European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1994:0120OS00051.9400000.0505.000
Rechtsgebiet: Strafrecht
Spruch:
Die Urteile des Bezirksgerichtes Floridsdorf vom 16. April 1993, GZ 14 U 106/93‑8, und des Landesgerichtes für Strafsachen Wien als Berufungsgericht vom 2. September 1993, AZ 13 a Bl 646/93, verletzen das Gesetz in der Bestimmung des § 88 Abs 1 und 4 erster Fall StGB.
Beide Urteile werden aufgehoben und es wird gemäß §§ 292, 288 Abs 2 Z 3 StPO in der Sache selbst erkannt:
Dipl. Ing. Helmut T* wird von der Anklage, er habe am 10. Dezember 1992 in Wien als Lenker des Personenkraftwagens Marke BMW 520 mit dem polizeilichen Kennzeichen W 43.819 C dadurch, daß er bei der Ausfahrt aus dem Parkplatz der Firma S* in Richtung Heinrich von Buol‑Gasse den Gehsteig in einem Zug bei einer Geschwindigkeit von 3 bis 4 km/h querte, obwohl er zunächst keine Sicht nach rechts hatte, wodurch die auf dem Gehsteig fahrende Radfahrerin Rosa K* gegen sein Fahrzeug stieß und einen Bruch des rechten Unterarmes sowie eine Schädelprellung und Abschürfungen an den Knien erlitt, die Genannte fahrlässig am Körper verletzt und hiedurch das Vergehen der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und 4 erster Fall StGB begangen, gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen.
Gemäß § 366 Abs 1 StPO wird die Privatbeteiligte Rosa K* mit ihren Ersatzansprüchen auf den Zivilrechtsweg verwiesen.
Gründe:
Mit dem Urteil des Bezirksgerichtes Floridsdorf vom 16.April 1993, GZ 14 U 106/93‑8, wurde der am 8.Juni 1936 geborene technische Angestellte Dipl.Ing.Helmut T* des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und 4, erster Fall StGB schuldig erkannt und hiefür zu einer bedingt nachgesehenen Geldstrafe verurteilt. Ihm lag zur Last, am 10.Dezember 1992 im 21.Wiener Gemeindebezirk einen Verkehrsunfall mitverschuldet zu haben, bei dem die Radfahrerin Rosa K* schwer verletzt wurde. Mit Urteil vom 2.September 1993, AZ 13 a Bl 646/93, wies das Landesgericht für Strafsachen Wien die Nichtigkeitsberufung des Angeklagten als unbegründet zurück und gab seiner Schuldberufung nicht Folge.
Nach den wesentlichen ‑ vom Landesgericht für Strafsachen Wien als Berufungsgericht übernommenen ‑ erstgerichtlichen Feststellungen lenkte der Beschuldigte seinen PKW Marke BMW 520, Kennzeichen W 43.819 C, bei Tageslicht aus dem Parkplatz der Firma S* in Richtung der Heinrich von Buol‑Gasse, indem er ab der bei der Ausfahrt angebrachten Haltelinie mit "schleifender Kupplung" unter Einhaltung einer Geschwindigkeit von rund 3 bis 4 km/h in einem Zug aus der Ausfahrt fuhr. Hiebei hatte er zunächst den Gehsteig (§ 2 Z 10 StVO) der Heinrich von Buol‑Gasse zu queren. Dort näherte sich zur selben Zeit (aus der Fahrtrichtung des Beschuldigten gesehen) von rechts ‑ verbotswidrig (§§ 8 Abs 4, 68 Abs 1, dritter Satz StVO) ‑ die 67‑jährige Pensionistin Rosa K* auf ihrem City Bike mit einer Geschwindigkeit von 5 bis 10 km/h. Dipl.Ing.T* konnte die Radfahrerin aus seiner Sitzposition im PKW wegen einer das Firmengrundstück begrenzenden Mauer, die ihm die Sicht auf den rechts gelegenen Gehsteigbereich zu Beginn seines Ausfahrmanövers zur Gänze nahm, erst zu einem Zeitpunkt wahrnehmen, als die Front seines Fahrzeuges zwei Meter in den Gehsteig hineinragte. Als er von der Stillstandsposition nach etwa 0,5 bis einer Sekunde eine Wegstrecke von rund 2,5 bis 3 m zurückgelegt hatte, kam es zum Kontakt zwischen der rechten Frontseite des Kraftwagens und Rosa K*, die hiedurch zu Boden stürzte und einen Bruch des rechten Unterarmes, eine Schädelprellung sowie Abschürfungen an beiden Knien erlitt.
Beide befaßten Gerichte gingen davon aus, daß bei den gegebenen Sichtverhältnissen unter Berücksichtigung einer Reaktionszeit von 0,8 Sekunden für Dipl.Ing.T* keine Möglichkeit bestand, rechtzeitig eine wirksame Abwehrhandlung zu setzen bzw sein Fahrzeug vor dem Kontaktpunkt zum Stillstand zu bringen.
Dennoch beurteilten sie sein Verhalten ‑ allerdings aus unterschiedlichen rechtlichen Erwägungen ‑ als Vergehen der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und 4, erster Fall StGB.
Das Bezirksgericht erblickte die objektive Sorgfaltsverletzung des Beschuldigten in einem Verstoß gegen die Vorschrift des § 13 Abs 3 StVO, weil es davon ausging, daß bei der vorliegenden Sichtbehinderung die Beiziehung eines Einweisers geboten gewesen wäre.
Demgegenüber gelangte das Berufungsgericht zur Auffassung, daß eine von der Judikatur für die Notwendigkeit der Verwendung eines Einweisers vorausgesetzte extreme Verkehrssituation zwar (noch) nicht gegeben gewesen sei. Der Sorgfaltsverstoß des Angeklagten liege jedoch darin, daß er es verabsäumt habe, der konkreten ‑ für ihn jedenfalls in bezug auf laufende bzw Kleinfahrräder benützende Kinder erkennbaren ‑ Gefahrenlage durch zentimeterweises Vortasten in Etappen Rechnung zu tragen. Ein derartiges Fahrverhalten hätte ihm ein sofortiges (unfallverhütendes bzw risikoverminderndes) Anhalten beim ersten Sichtkontakt auf das spätere Unfallopfer ermöglicht.
Rechtliche Beurteilung
Der Schuldspruch steht mit dem Gesetz nicht im Einklang, weil beide Instanzen ‑ wie die Generalprokuratur zutreffend ausführt ‑ die Kriterien der objektiven Sorgfaltswidrigkeit im Sinne des § 6 Abs 1 StGB unrichtig beurteilt haben:
Die Verkehrssituation war dadurch gekennzeichnet, daß dem PKW‑Lenker Dipl.Ing.T* am Beginn seines Ausfahrmanövers aus dem Parkplatz die Sicht auf den davor gelegenen rechtsseitigen Gehsteigbereich, auf welchem sich die Radfahrerin Rosa K* regelwidrig näherte, zufolge eines durch bauliche Gegebenheiten bewirkten großen toten Winkels völlig genommen war.
Nach der Bestimmung des § 13 Abs 3 StVO ist der Lenker eines Kraftfahrzeuges verpflichtet, sich (unter anderem) beim Ausfahren aus einem Grundstück von einer geeigneten Person einweisen zu lassen, wenn es die Verkehrssicherheit erfordert, insbesondere wenn der Lenker ‑ wie hier ‑ einen nicht eingesehenen Raum zu durchfahren hat (vgl Benes‑Messiner StVO8 E 31 zu § 13).
Im Bereich des Straßenverkehrs begrenzt jedoch der in § 3 StVO verankerte Vertrauensgrundsatz ausdrücklich die objektiven Sorgfaltspflichten, indem in dieser Bestimmung der von Lehre und Rechtsprechung entwickelte Grundsatz des "erlaubten Risikos" dahingehend positiv‑rechtlich verankert ist, daß grundsätzlich jeder Straßenbenützer ‑ von bestimmten Ausnahmen abgesehen ‑ auf die Einhaltung der für die Benützung der Straße maßgeblichen Rechtsvorschriften durch die anderen Verkehrsteilnehmer vertrauen darf.
Unter diesem Aspekt ist die Vorschrift des § 13 Abs 3 StVO nach ständiger Judikatur nur für jene Extremsituationen gedacht, in welchen nach den Umständen des Einzelfalles ins Kalkül gezogen werden muß, daß ein anderer Straßenbenützer auch bei vorschriftsmäßigem Verhalten überhaupt nicht oder nur schwer einen Unfall mit einem für ihn plötzlich auftauchenden Fahrzeug vermeiden kann. Bei Prüfung der Verkehrssituation darf aber derjenige, der die potentielle Gefahrenlage schafft, grundsätzlich davon ausgehen, daß sich die anderen, für ihn derzeit (noch) nicht wahrnehmbaren Verkehrsteilnehmer vorschriftsgemäß verhalten (vgl Benes‑Messiner aaO E 34 und 37 zu § 13; 11 Os 72,73/89 ua).
Im Hinblick auf § 3 StVO (ein in dieser Gesetzesstelle angeführter Ausnahmefall liegt hier nicht vor) durfte Dipl.Ing.T* daher ungeachtet des Umstandes, daß er sich beim Ausfahren aus dem Grundstück auf die Straße im Nachrang befand, darauf vertrauen, daß der für ihn uneinsehbare Gehsteigbereich nicht etwa von einem ‑ noch nicht wahrnehmbaren - Radfahrer (§§ 8 Abs 4, 68 Abs 1 StVO zuwider) regelwidrig befahren wird. Ein sich verkehrsgerecht verhaltender Fußgänger bzw ein sein Rad erlaubterweise schiebender Radfahrer (§ 68 Abs 1 letzter Halbsatz StVO) hingegen ‑ mit dessen Auftreten Dipl.Ing.T* allein rechnen mußte ‑ hätte bei gehöriger Aufmerksamkeit die Gefahrenquelle in Form des in Schrittgeschwindigkeit ausfahrenden Personenkraftwagens zeitgerecht erkennen und vor ihr ohne weiteres unmittelbar anhalten können, sodaß für den Angeklagten tatsächlich keine Notwendigkeit bestand, das Ausfahrvorhaben aus dem in Rede stehenden (regelmäßig frequentierten) Parkplatz nur unter Beiziehung eines Einweisers durchzuführen (vgl ähnlich 11 Os 55,56/91).
Das Berufungsgericht hat daher die Ansicht des Erstgerichtes, wonach Dipl.Ing.T* bei den herrschenden mangelhaften Sichtverhältnissen gemäß § 13 Abs 3 StVO verpflichtet gewesen wäre, eine geeignete Person als Einweiser zu verwenden, zu Recht abgelehnt.
Aber auch die von der zweiten Instanz vertretene Rechtsauffassung, der Angeklagte wäre verpflichtet gewesen, der Verkehrssituation durch zentimeterweises Vorrollen in Etappen Rechnung zu tragen, um dadurch eine rechtzeitige unfallverhütende Reaktion setzen zu können, ist verfehlt:
Diese unter dem Gesichtspunkt rechtmäßigen Alternativerhaltens als zumutbar erachtete Fahrweise würde nämlich den Rahmen des an einen besonnenen PKW‑Lenker im konkreten Fall (unter Berücksichtigung des sozialadäquaten Risikos im Straßenverkehr) vernünftigerweise zu stellenden Anforderungsprofils sprengen. Die im gegebenen Zusammenhang auf laufende bzw radfahrende Kinder bezogenen Überlegungen des Landesgerichtes für Strafsachen Wien gehen bloß von hypothetisch‑abstrakten Überlegungen aus und übersehen, daß auch die Nichtanwendung des Vertrauensgrundsatzes gegenüber Kindern deren Wahrnehmbarkeit voraussetzt, soferne ihre Anwesenheit und demnach eine unklare Verkehrssituation durch spezielle Umstände ‑ wie etwa in der Nähe einer Schule ‑ nicht konkret indiziert ist (Burgstaller WK § 80 RN 30), was jedoch im vorliegenden Fall nicht zutrifft.
Angemerkt sei, daß für Dipl.Ing.Helmut T* unter den gegebenen Umständen (mangelnde Erkennbarkeit des Fehlverhaltens der Radfahrerin) auch keine Verpflichtung zur allfälligen Abgabe von akustischen Warnzeichen im Sinne des § 22 Abs 1 StVO bestand: Setzt doch die Anwendung dieser Vorschrift unter dem Blickpunkt des § 3 StVO ebenfalls voraus, daß die Bedrohung der Verkehrssicherheit für den Lenker eines Kraftfahrzeuges wahrgenommen oder wenigstens mit einiger Wahrscheinlichkeit vorausgesetzt werden kann (vgl ähnlich ZVR 1977/159; ZVR 1981/262).
Der Versuch, den vor der Ausfahrt gelegenen Gehsteig in einem Zug mit einer Fahrgeschwindigkeit von 3 bis 4 km/h ohne Verwendung eines Einweisers zu überqueren, ist Dipl.Ing.Helmut T* sohin nicht als objektive Sorgfaltswidrigkeit anzulasten, da er in der konkreten Situation den durch die Straßenverkehrsordnung gezogenen Rahmen des erlaubten Risikos im Straßenverkehr nicht überschritten hat.
Mithin war in Stattgebung der vom Generalprokurator gemäß § 33 Abs 2 StPO erhobenen Beschwerde spruchgemäß zu erkennen.
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