OGH 2Ob565/93

OGH2Ob565/9316.9.1993

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Melber als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Zehetner, Dr.Graf, Dr.Schinko und Dr.Tittel als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj. Roman Karl K*****, geboren am 12.Juni 1981, und der mj. Judith K*****, geboren am 6.September 1982, infolge Revisionsrekurses des Vaters Reinhard Karl K*****, vertreten durch Dr.Richard Stengg, Rechtsanwalt in Oberwart, gegen den Beschluß des Landesgerichtes Eisenstadt als Rekursgericht vom 8.Juni 1993, GZ R 476/93-38, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Oberwart vom 5.Mai 1993, GZ P 229/89-35, bestätigt wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß der Antrag der Mutter, ihr die Obsorge für die Kinder zu übertragen, abgewiesen wird.

Text

Begründung

Die Ehe der Eltern wurde am 7.11.1989 gemäß § 55a EheG geschieden. Die eheliche Gemeinschaft war bereits im Juni 1987 aufgelöst worden. In der Zeit von Juni 1987 bis Feber 1988 befanden sich die Minderjährigen im Haushalt der Mutter, die in dieser Zeit als Operationsschwester im Krankenhaus O***** arbeitete. Infolge der Schwierigkeiten bei der Beaufsichtigung der damals kleinen Kinder kamen die Eltern überein, die Minderjährigen im Haushalt der väterlichen Großeltern in W***** unterzubringen. Der Vater war und ist ***** in Wien tätig.

Aus Anlaß der Ehescheidung einigten sich die Eltern, daß die Obsorge für die Kinder dem Vater zustehen solle; dieser Vergleich wurde pflegschaftsbehördlich genehmigt.

Obwohl die Mutter in der Folge in Wien beruflich tätig war, hielt sie ständig Kontakt zu den Kindern und holte diese mit Einverständnis des Vaters wöchentlich etwa zwei bis drei Tage zu sich. In dieser Zeit lernte sie mit den Kindern, machte die Hausaufgaben mit ihnen, brachte sie zur Schule und holte sie von dort wieder ab. Es kam auch vor, daß sie die Kinder bei den väterlichen Großeltern in W***** besuchte und mit ihnen dort die Hausaufgaben machte. Auch in den Sommerschulferien machte die Mutter mehrere Wochen gemeinsam Urlaub mit den Kindern. Eine strikte Festsetzung von Besuchszeiten wurde infolge des "Radldienstes" der Mutter unterlassen; die Mutter vereinbarte die jeweiligen Besuchszeiten vorher mit dem Vater.

Der Tagesablauf der Kinder gestaltet sich in der Regel wie folgt:

Nach der Schule - beide besuchen das Bundesgymnasium in O***** - fahren sie zu den väterlichen Großeltern nach W*****. Dort nehmen sie das Mittagessen ein und machen die Schulaufgaben. Manchmal übernachten sie bei den Großeltern, manchmal kommt am Abend - je nach Dienstende - der Vater aus W***** und bringt sie in sein Wohnhaus nach O*****. Wenn die Mutter frei hat, holt sie die Kinder nach Unterrichtsschluß aus O***** ab und bringt sie nach P*****, wo sie dann gemeinsam mit den Eltern der Mutter und deren Schwester nächtigen und wohnen.

Durch die ständigen guten Kontakte ist trotz der Übertragung der Obsorge an den Vater nach wie vor eine tiefe Bindung der Kinder zur Mutter aufrecht. Der Vater sieht im Rahmen seiner Erziehung besonders auf die schulischen Leistungen der Kinder; er versucht sie dazu, wenn nötig, mit strengen Strafen, anzuhalten. Fast täglich erkundigt er sich telefonisch bei den Kindern über die Fortschritte bei den Hausaufgaben und beim Lernen. Am Abend kontrolliert er die geleisteten Arbeiten wieder. Roman K***** besuchte die zweite Klasse des Gymnasiums, Judith die erste. Judith hat schulische Probleme und erbringt in Englisch nur unterdurchschnittliche Leistungen. Die väterlichen Großeltern bemühen sich um die Erziehung der Kinder, werden aber von den Kindern im wesentlichen nur als ausführende Organe des Vaters empfunden. Zu diesem haben sie ein eher angstbetontes Verhältnis. Diese Gefühlslage bestand zumindest bis in das Schuljahr 1992/93, sie hat sich allerdings in der Folge geändert.

Bereits während des Jahres 1992 versuchten die Kinder, die Mutter dazu zu bringen, das Sorgerecht für sie zu beantragen; sie wollten ständig bei ihr sein. Diese versprach ihnen schließlich eine entsprechende Antragstellung und erkundigte sich aus Anlaß eines Sommerurlaubes in Kärnten beim Bezirksgericht E***** über die Möglichkeiten einer Obsorgeübertragung. Bereits damals war eine Übersiedlung der Mutter von Wien nach E***** konkret geplant. Sie mietete gemeinsam mit ihrem damaligen Lebensgefährten, mit dem sie seit Oktober 1992 verheiratet ist, eine Wohnung in E*****. Dort verbrachten die Kinder in den Ferien 1992 mehrere Wochen bei der Mutter und ihrem damaligen Gefährten. Am 1.9.1992 beantragte die nunmehr in E***** wohnende Mutter beim dortigen Bezirksgericht die Übertragung der Obsorge an sie.

Da die Mutter die Kinder nicht wie vereinbart zurückbrachte, erstattete der Vater Strafanzeige gemäß § 195 StGB; dies führte dazu, daß die Mutter in der Zeit vom 11.9. bis 15.9.1992 in Untersuchungshaft genommen wurde. Bereits damals haben beide Kinder im Rahmen eines pädagogisch-psychologischen Berichtes übereinstimmend angegeben, bei der Mutter und ihrem damaligen Lebensgefährten bleiben zu wollen. In der Folge zog der Vater den Antrag auf Bestrafung zurück.

Seit Herbst 1992 arbeitet die Mutter als OP-Schwester im Landeskrankenhaus K*****. Sie arbeitet zwar nach wie vor im "Radldienst", macht dies aber deshalb, um mehrere dienstfreie Tage, die sie mit ihren Kindern im Burgenland verbringt oder in denen sie ihre Kinder zu sich holt, zur Verfügung zu haben. In einem Vergleich vom 23.12.1992 konnte eine Einigung über das Besuchsrecht der Mutter wiederhergestellt werden; die Besuche verlaufen so wie in den vergangenen Jahren, doch reist die Mutter aus E***** an. Sie könnte ihren Dienst dahin abändern lassen, daß sie wochentags von 7 Uhr bis 15 Uhr zu arbeiten hat. Der Ehegatte der Mutter ist als Einzelhandelskaufmann in K***** tätig, die Kinder könnten in E***** bei der Mutter wohnen, wo sie auch ein Kinderzimmer haben. In E***** befindet sich eine Hauptschule, das nächste Gymnasium ist in V*****. Bei dieser Schule ist eine Nachmittagsbetreuung eingerichtet, die Mutter könnte die Kinder bei der Heimfahrt von ihrem Dienst mitnehmen.

Die Kinder selbst haben mehrmals, unter anderem auch vor dem Erstgericht, klar zum Ausdruck gebracht, daß sie zur Mutter wollen. Die Probleme im Zuge der Übersiedlung werden von den Kindern nicht sehr hoch eingeschätzt, da sie auch in E***** bereits Freunde haben und ihnen dieser Ort im übrigen bekannt ist.

Das Erstgericht gab dem Antrag der Mutter auf Übertragung der Obsorge statt. Zwar hätten die Kinder auch zu ihrem Vater ein durchaus gutes Verhältnis, doch sei dieses im Gegensatz zu dem zur Mutter auf Disziplin und Unterordnung aufgebaut. Sowohl der Pädagogisch-Psychologische Dienst Kärntens als auch das Jugendamt O***** seien der Ansicht, den Kindern fehle die von der Mutter vermittelte emotionale Komponente in der Entwicklung. Vermittelnde Lösungen, wie etwa ein Besuchsrecht durch ein Jahr hindurch, schienen nicht zweckmäßig.

Das Gericht zweiter Instanz bestätigte diesen Beschluß und sprach aus, daß der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei. Das Rekursgericht führte aus, eine Entziehung der Obsorge komme gemäß § 176 Abs.1 ABGB nur in Betracht, wenn durch das Verhalten des die Obsorge ausübenden Elternteiles das Wohl des minderjährigen Kindes gefährdet sei. Für die Annahme einer Gefährdung des Kindeswohles sei ein Verschulden des obsorgeberechtigten Elternteiles nicht notwendig. Als nachteilig für das Kindeswohl sei von der Judikatur etwa eine vom Obsorgeberechtigten weitgehend unverschuldet hervorgerufene angstbesetzte Situation angesehen worden. Die Mutter der Kinder habe ihr Besuchsrecht in O***** klaglos ausgeübt, sie habe dabei durchaus auch schulische Belange wahrgenommen. Es gebe keine Hinweise darauf, daß sie diese wichtige Erziehungskomponente vernachlässigen würde. Das Schwergewicht der Erziehung der Mutter liege aber nicht wie beim Vater (fast) ausschließlich auf der schulischen Komponente, sondern vermöge sie den Kindern mehr emotionale Bindung vermitteln und ihnen das Gefühl der Geborgenheit zu geben. Der Wunsch der Kinder gehe ebenfalls dahin, zur Mutter zu kommen.

Eine wertende Gesamtabwägung ergäbe, daß die Kinder objektiv gesehen bei der Mutter besser untergebracht seien. Die bei der Mutter gegebene emotionale Entwicklungsmöglichkeit rechtfertige die Übertragung der Obsorge an diese, selbst wenn derzeit noch keine konkrete Schädigung der Kinder erkannt werden könne. Auch die gänzliche Vernachlässigung des starken Wunsches der Kinder, zur Mutter zu kommen, könne zu einer Gefährdung des Kindeswohles führen und dürfe deshalb nicht außer acht gelassen werden.

Dagegen richtet sich der Revisionsrekurs des Vaters mit dem Antrag, die angefochtenen Entscheidungen dahin abzuändern, daß der Antrag der Mutter auf Übertragung der Obsorge abgewiesen werde.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil das Rekursgericht von der Judikatur des Obersten Gerichtshofes abgegangen ist, er ist auch berechtigt.

Die Obsorge darf nach ständiger Rechtsprechung (EFSlg. 62.864; SZ 51/136; JBl. 1992, 639; 1 Ob 580/92; 7 Ob 523/93 uva; Pichler in Rummel2, Rz 2 zu § 177) nur dann auf den anderen Elternteil übertragen werden, wenn die Voraussetzungen des § 176 Abs.1 ABGB - also die Gefährdung des Kindeswohles - gegeben sind, der Obsorgeberechtigte demnach die elterlichen Pflichten subjektiv gröblich vernachlässigt oder wenigstens objektiv nicht erfüllt hat (SZ 53/142 uva; Pichler, aaO, § 176 Rz 1). Dabei ist ein strenger Maßstab anzulegen, sodaß die Änderung der Obsorgeverhältnisse nur als äußerste Notmaßnahme angeordnet werden darf (EFSlg. 62.865; 1 Ob 580/92 uva). Vor allem dürfen Vorkehrungen im Sinne des § 176 ABGB nicht schon dann getroffen werden, wenn die Verhältnisse beim anderen Elternteil zwar an sich besser wären, die Pflege und Erziehung durch den Obsorgeberechtigten aber keinen Anlaß zur Besorgnis bietet (EFSlg. 51.284; JBl. 1992, 639; 1 Ob 580/92 ua).

Die Mutter hat die Übertragung der Obsorge an sie bloß deshalb beantragt, weil sich die Kinder weigerten, zum Vater zurückzukehren. Gründe, die einen Obsorgewechsel nach den vorher dargestellten Kriterien rechtfertigten, hat sie nicht behauptet. Solche sind aber auch nicht gegeben. Die Meinung der Kinder, bei welchem Elternteil sie bleiben wollen, hat trotz der Bestimmung des § 178b ABGB keinen relevanten Einfluß auf die Entscheidung über die Obsorgeübertragung. Die Anhörung der Kinder dient vor allem dazu, daß der Richter die entscheidungswesentlichen Umstände auch aus deren Sicht und deren Empfindungen erkennen und ins klare setzen kann. So wichtig es auch für den Richter ist, sich von der Familie bzw. den Obsorgeverhältnissen ein Bild zu machen, so entspricht es doch gesicherter psychologischer Erkenntnis, daß die Befragung der Kinder nach ihrer Präferenz für den einen oder anderen Elternteil - abgesehen von der entscheidungspsychologisch erklärbaren Unverläßlichkeit und fehlenden Signifikanz solcher Präferenzäußerungen - die befragten Kinder in hohem Maße überlastet und mit großer Wahrscheinlichkeit in schwere Loyalitätskonflikte, Schuldgefühle oder gar Vergeltungsängste stürzt, was deren künftige Beziehung zu beiden Elternteilen schwer belastet und die seelische Entwicklung der Kinder gefährden kann (7 Ob 523/93 mwN).

Es mag - wie das Rekursgericht vermeint - durchaus zutreffen, daß die emotionale Entwicklungsmöglichkeit der Kinder bei der Mutter besser gewährleistet ist als beim Vater, doch stellt dies keinen so schwerwiegenden Umstand dar, daß die Änderung der Obsorgeverhältnisse als Notmaßnahme angeordnet werden müßte. Bloßen Beziehungsschwierigkeiten des Kindes zu einem Elternteil, von denen nicht feststeht, daß sie irreversiblen Charakter angenommen hätten, allein kommt kein solches Gewicht zu, daß im Rahmen eines Verfahrens nach § 176 ABGB eine vorläufige Anordnung erforderlich wäre (1 Ob 602/91).

Dazu kommt, daß ein Wechsel des Pflegeortes, der stets ein Herausreißen des Kindes aus der gewohnten Umgebung bedeutet und ihm erspart bleiben soll, nur ausnahmsweise angeordnet werden soll, wenn dies wegen einer Änderung der Verhältnisse im Interesse des Kindes notwendig ist (7 Ob 568/90).

Die vom Rekursgericht berücksichtigte Möglichkeit einer künftigen Schädigung der Kinder ist zwar ein Kriterium, das bei der Entscheidung heranzuziehen ist, doch ist dabei ein strenger Maßstab anzulegen, sodaß nur sichere Prognosen eine Änderung gestatten (7 Ob 523/93). Derartige sichere Prognosen können aber derzeit nicht angestellt werden.

Daß die Versuche des Vaters, die Kinder mit Strenge und Strafen zur Erbringung schulischer Leistungen diesen körperliches oder seelisches Leid zufügten (vgl. 7 Ob 523/93 mwN), wurde nicht festgestellt.

Da sohin zur Sicherung des Kindeswohles keine Notvorkehrungen erforderlich sind, ist der Antrag der Mutter in Abänderung der vorinstanzlichen Beschlüsse abzuweisen.

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