw ob der Rechtsmittelwerber selbst das Rechtsmittel im Rahmen des Gerichtstages mündlich ausführe. Eine Beeinflussung der entscheidenden Richter durch einen solchen mündlichen Vortrag könne nicht angenommen werden; dies ergebe sich aus der allgemeinen gerichtlichen Erfahrung.

Nach Ansicht des Generalprokurators steht dieser Beschluß mit dem Gesetz mehrfach nicht im Einklang. In der deshalb zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde führt er dazu aus:

"1./ Das Erstgericht geht mit dieser Argumentation nur formal, nicht aber inhaltlich auf das Erkenntnis des EuGH ein. Denn der EuGH stellt eine Konventionsverletzung nicht deshalb fest, weil der Angeklagte im Gerichtstag über die Berufung keine Möglichkeit hatte, das Rechtsmittel selbst vorzutragen, sondern erblickt einen Verstoß gegen Art 6 Abs 3 c der MRK in dem Umstand, daß der Oberste Gerichtshof im Rahmen des Berufungsverfahrens das - vom Angeklagten immer bestrittene und von den Geschworenen nicht angenommene - Motiv des Angeklagten für die Straftat, nämlich "um die Aufdeckung eigener finanzieller Verfehlungen zu verhindern", feststellte und gerade diese "negative Einstellung des Rechtsbrechers (im Sinne einer niedrigen Gesinnung)" dafür maßgebend war, die verhängte 20-jährige Freiheitsstrafe in eine lebenslange Freiheitsstrafe umzuwandeln (S 77, 78 des Urteiles des Obersten Gerichtshofes), wobei der Angeklagte nicht in die Lage versetzt war, sich "persönlich selbst zu verteidigen" (Punkt 67 bis 69 des Erkenntnisses des EuGH).

Das Erkenntnis des EuGH hat sohin die Überzeugung des Angeklagten bestätigt, er sei in einem (zumindest phasenweise) nicht konventionsgemäßen Verfahren zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt worden. Das Bewußtsein, ohne Verteidigungsmöglichkeit anstatt zu einer zeitlichen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden zu sein, führte beim Angeklagten - wie sich aus dem Wortlaut und Sinngehalt seiner zahlreichen Eingaben ergibt - zu einer erhöhten Strafempfindlichkeit, die zwar keinen Milderungsgrund im schuldstrafrechtlichen Sinn darstellt, aber - nachträglich hervorgekommen - allenfalls zu einer milderen Behandlung des Täters führen kann (vgl Kunst, RZ 1978, 121; Pallin, Die Strafzumessung in rechtlicher Sicht, Rz 74; Mayerhofer-Rieder StGB3 ENr 8 zu § 32).

Diesen Umstand, insbesondere die psychische Belastung des Verurteilten unter dem Gesichtspunkt des § 410 Abs 1 StPO (amtswegig) abzuwägen, hat aber das Erstgericht unterlassen.

2./ Nach dem klaren Wortlaut des Gesetzes hat der Gerichtshof erster Instanz von Amts wegen alle nach dem Urteil hervorgekommenen Milderungsgründe dahin zu prüfen, ob sie - einzeln oder in ihrem Zusammentreffen - eine mildere Behandlung des Täters herbeiführen könnten. Der vorliegende Beschluß stellt ausschließlich bloß formal auf die vom EuGH festgestellte Konventionsverletzung ab und läßt unberücksichtigt, daß - wie das Landesgericht Korneuburg in seinem Beschluß vom 12.August 1988 (ON 1137) ausdrücklich feststellte - ein weiterer mildernder Umstand vorliegt, nämlich die Tatsache, daß der Verurteilte nachträglich Leistungen zur Schadensgutmachung erbracht hat. Wenn auch dieser Milderungsgrund nach Auffassung des Erstgerichtes angesichts der Schwere des dem Angeklagten angelasteten Verbrechens des Mordes nur von geringem Gewicht ist (S 3 des zitierten Beschlusses), wäre dieses Gericht verpflichtet gewesen, von Amts wegen alle nach Rechtskraft des Urteils hervorgekommenen Umstände in einer Gesamtschau zu prüfen und dahin zu beurteilen, ob sie eine nachträgliche Milderung der Strafe - vorliegendenfalls durch den Obersten Gerichtshof (§ 410 Abs 3 StPO) - rechtfertigen könnten."

Rechtliche Beurteilung

Schon soweit die Wahrungsbeschwerde die wiedergegebene Begründung des angefochtenen Beschlusses (ON 1265) als rechtswidrig bekämpft, kommt ihr Berechtigung zu:

Wie der Generalprokurator in diesem Zusammenhang zutreffend ausführt, beschränken sich die Erwägungen des Erstgerichtes auf eine bloß formale Auseinandersetzung mit der vom EGMR festgestellten Konventionsverletzung. Auf Grund fehlerhafter, nicht verfassungskonformer Interpretation des § 296 Abs 3 StPO (s hiezu den Erlaß des BMJ vom 29.Jänner 1994, Zahl 64.008/25-II 3/94) wird die Auffassung vertreten, daß der bemängelten Abwesenheit eines "Rechtsmittelwerbers" bei der mündlichen Berufungsverhandlung vor dem Obersten Gerichtshof "nach allgemeiner gerichtlicher Erfahrung kein Einfluß" auf die richterliche Entscheidung zukommen könne. In die konkrete materielle Prüfung der behaupteten psychischen Auswirkungen der vorliegenden Gesetzesverletzung auf den Strafvollzug des Antragstellers wird nicht eingetreten.

Der angefochtene Beschluß verletzt daher schon aus diesem Grund zum Nachteil des Verurteilten das Gesetz in der Bestimmung des § 410 StPO. Dieser Beschluß war sohin aufzuheben und dem Landesgericht Korneuburg aufzutragen, über den Antrag des Verurteilten Dr.Friedrich Wilhelm K***** vom 4.November 1993 (ON 1260) neuerlich zu entscheiden bzw dem Gesetz gemäß zu verfahren. Hiebei wird das Erstgericht das gesamte bisherige Vorbringen des Verurteilten zum behaupteten nachträglichen Hervorkommen von Milderungsgründen - insbesondere auch jenes in seiner gemäß § 292 StPO erstatteten Äußerung zur Wahrungsbeschwerde - zu berücksichtigen haben.

Ein Vorgehen im Sinn des modizifierten Beschwerdeantrages im Gerichtstag bzw der Äußerung des Verurteilten gemäß § 292 StPO, nämlich nach Aufhebung des angefochtenen Beschlusses in der Sache selbst zu erkennen, war dem Obersten Gerichtshof im vorliegenden Fall verwehrt. Die angeregte "Sanierung" der Konventionsverletzung durch Vorladung des Verurteilten kam schon deshalb nicht in Betracht, weil nach ständiger (verfassungs- und EMRK-konformer) Rechtsprechung der aus welchem Grund immer verhaftete Angeklagte beim Gerichtstag über eine Nichtigkeitsbeschwerde (hier zur Wahrung des Gesetzes) nicht selbst, sondern nur durch einen Verteidiger erscheinen kann (§ 292 StPO iVm § 286 Abs 2 StPO). Im übrigen ist es insbesondere bei noch überprüfungsbedürftigen Behauptungen - wie vorliegend - Aufgabe des Erstgerichtes - das sich nach dem Gesetzeswortlaut vom Vorhandensein relevanter, allenfalls strafmildernder Umstände zu "überzeugen" hat -, alle nach Rechtskraft des Urteils hervorgekommenen diesbezüglichen Umstände in einer Gesamtschau zu prüfen, eine entsprechende Tatsachen- bzw. Entscheidungsgrundlage zu schaffen und diese sodann dahin zu beurteilen, ob sie eine nachträgliche Milderung der Strafe durch die hiezu berufene Instanz rechtfertigen könnte.

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