OGH 2Ob68/93

OGH2Ob68/9311.11.1993

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Melber als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Zehetner, Dr.Graf, Dr.Schinko und Dr.Tittel als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Peter P*****, vertreten durch Dr.Gerhard Strobich, Rechtsanwalt in Trofaiach, wider die beklagten Parteien 1. Helmut O*****, und 2. ***** Versicherungs-AG, ***** beide vertreten durch Dr.Kurt Hanusch und Dr.Heimo Jilek, Rechtsanwälte in Leoben, wegen S 164.904,-- s.A., infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes vom 15.April 1993, GZ 3 R 184/92-28, womit infolge Berufung sämtlicher Parteien das Urteil des Kreisgerichtes Leoben vom 29. Juli 1992, GZ 8 Cg 238/91-21, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, daß den Berufungen aller Parteien keine Folge gegeben und das Urteil des Erstgerichtes wiederhergestellt wird.

Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, dem Kläger an Kosten des Rechtsmittelverfahrens den Betrag von S 10.100,-14 binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 18.3.1990 ereignete sich gegen 14,30 Uhr im Ortsgebiet von E***** auf der Gemeindestraße im Einmündungsbereich des nach G***** führenden Astes dieser Gemeindestraße ein Verkehrsunfall, an dem der Kläger als Lenker eines Motorrades sowie der Erstbeklagte als Lenker und Halter des bei der zweitbeklagten Partei haftpflichtversicherten PKWs beteiligt waren.

Mit der Behauptung des Alleinverschuldens des Erstbeklagten am Zustandekommen dieses Unfalls begehrt der Kläger den Ersatz seines unfallskausalen Schadens in der Höhe von S 164.904,--. Der Kläger brachte dazu vor, der Erstbeklagte habe seinen Vorrang mißachtet und ein Linksabbiegemanöver, ohne den linken Blinker zu setzen, durchführen wollen.

Die Beklagten wendeten ein, dem Erstbeklagten sei kein Verschulden anzulasten. Er sei zu einem Zeitpunkt, zu dem der Kläger weit genug entfernt gewesen sei, von einem Tankstellengelände nach rechts in die Gemeindestraße eingebogen. Sodann habe er sich zur Fahrbahnmitte hin eingeordnet und frühzeitig links geblinkt, um etwa 21 bis 22 m danach nach links in die Gemeindestraße nach G***** abzubiegen. Das Alleinverschulden treffe vielmehr den Kläger selbst, weil er eine offenbar überhöhte Geschwindigkeit und auch eine unrichtige Fahrlinie eingehalten habe; darüber hinaus sei er unaufmerksam gewesen.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren hinsichtlich eines Betrages von S 74.952,-- statt; das Mehrbegehren auf Zahlung von S 89.952,-- wurde abgewiesen.

Über den eingangs wiedergegebenen Sachverhalt hinausgehend wurden folgende Feststellungen getroffen:

Die Gemeindestraße im Ortsgebiet von E***** ist in einer Breite von 6,05 bis 6,10 m asphaltiert und verläuft verhältnismäßig gerade und übersichtlich von Südwesten Richtung Nordosten. In der Straßenmitte befindet sich eine Leitlinie. Von Westen kommend mündet ein 24 m breiter Einmündungstrichter verhältnismäßig unauffällig in die gegenständliche Gemeindestraße. Die hier einmündende Gemeindestraße führt nach G*****. Ein Wegweiser oder andere Hinweise auf diese Einmündung und auf die Fahrt nach G***** sind nicht vorhanden. 15,6 m südlich der Bezugslinie (welche eine Normale auf die Fahrbahn der Gemeindestraße auf Höhe der Südkante der Hauseinfahrt zum Anwesen E***** Nr.61 bildet) befindet sich am südwestlichen Straßenrand das Gelände einer Tankstelle und eines Parkplatzes. 107 m südlich der Bezugslinie befindet sich der Einmündungstrichter der Gemeindestraße in die Bundesstraße *****. Von diesem Einmündungstrichter, also von der B *****, ist der spätere Unfallsbereich einsehbar. Der Erstbeklagte befand sich zunächst mit seinem Fahrzeug auf dem Parkplatz der Tankstelle. Er fuhr sodann Richtung Gemeindestraße und beabsichtigte, nach rechts in diese einzubiegen und dann nach etwa 20 m nach links neuerlich abzubiegen. Zuerst hielt der Erstbeklagte sein Fahrzeug an, um den Verkehr auf der Gemeindestraße zu beobachten. Den Kläger bemerkte der Erstbeklagte, als sich dieser noch auf der Umfahrungsstraße befand. Der Erstbeklagte schaltete den rechten Blinker ein und fuhr mit seinem Fahrzeug in die Gemeindestraße nach rechts ein. Unmittelbar nach dem Einbiegen nach rechts schaltete er den Blinker nach links um, und zwar etwa im Bereich von 16 m südlich der Bezugslinie. Zu diesem Zeitpunkt war die linke Flanke des Fahrzeuges des Erstbeklagten von der Leitlinie etwa 20 cm entfernt, die Geschwindigkeit betrug rund 20 km/h. Den Kläger bemerkte der Erstbeklagte erst wieder, als es zur Kollision kam. Im Zuge des Linksabbiegens beobachtete der Erstbeklagte den Rückspiegel nicht. Beim Linksabbiegen überfuhr der Erstbeklagte die Leitlinie mit dem linken Vorderrad seines Fahrzeuges. Die Unfallsstelle befindet sich rund 5 m südlich der Bezugslinie. Im Zeitpunkt der Kollision war die Schräglage des PKW etwa 30 bis 40 Grad.

Der Kläger fuhr mit seinem Motorrad von der Umfahrungsstraße kommend auf die Gemeindestraße. Bei der dortigen Stoptafel hielt er an und fuhr sodann in die Gemeindestraße ein. Er fuhr etwa im Bereich der Leitlinie. Das Fahrzeug des Erstbeklagten hat der Kläger erstmals wahrgenommen, als dieses vom Parkplatz der Tankstelle kommend in die Gemeindestraße einfuhr. Der Kläger nahm nicht an, daß der Erstbeklagte nach links abbiegen werde, da zunächst am PKW der rechte Blinker eingeschaltet war. Als der Kläger im Einmündungsbereich etwa auf gleicher Höhe mit dem Erstbeklagten war, kam es zum Zusammenstoß der Fahrzeuge. Die Geschwindigkeit des Klägers zum Unfallszeitpunkt betrug 60 km/h. Unter der Annahme des Unfallspunktes 5 m südlich der Bezugslinie und der vom Erstbeklagten behaupteten Blinkerbetätigung von 16 m südlich der Bezugslinie wurde diese Strecke von 11 m in einer Fahrzeit von knapp 2 Sekunden zurückgelegt. Im Zeitpunkte des Abbiegens des Erstbeklagten befand sich der Kläger bereits auf der Überholspur. Für den Erstbeklagten ergibt sich eine harmonische Abbiegelinie bis zum Unfallspunkt in einer Länge von rund 5 m in einer Fahrzeit von knapp einer Sekunde. In dieser Sekunde konnte der gestaffelt folgende Kläger keine Abwehrmaßnahmen mehr ergreifen. Der Kläger beabsichtigte, den PKW des Erstbeklagten links zu überholen, im Zuge des Abbiegens des Erstbeklagten nach links kam es zur Kollision.

Das Motorrad des Klägers, welches einen Neupreis von rund 90.000,-- S hatte, wurde durch den Unfall schwer beschädigt, der Wrackwert beträgt rund 15.000,-- S.

Der Kläger erlitt durch den Unfall eine Gehirnerschütterung leichten Grades, eine Prellung der Lendenwirbelsäule, eine Nierenprellung rechts, eine Prellung des linken Sprunggelenkes sowie eine Prellung des rechten Kniegelenkes mit Blutgußbildung. Die Unfallsverletzungen verursachten keine Dauerfolgen, der Kläger hatte starke Schmerzen im Ausmaß von 3 Tagen, mittelstarke Schmerzen im Ausmaß von 5 Tagen und leichte Schmerzen im Ausmaß von 35 Tagen zu ertragen.

In rechtlicher Hinsicht vertrat das Erstgericht die Ansicht, dem Kläger sei vorzuwerfen, daß er mit äußerst geringem Seitenabstand am Fahrzeug des Erstbeklagten vorbeifahren wollte, die im Ortsgebiet zulässige Höchstgeschwindigkeit um 10 km/h überschritten habe und auf das Setzen des linken Blinkers am Fahrzeug des Erstbeklagten, das verspätet erfolgt sei, nicht reagiert habe. Dem Erstbeklagten sei zwar keine Vorrangverletzung anzulasten, wohl aber, daß er den linken Blinker nur 2 Sekunden lang betätigte und insbesondere eine Rückspiegelbeobachtung unmittelbar vor dem Linksabbiegen unterließ.

Es sei daher eine Verschuldensteilung im Verhältnis von 1 : 1 gerechtfertigt. Das Erstgericht erachtete ein Schmerzengeld von 60.000,-- S angemessen, die geltend gemachten Sachschäden bewertete es mit S 89.904,--, sodaß es dem Kläger unter Zugrundelegung der Verschuldensteilung von 1 : 1 einen Betrag von S 74.952,-- zusprach und das Mehrbegehren von S 89.952,-- abwies.

Gegen dieses Urteil - unbekämpft blieb lediglich die Abweisung des Begehrens auf Zahlung von S 5.000,-- - erhoben alle Parteien Berufung. Während der Berufung des Klägers nicht Folge gegeben wurde, wurde aufgrund des Rechtsmittels der Beklagten das Klagebegehren abgewiesen.

Das Berufungsgericht vertrat die Ansicht, es könne dem Erstbeklagten die Unterlassung der Rückspiegelbeobachtung und die Betätigung des linken Blinkers nur für die Dauer von etwa 2 Sekunden nicht vorgeworfen werden, weil im Verfahren erster Instanz vom Kläger lediglich geltend gemacht worden sei, der Erstbeklagte sei unter Mißachtung des Vorranges von der Tankstelle in die Gemeindestraße eingebogen und habe dieses Einbiegemanöver ohne Betätigung des linken Fahrtrichtungsanzeigers in ein Linksabbiegemanöver fortgesetzt. Ein derartige Verschuldensvorwürfe begründender Sachverhalt sei aber nicht erwiesen, weil weder die behauptete Vorrangverletzung vorliege noch der Vorwurf der Einleitung des Linksabbiegemanövers ohne Betätigung des linken Fahrtrichtungsanzeigers zutreffe. Der Vorwurf der gänzlichen Unterlassung des Blinkzeichens umfasse nicht auch jenen eines allfällig bloß verspäteten oder zu kurz gesetzten Blinkzeichens.

Somit sei das vom Kläger dem Erstbeklagten als Verschulden angelastete Verhalten nicht erweislich gewesen, während aus dem erweislichen Verhalten des Erstbeklagten ein Verschuldensvorwurf nicht abgeleitet worden sei.

Gegen dieses Urteil richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, daß das Urteil des Erstgerichtes wiederhergestellt werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagten haben in der ihnen freigestellten Revisionsbeantwortung beantragt, das Rechtsmittel des Klägers zurückzuweisen, in eventu ihm keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil das Berufungsgericht - wie im folgenden noch darzulegen sein wird - so erheblich gegen die Einzelfallgerechtigkeit verstoßen hat, daß den in der Revision aufgeworfenen Fragen eine erhebliche Bedeutung im Sinne des § 502 Abs.1 ZPO zukommt. Die Revision ist auch berechtigt.

Der Kläger vertritt in seinem Rechtsmittel die Ansicht, es sei vollkommen ausreichend, in einer Klage das Verschulden des Unfallsgegners zu behaupten. Aufgabe des Gerichtes sei es dann, den Sachverhalt in rechtlicher Hinsicht nach allen Aspekten zu überprüfen und eine Entscheidung zu treffen. Keinesfalls sei erforderlich, daß ein Kläger einen Verschuldenstatbestand exakt definiere. Unrichtig sei auch die Meinung, der Vorwurf der gänzlichen Unterlassung des Blinkzeichens umfasse nicht auch den Vorwurf eines allfällig bloß verspätet oder zu kurz gesetzten Blinkzeichens. Dazu komme, daß sich aus den Feststellungen gar nicht ergebe, daß der Kläger den Blinker am Fahrzeug des Erstbeklagten überhaupt erkennen konnte. Vielmehr habe der Kläger davon ausgehen können, daß am Fahrzeug des Erstbeklagten der Fahrtrichtungsanzeiger überhaupt nicht eingeschaltet war.

Diese Ausführungen sind zutreffend. Gemäß § 226 ZPO hat der Kläger die rechtserzeugenden Tatsachen, auf welche er seinen Anspruch gründet, vollständig anzugeben. Er bestimmt damit, worüber der Rechtsstreit geführt wird und welchen Rechtsschutzanspruch er geltend macht. Das Vorbringen des Klägers ist das Substrat, aus dem die Berechtigung des Begehrens abzuleiten ist; andere Tatsachen dürfen vom Gericht nicht unterstellt werden (SZ 60/288 mwN). Im vorliegenden Fall hat nun der Kläger zur Begründung seines Schadenersatzanspruches vorgebracht, der Erstbeklagte sei unter Mißachtung des Vorranges in die Gemeindestraße eingebogen und habe dieses Einbiegemanöver ohne Betätigung des linken Fahrtrichtungsanzeigers in ein Linksabbiegemanöver fortgesetzt. Daß dem Erstbeklagten eine Mißachtung des Vorranges nicht vorzuwerfen ist, ist im Revisionsverfahren nicht mehr strittig. Entgegen der vom Berufungsgericht vertretenen Ansicht ist dem Vorbringen des Klägers aber sowohl die Tatsachenbehauptung zu entnehmen, der Erstbeklagte habe die Fahrtrichtung geändert, ohne sich davon zu überzeugen, daß dies ohne Gefährdung oder Behinderung anderer Straßenbenützer möglich ist (§ 11 Abs.1 StVO), als auch jene, es sei verspätet geblinkt worden. Es trifft zwar zu, daß der Kläger nicht geltend machte, der Erstbeklagte habe den Rückspiegel vor dem Linksabbiegemanöver bzw. im Zuge desselben nicht beachtet, doch hat er insgesamt doch einen Verstoß gegen § 11 Abs.1 StVO geltend gemacht. Weiters schließt die Behauptung, es sei gar nicht geblinkt worden, jene, es sei verspätet oder zu kurz geblinkt worden, als minus in sich. Es steckt in dieser Behauptung jedenfalls der Vorwurf, den bevorstehenden Wechsel des Fahrstreifens nicht rechtzeitig angezeigt zu haben (vgl. E. 27 zu § 11 StVO in MGA8).

Gemäß § 11 Abs.1 StVO darf der Lenker eines Fahrzeuges die Fahrtrichtung nur ändern, nachdem er sich davon überzeugt hat, daß dies ohne Gefährdung oder Behinderung anderer Straßenbenützer möglich ist, gemäß § 11 Abs.2 StVO war der Erstbeklagte verpflichtet, die bevorstehende Änderung der Fahrtrichtung so rechtzeitig anzuzeigen, daß sich andere Straßenbenützer (somit auch der Kläger) auf den angezeigten Vorgang einstellen können. Diese Verpflichtungen hat der Ersbeklagte verletzt, weil er sich nicht davon überzeugte, ob die Änderung der Fahrtrichtung ohne Gefährdung oder Behinderung anderer Straßenbenützer möglich ist und weil er den Blinker lediglich über einen Zeitraum von knapp 2 Sekunden betätigte (vgl. ZVR 1978/141). Das Argument der Revisionsbeantwortung, der Erstbeklagte hätte ja gar keine Möglichkeit gehabt, länger den Blinker zu betätigen, ist nicht zielführend, weil eben der Erstbeklagte im Sinne des § 11 Abs.1 StVO bei der vorliegenden Verkehrsituation darauf achten hätte müssen, daß er den Kläger weder behindert noch gefährdet.

Stellt man nun das von den Vorinstanzen festgestellte Fehlverhalten des Klägers jenem des Erstbeklagten gegenüber, so ist die vom Erstgericht vorgenommene Verschuldensteilung von 1 : 1 angemessen, sodaß die Entscheidung des Erstgerichtes wiederherzustellen war.

Die Entscheidung über die Kosten gründet sich auf die §§ 41, 43 ZPO.

Im Berufungsverfahren sind sämtliche Parteien unterlegen, sodaß sie sich wechselseitig die Kosten der Berufungsbeantwortung zu ersetzen haben. Die Kosten der Berufungsbeantwortung des Klägers betragen S 3.985,30 (darin enthalten S 664,20 an Umsatzsteuer, keine Barauslgen), jene der beklagten Parteien S 4.668,84 (darin enthalten S 778,14 an Umsatzsteuer, keine Barauslagen). Daraus folgt eine Kostenersatzpflicht des Klägers in der Höhe von S 683,54. Im Revisionsverfahren ist der Kläger jedoch durchgedrungen, die Beklagten haben ihm die dafür angemessenen Kosten von S 10.783,68 (darin enthalten S 797,28 an Umsatzsteuer, S 6.000,-- Barauslagen) zu ersetzen. Insgesamt ergibt sich daraus eine Kostenersatzpflicht der beklagten Parteien in der Höhe von S 10.100,14.

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