Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten der Berufung und der Revision sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung
Mit Bescheid vom 20.11.1991 entzog die Beklagte der Klägerin die mit Bescheid vom 7.2.1989 (ab 1.10.1988) zuerkannte Invaliditätspension mit Ablauf des Monates Dezember 1991 wegen Besserung ihres Gesundheitszustandes.
Das Erstgericht wies das auf Weitergewährung der entzogenen Leistung gerichtete Klagebegehren ab.
Es stellte fest, daß die am 20.8.1948 geborene Klägerin in den letzten 15 Jahren "vor dem Stichtag" als Hilfsarbeiterin und Reinigungskraft beschäftigt war. Dann traf es Feststellungen über den seit mindestens April 1991 bestehenden orthopädischen und neurologischen Zustand der Klägerin und ihren bereits seit der Einwanderung (nach Österreich) gegebenen geistigen Zustand "aus orthopädischer, interner und neurologisch-psychiatrischer Sicht". Mit diesem Zustand kann die Klägerin körperlich leichte, geistig einfache Arbeiten unter mehreren Einschränkungen leisten. Der (zur Gewährung der Invaliditätspension führende) Befund vom (21.) Oktober 1988 war im wesentlichen ein neurologischer. Der Klägerin wurde die Pension wegen des Zustandes nach der Operation eines Bandscheibenvorfalles gewährt. Damals wurden eine schmerzhafte Lendensteife, eine massive Klopfdolenz der Lendenwirbelsäule, ein Vorneigen bis zu einem Fingerspitzenbodenabstand von 40 cm und neurologische Zeichen mit einem positiven Lasegue und abgeschwächten Reflexen im Bereich der unteren Extremitäten beschrieben. Gegenüber diesem Befund ist aus neurologischer Sicht eine wesentliche Besserung eingetreten, weil die zur Zeit der Gewährung vorhandene schwere Gangstörung nicht mehr vorliegt. "Das interne Leistungskalkül, das weitreichender als das Gesamtleistungskalkül ist, hängt mit dem Gewährungsbefund nicht zusammen."
Da die Invaliditätspension auf Grund eines rein neurologischen Befundes gewährt worden sei, der sich nunmehr wesentlich gebessert habe, weil die schwere Gangstörung nicht mehr vorliege, sei die Entziehung nach § 99 ASVG gerechtfertigt. Daß sich der interne Zustand der Klägerin nach der Gewährung verschlechtert habe, könne nicht bei der Beurteilung der Entziehung, sondern nur bei der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit berücksichtigt werden. Allerdings sei das interne Leistungskalkül weitreichender als das Gesamtleistungskalkül. Da das psychiatrische Leistungskalkül schon bei Aufnahme der Tätigkeit der Klägerin in Österreich bestanden habe, müsse die Grenzdebilität bei der Verweisung unberücksichtigt bleiben. Die Klägerin könne noch auf die ihrer Leistungsfähigkeit entsprechenden Tätigkeiten einer Verpackungsarbeiterin, Adjustiererin oder Entgraterin verwiesen werden. Deshalb sei sie nicht mehr invalid iS des § 255 Abs 3 ASVG.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge.
Es verneinte die behaupteten Verfahrensmängel und teilte die Rechtsansicht des Erstgerichtes. Bei der Beurteilung der wesentlichen Besserung sei nur auf den rein neurologischen Gewährungsbefund abzustellen, in den keine internen Befunde eingegangen wären. Die wesentliche Besserung des neurologischen Gesundheitszustandes werde durch die Verschlechterung des internen Zustandes für die Beurteilung nach § 99 Abs 1 ASVG nicht ausgeglichen. Der verschlechterte interne Befund sei lediglich dafür entscheidend, ob zumutbare Verweisungstätigkeiten ausgeübt werden können. Das treffe hinsichtlich der vom Erstgericht genannten Tätigkeiten zu.
In der nicht beantworteten Revision macht die Klägerin Mangelhaftigkeit und unrichtige rechtliche Beurteilung geltend und beantragt, das angefochtene Urteil im klagestattgebenden Sinn abzuändern oder es, allenfalls auch das Ersturteil, aufzuheben.
Rechtliche Beurteilung
Die nach § 46 Abs 3 ASGG auch bei Fehlen der Voraussetzungen des Abs 1 leg cit zulässige Revision ist berechtigt.
Die geltend gemachte Mangelhaftigkeit (§ 503 Z 2 ZPO) liegt allerdings nicht vor (§ 510 Abs 3 leg cit). Ein in der Berufung nicht behaupteter allfälliger Mangel des erstgerichtlichen Verfahrens, hier die unterbliebene Beiziehung eines Sachverständigen für Berufskunde, kann in der Revision nicht mehr gerügt werden (stRsp des erkennenden Senates: zB SSV-NF 5/120 mwN).
Die Rechtsrüge ist hingegen berechtigt.
Nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senates (zB SSV-NF 6/17 mwN) müssen im Falle der Entziehung einer Leistung für die Zeit der Zuerkennung alle Umstände festgestellt werden, die zur Beurteilung der Frage notwendig sind, ob die Zuerkennung dem Gesetz entsprach. Es kommt also nicht darauf an, welche Tatsachen der Zuerkennung zugrunde gelegt wurden, sondern es sind im Verfahren über die Entziehung unabhängig von den im Zuerkennungsverfahren allenfalls getroffenen Feststellungen neuerlich Feststellungen über die für die Zuerkennung wesentlichen Tatsachen zu treffen. Geht es - wie im vorliegenden Fall - um die Entziehung einer Leistung aus einem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit, so sind zunächst der körperliche und geistige Zustand des (der) Versicherten und sein (ihr) Leistungskalkül für die Zeit der Zuerkennung der Leistung festzustellen.
Diese nach der Rechtsprechung des Revisionsgerichtes erheblichen Tatsachen wurden schon in erster Instanz weder ausreichend erörtert noch festgestellt, insbesondere fehlt für die Zeit der Zuerkennung der Invaliditätspension ein Leistungskalkül.
Vorher können der körperliche und geistige Zustand und das Leistungskalkül zur Zeit der Zuerkennung und zur Zeit der Entziehung der Pension nicht miteinander verglichen werden. Deshalb kann noch nicht verläßlich beurteilt werden, ob es gerechtfertigt ist, der Klägerin die Pension zu entziehen, weil zur Zeit der Zuerkennung die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt waren, ihr Gesundheitszustand und ihr Leistungskalkül sich aber so weit gebessert haben, daß sie nicht mehr invalid iS des § 255 Abs 3 ASVG ist.
Wegen der festgestellten vielfältigen, behandlungsbedürftigen und mit Schmerzen verbundenen Leiden der Klägerin dürfte mit leidensbedingten Krankenständen zu rechnen sein. Im fortgesetzten Verfahren wird daher auch zu erörtern und festzustellen sein, ob nicht bei der Klägerin bei Ausübung von Verweisungstätigkeiten mit der nötigen hohen Wahrscheinlichkeit leidensbedingte Krankenstände in einem Ausmaß auftreten werden, die nach der Rechtsprechung des erkennenden Seantes einen Ausschluß vom Arbeitsmarkt bedeuten (SSV-NF 6/70 und 82).
Wegen der dargelegten Feststellungsmängel sind die Urteile beider Vorinstanzen aufzuheben; die Rechtssache ist zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverwiesen (§§ 496, 499, 503 Z 4, 510, 511 und 513 ZPO).
Der Vorbehalt der Entscheidung über den Ersatz der Kosten der Berufung und der Revision beruht auf dem nach § 2 Abs 1 ASGG auch in Sozialrechtssachen anzuwendenden § 52 Abs 1 ZPO.
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