Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Das angefochtene Urteil des Berufungsgerichtes wird dahin abgeändert, daß das Urteil des Erstgerichtes einschließlich seiner Kostenentscheidung zur Gänze wieder- hergestellt wird.
Die beklagte Partei ist schuldig, dem Kläger die mit S 6.641,28 bestimmten Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens (darin enthalten S 1.106,88 Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Der am 8.2.1939 geborene Kläger erlitt am 22.12.1960 einen Arbeitsunfall, bei dem er sich einen offenen Bruch des linken Unterschenkels mit Abbruch der vorderen unteren Schienbeinkante und eine Weichteilquetschung mit nachfolgendem Teilverlust des linken Vorfußes zuzog. Die beklagte Allgemeine Unfallversicherungsanstalt gewährte ihm hiefür eine Versehrtenrente von 25 v.H. der Vollrente. Am 21.3.1991 stellte der Kläger einen Verschlimmerungsantrag, den die Beklagte mit Bescheid abwies. Der dagegen erhobenen Klage wurde stattgegeben; die Beklagte wurde schuldig erkannt, dem Kläger für die Folgen des Unfalls vom 22.12.1960 eine Versehrtenrente von 35 v.H. der Vollrente ab 21.3.1991 zu gewähren.
Am 17.7.1990 schlug sich der Kläger mit einem 5 bis 6 kg schweren Vorschlaghammer auf die rechte obere Seite des linken Handgelenks. Es traten eine leichte Rötung, eine leichte Schwellung und eher mäßige Schmerzen auf. Der Kläger nahm keine ärztliche Hilfe in Anspruch und konnte die Arbeit ohne wesentliche Einschränkung der Beweglichkeit des linken Handgelenkes fortsetzen. Seit diesem Unfall hatte er aber insbesondere bei schweren manuellen Arbeiten leichte bis mäßige Beschwerden im linken Handgelenk. Am 2.1.1991 rutschte der Kläger beim Aussteigen aus dem von ihm gelenkten Autobus aus und prallte beim Griff mit der linken Hand nach rückwärts auf eine der untersten Stufen, wodurch beim Abfangen des Sturzes die linke Hand ruckartig mit großer Wucht zurückgebogen wurde. Er verspürte sogleich starke Schmerzen am linken Handgelenk.
Mit Bescheid vom 24.1.1992 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Versehrtenrente aus den beiden zuletzt genannten Unfällen ab, da Unfallsfolgen nicht vorhanden seien.
Das Erstgericht erkannte die Beklagte schuldig, dem Kläger für die Folgen der drei Unfälle eine Versehrtenrente im Ausmaß von 40 v.H. der Vollrente für die Zeit vom 7.1. bis 20.3.1991 und im Ausmaß von 50 v.H. der Vollrente samt Zusatzrente ab 21.3.1991 zu gewähren. Das Mehrbegehren auf Leistung einer höheren Versehrtenrente (insgesamt 65 v. H. der Vollrente) wies es ab. Es stellte folgenden weiteren Sachverhalt fest:
Schon vor dem Unfall im Juli 1990 bestand beim Kläger mit hoher Wahrscheinlichkeit ein alter Bruch des linken Kahnbeines und daraus resultierend eine sogenannte stabile Kahnbeinpseudarthrose. Nach dem Unfall vom 2.1.1991 trat eine deutliche subjektive und objektive Verschlechterung der Handgelenksfunktion links ein. Dieser Unfall hat mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Instabilisierung der vorher bestehenden Pseudarthrose geführt, d.h. er bewirkte eine Überführung von einer asymptomatischen bzw symptomarmen in eine symptomatische Pseudarthrose mit entsprechend zunehmenden Beschwerden. Jedes beliebige ähnliche Ereignis, das zu einer Verstauchung oder Zerrung des Handgelenkes geführt hätte, wäre geeignet gewesen, einen vergleichbaren Verlauf des Körperschadens auch etwa im selben Zeitraum zu bewirken. Eine Traumatisierung, wenn auch nur geringer Art, ist erforderlich, damit es zum Manifestwerden einer Pseudarthrose kommt. Dabei handelt es sich häufig um sogenannte Bagatelltraumen, zB geringgradige Verstauchungen, die vorkommen, wenn jemand ausrutscht, den Sturz verhindern will und sich irgendwo abstützt oder wenn man sich in der Straßenbahn oder im Bus anhält und es beim Bremsen zu einer verstärkten Zerrung des Handgelenkes kommt. Es bedarf also jedenfalls einer von außen einwirkenden Kraft, die allerdings nur geringfügig sein muß. Unter gewissen Voraussetzungen wäre der Zustand im Handgelenk auch eingetreten, wenn der Kläger etwa eine Bierkiste aus dem Auto hebt, dabei das Gleichgewicht verliert und ein stärkerer Bewegungsimpuls auf das Handgelenk wirkt. Eine Vielzahl von Tätigkeiten im täglichen Leben kann einen derartigen Impuls auslösen, jedenfalls ist aber ein gewisses Trauma, eine von außen wirkende Kraft erforderlich.
Die Minderung der Erwerbsfähigkeit auf Grund der Funktionseinschränkung des linken Handgelenkes, die durch den Unfall vom 2.1.1991 manifest wurde, beträgt seit Beendigung des Krankenstandes, also seit 7.1.1991 20 v.H. Betreffend den Arbeitsunfall aus dem Jahr 1960 ist ein Endzustand (Vorfußamputation links mit ungünstigen Stumpfverhältnissen; Arthrose und Kontraktur des oberen und unteren Sprunggelenkes in Fehlstellung; chronisch rezidivierende Osteomylitis der Fußwurzel links) eingetreten; eine Besserung ist nicht zu erwarten. Eine vollständige Addition der beiden MdE-Werte auf Grund der Fußverletzung und der Handgelenksverletzung ist nicht adäquat, die Überschneidung bezogen auf die Auswirkung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ist aber gering. Die Gesamtminderung der Erwerbsfähigkeit liegt seit 21.3.1991 bei 50 v. H.; der Kläger ist als Schwerversehrter einzustufen.
Rechtlich führte das Erstgericht aus, es gebe keinen Hinweis dafür, daß der Kläger innerhalb eines Jahres gestürzt wäre oder sich aus einem sonstigen Grund das linke Handgelenk verletzt hätte. Es gäbe nicht einmal einen Hinweis dafür, daß er sich überhaupt seit dem letzten Arbeitsunfall verletzt habe. Der Unfall vom 2.1.1991 sei daher nicht als bloße Gelegenheitsursache für die Handgelenksprobleme des Klägers zu werten, diese seien vielmehr Folgen der geschützten Tätigkeit. Dasselbe gelte für den Unfall vom 17.7.1990, der für sich jedoch keine wesentlichen Folgen nach sich gezogen habe. Dementsprechend sei ab dem frühestmöglichen Zeitpunkt eine Gesamtrente zu bilden (§ 210 ASVG). Da nach den Ausführungen des Sachverständigen eine Überschneidung von 5 v.H. anzunehmen sei, sei für die Zeit bis zur Verschlimmerungsmeldung betreffend den ersten Unfall eine Versehrtenrente von 40 v.H. und danach eine solche von 50 v. H. zuzuerkennen.
Das Berufungsgericht änderte über Berufung der Beklagten das Urteil dahin ab, daß es das Klagebegehren zur Gänze abwies. Nach der im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Theorie der wesentlichen Bedingung sei als Ursache unter Abwägung ihres Wertes im Verhältnis zu mitwirkenden Ursachen nur diejenige Bedingung anzusehen, die wegen ihrer besonderen Bedeutung für den Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich beigetragen habe. Die Wesentlichkeit sei im Einzelfall nach der Anschauung des täglichen Lebens zu beurteilen. Bei der Verursachung des Unfalls durch mehrere Ereignisse sei Kausalität zu bejahen, wenn eines davon den Kausalverlauf wesentlich mitbeeinflußt habe und der versicherten Tätigkeit zuzurechnen sei. Trete eine Ursache gegenüber den anderen erheblich in den Hintergrund, fehle die Kausalität. Wesentlich seien nur jene Bedingungen, ohne deren Mitwirkung der Erfolg zu einem erheblich anderen Zeitpunkt oder nur in geringerem Umfang eingetreten wäre.
Dieser Grundsatz sei auf die sogenannten Anlagefälle zugeschnitten:
Der Gesundheitszustand sei zwar real durch eine kausale Einwirkung aus dem Schutzbereich der Unfallversicherung entstanden, doch wäre er aller Wahrscheinlichkeit nach innerhalb kurzer Zeit in ähnlicher Schwere auch auf Grund einer schicksalhaften inneren Anlage entstanden. Der Körperschaden werde nur dann der Unfallversicherung zugerechnet, wenn er ohne den Umstand aus der Gefahrensphäre der Unfallversicherung erheblich später oder erheblich geringer eingetreten wäre. Im Sinne der Theorie der wesentlichen Bedingung fehle die Kausalität aber jedenfalls dann, wenn der Unfall auf eine innere Ursache zurückzuführen sei. Das Unfallereignis treffe dann mit einer beim Versicherten bereits vorhandenen Krankheitsanlage zusammen und führe den Körperschaden herbei. Eine innere Ursache liege vor, wenn ein anlagebedingtes Leiden des Versicherten so leicht ansprechbar sei, daß es zur Auslösung akuter Erscheinungen nicht besonderer äußerer Einwirkungen bedürfte, sondern jedes andere alltäglich vorkommende Ereignis etwa zur selben Zeit die Erscheinungen ausgelöst hätte. Hier treffe der Unfall zufällig während, aber nicht infolge der versicherten Tätigkeit ein, so daß die versicherte Tätigkeit nicht die wesentliche Ursache bilde. Gerade die vom Erstgericht festgestellten Beispiele, die zu einer Verstauchung oder Zerrung des Handgelenks führen könnten, seien alltäglich vorkommende Ereignisse. Wesentlich für das Auslösen der symptomatischen Pseudarthrose sei beim Abfangen des Sturzes mit der linken Hand nicht die große Wucht gewesen, mit der die linke Hand ruckartig nach hinten gebogen worden sei, sondern das Vorhandensein einer asymptomatischen Pseudarthrose. Daraus ergebe sich, daß die beiden letzten Unfälle als Gelegenheitsursache anzusehen seien.
Gegen dieses Urteil des Gerichtes zweiter Instanz richtet sich die Revision des Klägers aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung der Sache. Er beantragt die Abänderung im Sinne einer Wiederherstellung des Urteils erster Instanz.
Die Beklagte beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist berechtigt.
Im Sinne der neueren Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes (SSV-NF 5/140 = JBl 1992, 469; SSV-NF 6/30, 7/10 mwN ua) muß in einem Fall wie dem vorliegenden beurteilt werden, ob es zumindest gleich wahrscheinlich ist, daß die krankhafte Veranlagung des Klägers die wesentliche Ursache für die Körperschädigung war. Hiebei kommt es nicht darauf an, ob wegen dieser Veranlagung jedes andere alltäglich vorkommende Ereignis dieselbe Schädigung hätte herbeiführen können, sondern darauf, ob es zumindest gleich wahrscheinlich ist, daß ein solches Ereignis in naher Zukunft tatsächlich vorgekommen wäre und dieselbe Schädigung ausgelöst hätte; nur dann wäre der Anscheinsbeweis als mißlungen anzusehen.
Im vorliegenden Fall hat der Kläger den Anschein für sich, daß die geltend gemachte Körperschädigung durch einen Arbeitsunfall wesentlich verursacht wurde, weil sie auf ein als Unfall zu wertendes Ereignis am 2.1.1991 zurückgeht, das sich während der die Versicherung begründenden Beschäftigung ereignete. Es kommt nun darauf an, ob irgend ein alltägliches, nicht als Arbeitsunfall zu qualifizierendes Ereignis, das sich im Rahmen des festgestellten Belastungskalküls bewegt, in naher Zukunft tatsächlich vorgekommen wäre und dieselbe Schädigung ausgelöst hätte (SSV-NF 7/10). Im vorliegenden Fall ist nicht bewiesen, daß jedes andere alltäglich vorkommende Ereignis dieselbe Schädigung ausgelöst hätte. Dies wäre nur dann der Fall, wenn hiefür ein äußeres Ereignis ausgereicht hätte, welches das Maß alltäglicher Belastung nicht überschreitet. Ein äußeres Ereignis im Maß einer alltäglichen Belastung ist nämlich bei einem mitwirkenden Vorschaden immer nur eine sogenannte Gelegenheitsursache, begründet also keinen Arbeitsunfall. Alltäglich sind die Belastungen, die altersentsprechend üblicherweise mit gewisser Regelmäßigkeit im Leben auftreten, wenn auch nicht jeden Tag, wie etwa normales oder auch beschleunigtes Gehen, unter Umständen auch kurzes schnelles Laufen, Treppen steigen, Bücken, leichtes bis mittelschweres Heben oder ähnliche Kraftanstrengungen (Ricke im Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, 11 RVO § 548 Rz 12 mwN). Im Fall des Klägers hätte eine solche alltägliche Belastung nicht ausgereicht, um das Leiden akut zu machen, vielmehr hätte es einer zur Verstauchung oder Zerrung des Handgelenkes führenden Traumatisierung bedurft: Der Kläger hätte ausrutschen, stürzen oder bei einer Bremsung in einem öffentlichen Verkehrsmittel oder beim Heben schwererer Lasten das Gleichgewicht verlieren müssen, um eine Verstauchung oder Zerrung des Handgelenkes zu erleiden. Daß eine solche Traumatisierung des Handgelenkes in naher Zukunft tatsächlich vorgekommen wäre und dieselbe Schädigung ausgelöst hätte, ist - wie schon das Erstgericht zutreffend erkannte - nicht wahrscheinlich. Soweit den Entscheidungen SSV-NF 3/95 (Hundebiß) und SSV-NF 4/113 (Sturz aufs Knie) noch eine andere Rechtsauffassung zugrunde liegt, kann diese nicht aufrecht erhalten werden. Es trifft nämlich nicht zu, daß Hundebisse, Verkehrsunfälle oder Stürze als alltägliche Ereignisse im Sinne der obigen Ausführungen qualifiziert werden können (vgl. bereits SSV-NF 6/30). Davon abgesehen wäre auch ein Beweis, daß ein Versicherter in naher Zukunft von einem Hund gebissen, einen Verkehrsunfall erleiden oder zu Boden stürzen würde, im allgemeinen gar nicht zu erbringen, auch wenn man sich mit dem Beweis der Wahrscheinlichkeit eines solchen Ereignisses begnügt.
Der beim Kläger bestehende Zustand der linken Hand ist daher als Unfallsfolge anzusehen. In Stattgebung der Revision des Klägers war somit das erstgerichtliche Urteil zur Gänze wiederherzustellen.
Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG.
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