OGH 10ObS203/93

OGH10ObS203/9314.10.1993

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Fritz Stejskal (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr.Peter Fischer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Hranislav M*****, ohne Beschäftigung, *****, ehemals Jugoslawien, vertreten durch Dr.Oswald Karminski-Pielsticker, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 25.Juni 1993, GZ 33 Rs 64/93-47, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 21.Dezember 1992, GZ 3 Cgs 11/92-44, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Der Kläger hat die Kosten seines Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der am 7.8.1937 geborene Kläger hat in Österreich in der Zeit vom Juli 1970 (im erstgerichtlichen Urteil unrichtig 1960) bis Juli 1984 148 Versicherungsmonate, davon 134 Beitragsmonate und 14 Ersatzmonate erworben. In Jugoslawien erwarb er in der Zeit von Juli 1960 bis Dezember 1961 10 Versicherungsmonate. In den Zeitraum vom 1.6.1979 bis zum 31.5.1989 fallen 49 Versicherungsmonate.

Am 29.4.1982 erlitt der Kläger bei einem Arbeitsunfall eine Augenverletzung rechts mit Glaskörperblutung und Verletzung des Sehnervs. Dieser Unfall hatte wegen praktischer Erblindung des Auges eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 30 v.H. zur Folge. Wegen dieses Unfalls bezieht der Kläger von der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt eine Versehrtenrente von 30 v.H. der Vollrente. Derzeit besteht beim Kläger eine funktionelle Einäugigkeit, an die im Laufe der Jahre Gewöhnung eingetreten ist. Mit Rücksicht auf diese funktionelle Einäugigkeit scheiden für den Kläger alle Tätigkeiten aus, für die ein beidäugiges Sehen erforderlich ist. Neben einer einfachen Persönlichkeitsstruktur findet sich beim Kläger ein organisches Psychosyndrom, welches mit Sicherheit nicht auf die Folgen der Augenverletzung bei dem Arbeitsunfall zurückzuführen ist. Danach ist der Kläger nur mehr in der Lage, einfache geistige Arbeiten bei einer Stunde durchschnittlichem, dann zwei Stunden einfachem Zeitdruck zur Erholung abwechselnd bei achtstündiger Arbeitszeit täglich durchzuführen. Feinmotorische Arbeiten sind ausgeschlossen, ebenso Arbeiten an gefährdenden Maschinen und sturzgefährdenden Plattformen. Körperliche Arbeiten unter städtischen und ländlichen Bedingungen sind dem Kläger ohne Einschränkung zumutbar.

Mit Bescheid vom 9.8.1990 wies die beklagte Partei den Antrag des Klägers vom 5.5.1989 auf Zuerkennung einer Invaliditätspension mit der Begründung ab, daß die Wartezeit nicht erfüllt sei. Stichtag sei der 1.6.1989. Die Wartezeit wäre erfüllt, wenn der Kläger im Zeitraum vom 1.6.1979 bis 31.5.1989, also im Zeitraum der letzten 120 Kalendermonate vor dem Stichtag mindestens 60 Versicherungsmonate oder bis zum Stichtag insgesamt 192 Versicherungsmonate, davon mindestens 180 Beitragsmonate erworben hätte. Er habe ab 29.7.1960 144 Beitragsmonate und 14 Ersatzmonate, somit insgesamt 158 Versicherungsmonate erworben. Mit diesen Versicherungszeiten habe er die erforderlichen Voraussetzungen nicht erfüllt, weil er zum Stichtag im erstgenannten Zeitraum nur 49 Versicherungsmonate und im letztgenannten nur 158 Versicherungsmonate, davon nur 144 Beitragsmonate erworben habe.

Das Erstgericht wies das dagegen erhobene auf Gewährung der Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab dem 1.6.1989 gerichtete Klagebegehren ab. Es trat der Auffassung der Beklagten bei, daß der Kläger die allgemeine Anspruchsvoraussetzung der Wartezeiten nicht erfülle. Gemäß Art IV Abs 4 der 40.ASVG-Novelle wäre die allgemeine Voraussetzung der Wartezeit bei einem Stichtag im Jahr 1989 auch erfüllt, wenn der Kläger insgesamt 192 Versicherungsmonate, davon mindestens 180 Beitragsmonate erworben hätte. Auch diese Voraussetzung erfülle der Kläger nicht. Gemäß § 235 Abs 3 lit a ASVG entfalle das Erfordernis der Wartezeit für einen Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit, wenn der Versicherungsfall die Folge eines Arbeitsunfalles oder einer Berufskrankheit sei. Dies sei hier nicht der Fall. Schon aus dem Ausmaß der nach dem Arbeitsunfall festgestellten Minderung der Erwerbsfähigkeit ergebe sich eine Restarbeitsfähigkeit des Klägers von 70 v.H. und damit das Nichtvorliegen einer Invalidität nach § 255 Abs 3 ASVG.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Es übernahm die erstgerichtlichen Feststellungen als Ergebnis eines mängelfreien Verfahrens, einer einwandfreien Beweiswürdigung und einer zutreffenden Sachverhaltsdarstellung. Der Tatbestand nach § 235 Abs 3 lit a ASVG sei nicht gegeben. Es sei nicht erwiesen, daß Unfallsfolgen neben anderen Leiden eine wesentliche Ursache für den Eintritt einer Invalidität des Klägers wären. Da die Wartezeit für die Gewährung einer Invaliditätspension beim Kläger in keiner Weise erfüllt sei, könne dahingestellt bleiben, ob diese Invalidität nach § 255 Abs 1 bzw 2 ASVG oder nach dessen Abs 3 zu beurteilen wäre.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision des Klägers ist nicht berechtigt.

Der Revisionsgrund der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens nach § 503 Z 2 ZPO liegt nicht vor. Auch in Sozialrechtssachen können Mängel des Verfahrens erster Instanz, die das Berufungsgericht als nicht gegeben erachtete, nicht mehr mit Revision geltend gemacht werden (SSV-NF 5/116 mwN ua). Dies gilt auch für die vom Revisionswerber im Zusammenhang mit der Erstattung der ärztlichen Gutachten behaupteten Mängel des Verfahrens erster Instanz. Das Berufungsgericht setzte sich mit der Mängelrüge ausreichend und keineswegs aktenwidrig auseinander.

Ausgehend vom festgestellten Sachverhalt muß auch die Rechtsrüge versagen.

Zu der vom Erstgericht verneinten Erfüllung der Wartezeit nach § 236 ASVG finden sich in der Revision - wie schon in der Berufung - keine Ausführungen, so daß auch das Revisionsgericht hiezu nicht Stellung nehmen muß. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist daher nur noch die Frage, ob die Wartezeit nach § 235 Abs 3 lit a ASVG entfällt.

Nach dieser Bestimmung entfällt die Wartezeit für eine Leistung aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit, wenn der Versicherungsfall die Folge eines Arbeitsunfalles oder einer Berufskrankheit ist, der (die) bei einem in der Pensionsversicherung nach diesem oder einem anderen Bundesgesetz Pflichtversicherten oder bei einem nach § 19a ASVG Selbstversicherten eingetreten ist. Auch ohne Vorliegen der allgemeinen Anspruchsvoraussetzung der Erfüllung der Wartezeit besteht daher dann ein Anspruch auf Invaliditätspension, wenn die Folgen eines Arbeitsunfalles die vor dem Unfall vorhandene, wenn auch geminderte, aber noch bestehende Arbeitsfähigkeit des Versicherten so vermindern, daß durch deren Zusammenwirken Invalidität gemäß § 255 ASVG anzunehmen ist. Die Folgen oder Spätfolgen des Arbeitsunfalles müssen also die vor dem Unfall vorhanden gewesene Arbeitsfähigkeit des Versicherten, die zwar schon herabgesetzt gewesen sein kann, aber noch bestanden haben muß, so vermindern, daß Invalidität anzunehmen ist (Überschreiten der kritischen Schwelle). Die Invalidität muß daher, wenn schon nicht die ausschließliche, so doch eine wesentliche Folge des Arbeitsunfalles sein. Eine zur Invalidität führende Minderung der Arbeitsfähigkeit durch Leiden, die erst nach dem Unfall entstehen, kann den Tatbestand des § 235 Abs 3 ASVG nicht herstellen (SSV-NF 3/160 unter Hinweis auf OLG Wien SSV 21/25).

Um beurteilen zu können, ob der Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit die Folge eines Arbeitsunfalles ist, ist in den Fällen, in denen ein Arbeitsunfall mit einer feststehenden Minderung der Erwerbsfähigkeit vorliegt, zunächst zu klären, ob der Versicherungsfall überhaupt eingetreten ist, ob also Invalidität im Sinne des § 255 ASVG vorliegt. Im Fall des Klägers ist von § 255 Abs 3 ASVG auszugehen und zu prüfen, ob er infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes nicht mehr imstande ist, durch eine Tätigkeit, die auf dem gesamtösterreichischen Arbeitsmarkt (vgl SSV-NF 6/28) noch bewertet wird und die ihm unter billiger Berücksichtigung der von ihm ausgeübten Tätigkeiten zugemutet werden kann, wenigstens die Hälfte des Entgeltes zu erwerben, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt. Wenn der Revisionswerber darauf verweist, daß ihm Berufsschutz zukomme, weil er "zumindest über einen geraumen Zeitraum im Konsulat in Frankfurt beschäftigt" gewesen sei, übersieht er, daß als überwiegend im Sinne des § 255 Abs 1 ASVG nach dessen Abs 2 Satz 2 solche erlernte (angelernte) Berufstätigkeiten gelten, wenn sie in mehr als der Hälfte der Beitragsmonate nach dem ASVG während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag ausgeübt wurden. Für eine überwiegende Tätigkeit des Klägers in erlernten oder angelernten Berufen fehlen aber alle Anhaltspunkte; Tätigkeiten in der Bundesrepublik Deutschland können hier nicht herangezogen werden (SSV-NF 6/16).

Nach dem festgestellten medizinischen Leistungskalkül liegt aber Invalidität des Klägers im Sinne des § 255 Abs 3 ASVG nicht vor. Körperlich ist der Kläger in der Lage, Arbeiten jeden Schweregrades zuu verrichten; im übrigen findet sich nur die Einschränkung auf einfache geistige Arbeiten bei einer Stunde durchschnittlichem, dann zwei Stunden einfachem Zeitdruck abwechselnd bei achtstündiger Arbeitszeit täglich und ein Ausschluß von feinmotorischen Arbeiten sowie Arbeiten an gefährdenden Maschinen und sturzgefährdenden Plattformen. Das Verweisungsfeld eines Arbeiters im Sinne des § 255 Abs 3 ASVG ist mit dem gesamten Arbeitsmarkt identisch. Angesichts des geschilderten Leistungskalküls ist aber offenkundig, daß der Kläger noch eine Reihe von geistig einfachen Tätigkeiten mit den nötigen Einschränkungen verrichten kann. Liegt demnach der Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit überhaupt nicht vor, erübrigt sich die Beantwortung der Frage, ob der Versicherungsfall die Folge des Arbeitsunfalles sei. In diesem Sinn sind auch die Ausführungen des Berufungsgerichtes zu verstehen, daß es dem Kläger nicht gelungen sei, eine Verschlechterung seines Gesundheitszustandes als wesentliche, wenn schon nicht ausschließliche Folge des Arbeitsunfalles zu erweisen, die seine Invalidität gemäß § 255 Abs 3 ASVG zur Folge haben könnte.

Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

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