OGH 10ObS41/94

OGH10ObS41/9428.2.1994

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Edeltraud Haselmann (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Alfred Klair (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Irmgard W*****, ohne Beschäftigung, *****, vertreten durch Dr. Bruno Pollak, Rechtsanwalt in Klagenfurt, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 4. November 1993, GZ 8 Rs 48/93-13, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Klagenfurt als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 25. März 1993, GZ 35 Cgs 247/92-8, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Prozeßgericht erster Instanz zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Die am 4.2.1940 geborene Klägerin war innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag überwiegend als Serviererin im Gastgewerbe tätig, daneben auch als selbständige Gastwirtin und als Hilfskraft in einer Rechtsanwaltskanzlei. Infolge gesundheitsbedingter Einschränkungen sind ihr nur leichte und mittelschwere Arbeiten zumutbar, wobei sie die Hälfte der Arbeitszeit im Sitzen verbringen muß. Ständiges Sitzen ist aber durchaus möglich. Das gehäufte Heben und Tragen von Lasten ist mit 8 bis 10 Kilogramm zu beschränken. Das Begehen von steilem und unebenem Gelände ist nicht zumutbar.

Das Erstgericht wies das auf Gewährung der Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1.7.1992 gerichtete Klagebegehren ab. Es ging davon aus, daß die Klägerin noch die Tätigkeit einer Sitzkassierin in einem Selbstbedienungsrestaurant ausüben könne. Diese Arbeit gehe über eine mittelschwere körperliche Belastung nicht hinaus und könne nach eigenem Bedarf abwechselnd im Stehen oder Sitzen durchgeführt werden. Sie sei nicht mit Heben und Tragen von Lasten über 8 bis 10 Kilogramm verbunden. Es sei dabei ohne weiteres möglich, die Hälfte der Arbeitszeit oder mehr im Sitzen zu verbringen. Auch wenn man davon ausgehe, daß der von der Klägerin überwiegend ausgeübte Beruf einer Serviererin ein angelernter bzw. erlernter iS des § 255 Abs 1 und 2 ASVG sei, könne die Klägerin auf den Beruf einer Sitzkassierin verwiesen werden. Derartige Arbeitsplätze gebe es auch in ausreichender Zahl, weshalb Invalidität nicht angenommen werden könne.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Es verwies auf die ständige Rechtsprechung, wonach ein Versicherter, der in der Lage sei, eine Verweisungstätigkeit ohne Einschränkung zu verrichten, nach den gerichtsbekannten Umständen den vollen kollektivvertraglichen Lohn erzielen könne. Aber auch wenn das Entgelt nicht kollektivvertraglich geregelt sein sollte, könne ein in Ausübung der Verweisungstätigkeit nicht beschränkter Dienstnehmer das Entgelt erwerben, das andere dafür geeignete Arbeiter hiefür zu erzielen pflegten. Die Klägerin könne daher das für Sitzkassierinnen in einem Selbstbedienungsrestaurant vorgeschriebene oder übliche Entgelt verdienen, weshalb weder ihre Verdienstmöglichkeiten noch ihre Arbeitsfähigkeit unter die in § 255 Abs 1 ASVG genannte Hälfte der Arbeitsfähigkeit eines körperlich und geistig gesunden Versicherten herabgesunken sei. Die Rechtsansicht des Erstgerichtes, daß eine angelernte Kellnerin auf die Tätigkeit einer Sitzkassierin verwiesen werden könne, weil es sich bei diesem Beruf oder bei jenem eines Küchenkassiers um eine artverwandte Tätigkeit zum Kellnerberuf handle, entspreche der ständigen Judikatur. Da etwa die Küchenkassierin einen Großteil der für eine Kellnerin nötigen Kenntnisse und Fähigkeiten einsetzen müsse, sei auch nicht zu besorgen, daß durch eine solche Tätigkeit der Berufsschutz verloren ginge.

Gegen dieses Urteil des Berufungsgerichtes richtet sich die Revision der Klägerin aus den Revisionsgründen der Mangelhaftigkeit des Verfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung der Sache. Sie beantragt die Abänderung im Sinne einer Stattgebung des Klagebegehrens und stellt hilfsweise einen Aufhebungsantrag.

Die Beklagte beteiligte sich nicht am Revisionsverfahren.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Sinne ihres hilfsweise gestellten Aufhebungsantrages berechtigt.

In ihrer Mängelrüge macht die Klägerin geltend, die Vorinstanzen hätten sich nicht mit der Frage auseinandergesetzt, wie sich das Berufsbild einer Sitzkassierin in Selbstbedienungsrestaurants in den tatsächlichen wirtschaftlichen Gegebenheiten darstelle. Demnach wird unter diesem Revisionsgrund nicht ein in erster Instanz unterlaufener Verfahrensverstoß, sondern ein der rechtlichen Beurteilung zuzuordnender Feststellungsmangel betreffend das Anforderungsprofil im Verweisungsberuf geltend gemacht. Die betreffenden Revisionsausführungen werden dann auch in der Rechtsrüge wiederholt. Weiters führt die Klägerin aus, in dem genannten Verweisungsberuf seien Arbeitsplätze in ausreichendem Ausmaß auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht vorhanden.

Die Sache ist in mehrfacher Hinsicht nicht spruchreif. Zunächst kann nicht beurteilt werden, ob die Klägerin Berufsschutz als angelernte Kellnerin genießt, weil der Inhalt ihrer Berufstätigkeit ungeprüft blieb. Die Feststellung, daß die Klägerin im wesentlichen als Serviererin im Gastgewerbe tätig war, sagt zu wenig über Art und Umfang ihres Aufgabenbereiches aus. Die Klärung der Frage, ob ein Versicherter Berufsschutz genießt, ist in allen Fällen, in denen, ausgehend vom Bestehen eines Berufsschutzes, die Verweisbarkeit in Frage gestellt ist, unabdingbare Entscheidungsvoraussetzung. Wenn nach dem Inhalt des Prozeßvorbringens hierüber keine Klarheit besteht und nach der Aktenlage nicht ohne weiteres der Schluß gezogen werden kann, daß die Klägerin als einfache Hilfsarbeiterin tätig war, hat das Gericht auf Grund der Bestimmung des § 87 Abs 1 ASGG diese Frage von Amts wegen zu überprüfen und hierüber Feststellungen zu treffen. Nur dann, wenn nach der Aktenlage jeglicher Anhaltspunkt dafür fehlt, daß ein Versicherter eine angelernte Tätigkeit ausgeübt hat, bedarf es keiner weiteren Erhebungen und Feststellungen über die genaue Art der von ihm verrichteten Tätigkeiten (SSV-NF 4/119, 3/136 ua).

Nach der Entscheidung SSV-NF 4/166 wurde einer Versicherten, die im Beobachtungszeitraum überwiegend als Serviererin in einer Imbißstube beschäftigt war, in der Würstel, Pommes frites, Grillkotellets und gegrillte Hühner angeboten wurden, der Berufsschutz als angelernte Kellnerin versagt, weil dabei keine Kenntnisse und Fähigkeiten in jenem Ausmaß zum Tragen gekommen seien, das hiefür üblicherweise von gelernten Arbeitern dieser Berufsgruppe erwartet werde. Nach den bisherigen Feststellungen kann nicht beurteilt werden, ob die Klägerin lediglich derartige einfache Serviertätigkeiten oder aber wesentliche Teiltätigkeiten des Kellnerinnenberufes verrichtete.

Aber auch die Anforderungen in den Verweisungsberufen wurden nicht ausreichend festgestellt. Es trifft zu, daß eine angelernte Kellnerin grundsätzlich auf die Tätigkeiten einer Küchenkassierin verwiesen werden kann (SSV-NF 2/128; 10 Ob S 163/93), doch wurde bisher nicht erörtert, ob dies auch im Fall der Klägerin möglich ist. Insbesondere steht nicht fest, welche beruflichen Anforderungen derzeit an Küchenkassierinnen oder auch an Sitzkassierinnen in einem Selbstbedienungsrestaurant gestellt werden und wieviel Arbeitsplätze auf dem österreichischen Arbeitsmarkt in diesem Beruf zur Verfügung stehen. Solange Tatsachen nicht auf Grund einer Mehrzahl gleichartiger Entscheidungen offenkundig sind, hier also die Anforderungen und die Zahl der Arbeitsplätze für Küchenkassierinnen und Sitzkassierinnen in Selbst- bedienungsrestaurants, muß sie in jedem Verfahren von den Tatsacheninstanzen geprüft und neuerlich festgestellt werden, wobei Vorentscheidungen nur im Rahmen der Würdigung von Beweisen zum Tragen kommen können (SSV-NF 6/4 = DRdA 1992, 367 [Harrer], 10 Ob S 163/93). Da die genannten Fragen nicht erörtert und die erforderlichen Feststellungen nicht getroffen wurden, kann noch nicht beurteilt werden, ob die Klägerin Berufsschutz genießt und welche Verweisungstätigkeiten für sie in Frage kommen.

Der Revision war daher Folge zu geben. Da es offenbar einer Verhandlung in erster Instanz bedarf, um die Sache spruchreif zu machen, war unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen die Sache an das Erstgericht zurückzuverweisen.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG.

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