OGH 10ObS127/93

OGH10ObS127/9313.7.1993

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Bauer als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Dr.Helmut Szongott (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Franz Murmann (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Ahmet E*****, vertreten durch Dr.Christian Grave, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, wegen Alterspension infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen Wien vom 28. September 1992, GZ 34 Rs 112/92-20, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes vom 21. Februar 1991, GZ 24 Cgs 330/90-5, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben. Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens und der Revision sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Mit Bescheid vom 10.10.1990 lehnte die Beklagte den Antrag des im Jahre 1924 geborenen Klägers vom 2.4.1990 auf Gewährung der Alterspension mangels Erfüllung der Wartezeit ab. Der Kläger habe im Zeitraum vom 1.5.1960 bis 30.4.1990 nur 152 Versicherungsmonate und vom 16.4.1943 bis 30.4.1990 zwar 198 Versicherungs-, aber nur 152 Beitragsmonate erworben.

Die erkennbar auf die abgelehnte Leistung gerichtete Klage des in erster Instanz nicht vertretenen Klägers stützt sich darauf, daß er in Österreich 85 und in der Türkei 114, zusammen also 199 Versicherungsmonate erworben habe. Zum Beweis legte der Kläger eine Bescheinigung über türkische Versicherungszeiten in türkischer Sprache vom 9.4.1990 AS 3 vor.

Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Sie berief sich auf ihren den Kläger betreffenden Pensionsakt. Nach dessen Stücken 23 bis 25 habe der Versicherte vom 30.10.1972 bis 12.4.1981 85 österreichische Beitragsmonate der Pflichtversicherung, nach der Mitteilung des türkischen Versicherungsträgers Stück 8 in der Zeit vom 16.4.1943 bis 29.12.1989 in der Türkei 66 Monate und 34 Tage (= 67 Monate) der Pflichtversicherung und 3 Jahre, 10 Monate und 28 Tage (= 46 Monate) einer Ersatzzeit erworben. Damit sei die Wartezeit nicht erfüllt.

In der einzigen Tagsatzung zur mündlichen Streitverhandlung am 21.2.1991 gab der Kläger "befragt" an, von 1972 bis 1981 in Österreich gewesen zu sein und seit 15 Jahren in der Türkei eine Pension zu beziehen. Weiters legte er eine Bestätigung in türkischer Sprache vor, die (mit Ausnahme eines Stampiglienabdruckes) mit der schon der Klage angeschlossenen Bestätigung AS 3 übereinstimmt.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.

Es stellte folgenden Sachverhalt fest:

Der 1924 geborene Kläger erwarb in der Türkei vom 26.4.1943 bis 14.3.1947 3 Jahre, 10 Monate und 28 Tage Militärdienstzeit, vom 25.3.1984 bis 26.3.1989 5 Jahre und 1 Tag Pflichtversicherung sowie vom 26.3. bis 31.5.1989 2 Monate und 5 Tage und vom 1.8. bis 29.12.1989 4 Monate und 28 Tage freiwillige Versicherung. In Österreich erwarb er von Oktober 1972 bis April 1981 85 Monate der Pflichtversicherung.

Nach der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichtes sei mit den in den letzten 360 Monaten vor dem Stichtag (1.5.1960 bis 30.4.1990) gelegenen 85 österreichischen und 67 türkischen, zusammen 152 Versicherungsmonaten die nach § 236 Abs 1 Z 2 lit a ASVG erforderliche Wartezeit von 180 Versicherungsmonaten nicht erfüllt. Da der türkische Militärdienst von 3 Jahren, 10 Monaten und 28 Tagen, insgesamt 46 Monaten nur eine Ersatzzeit darstelle, habe der Kläger bis zum Stichtag keine 180 Beitragsmonate erworben, so daß auch die (sog ewige) Anwartschaft (Wartezeit nach Abs 4 leg cit) nicht erfüllt sei.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Es verneinte die behauptete Mangelhaftigkeit (mangelnde Anleitung des in erster Instanz unvertretenen Klägers) und erachtete auch die Rechtsrüge als nicht berechtigt. Weder das Prozeßvorbringen des Klägers noch die übrige Aktenlage böten einen Hinweis auf vom Erstgericht nicht festgestellte Versicherungszeiten. Der in der Türkei abgeleitstete Militärdienst sei richtigerweise als Ersatzzeit (§ 228 ASVG) zu berücksichtigen.

Gegen das Berufungsurteil richtet sich die nicht beantwortete Revision des Klägers wegen Mangelhaftigkeit und Nichtigkeit des Verfahrens, Aktenwidrigkeit und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit den Anträgen, die Urteile der Vorinstanzen im klagestattgebenden Sinn abzuändern oder allenfalls aufzuheben.

Rechtliche Beurteilung

Die nach § 46 Abs 3 ASGG auch bei Fehlen der Voraussetzungen des Abs 1 leg cit zulässige Revision ist berechtigt.

Die geltend gemachte Mangelhaftigkeit und Aktenwidrigkeit (§ 503 Z 2 und 3 ZPO) liege nicht vor (§ 510 Abs 3 leg cit). Angebliche Mängel des Verfahrens erster Instanz, die in der Berufung behauptet, vom Berufungsgericht aber verneint wurden, aber auch solche, die in der Berufung nicht behauptet wurden, können nach stRSp des erkennenden Senates auch in Sozialrechtssachen in der Revision nicht mehr geltend gemacht werden (SSV-NF 5/116 und 120 jeweils mwN).

Ob das erstinstanzliche Urteil iS des § 477 Abs 1 Z 4 ZPO nichtig ist, weil dem angeblich der deutschen Gerichtssprache nicht mächtigen Kläger bei der Tagsatzung vom 21.2.1991 kein Dolmetscher beigestellt wurde, ist im Revisionsverfahren nicht mehr zu prüfen, weil diese angebliche Nichtigkeit in der Berufung nicht geltend gemacht wurde (SSV-NF 5/41 mwN).

Die Rechtsrüge ist hingegen berechtigt.

(Paragraphen ohne Gesetzesangabe sind solche des ASVG.)

Der Anspruch auf die vom Kläger begehrte, im § 222 Abs 1 Z 1 lit a genannte Leistung ist nach § 235 Abs 1 an die allgemeine Voraussetzung geknüpft, daß die Wartezeit durch Versicherungsmonate iS des Abs 2 erfüllt ist (§ 236). Nach Abs 2 sind für die Wartezeit - abgesehen von hier nicht anzuwendenden Ausnahmen - die Versicherungsmonate aller Zweige der Pensionsversicherung zu berücksichtigen. Da der Kläger nach den Rechtsvorschriften der Republik Österreich und der Türkischen Republik Versicherungszeiten erworben hat, sind diese nach Art 18 des Abkommens zwischen diesen beiden Staaten über Soziale Sicherheit vom 2.12.1982 BGBl 1985/91 (Abk) ua für den Erwerb eines Leistungsanspruches zusammenzurechnen, soweit sie nicht auf dieselbe Zeit entfallen (Siedl-Spiegel, Zwischenst SV Lfg 24 Allg Teil 80). Z 7 des Schlußprotokolls zu diesem Abk ergänzt zu Art 18: "In welchem Ausmaß und in welcher Weise Versicherungszeiten zu berücksichtigen sind, richtet sich nach den Rechtsvorschriften des Vertragsstaates, in dessen Versicherung diese Zeiten zurückgelegt worden sind."

Beansprucht eine Person, die nach den Rechtsvorschriften beider Vertragsstaaten Versicherungszeiten erworben hat, eine Leistung, so hat der zuständige österreichische Träger zunächst gemäß Art 19 Abs 1 lit a Abk nach den von ihm anzuwendenden Rechtsvorschriften festzustellen, ob die betreffende Person unter Zusammenrechnung der Versicherungszeiten Anspruch auf die Leistung hat. Gemäß Z 8 des Schlußprotokolls zu Art 19 des Abk gelten für die Durchführung des Abs 1 lit b und c und Abs 2 30 nach den türkischen Rechtsvorschriften zurückgelegte Beitragstage als ein nach den österreichischen Rechtsvorschriften zu berücksichtigender Versicherungsmonat und umgekehrt.

Nach Art 20 Z 3 Abk sind bei der Durchführung des Art 19 Abs 1 türkische Versicherungszeiten ohne Anwendung der österreichischen Rechtsvorschriften über die Anrechenbarkeit zu berücksichtigen (lit a).

Die Wartezeit für die Alterspension ist nach § 236 erfüllt, wenn am Stichtag (§ 223 Abs 2) mindestens 180 Versicherungsmonate vorliegen (Abs 1 Z 2 lit a), die innerhalb der letzten 360 Kalendermonate liegen müssen (Abs 2 Z 2). Fallen in diesem Zeitraum neutrale Monate (§ 234), so verlängert er sich um diese Monate (Abs 3). Die Wartezeit ist auch erfüllt, wenn bis zum Stichtag mindestens 180 Beitragsmonate erworben sind (Abs 4).

Nach § 232 Abs 1 gilt der einzelne Versicherungsmonat als Beitragsmonat der Pflichtversicherung oder der freiwilligen Versicherung oder als Ersatzmonat, je nachdem Beitragszeiten der Pflichtversicherung oder der freiwilligen Versicherung oder Ersatzzeiten in dem betreffenden Monat das zeitliche Übergewicht haben.

Im Abk bedeutete der Ausdruck "Versicherungszeiten" nach Art 1 Abs 1 Z 7 Beitragszeiten und gleichgestellte Zeiten, die nach den Rechtsvorschriften der beiden Vertragsstaaten als solche gelten. Dabei gelten als "Beitragszeiten" Zeiten, für die nach den Rechtsvorschriften eines Vertragsstaates Beiträge entrichtet sind oder als entrichtet gelten, als "gleichgestellte Zeiten" solche, soweit sie Beitragszeiten gleichstehen (Siedl-Spiegel, aaO Lfg 22, 11).

Als neutral sind die im § 234 Abs 1 aufgezählten Zeiten anzusehen, die nicht Versicherungszeiten sind. Sie sind als neutrale Monate zu erfassen. Neutraler Monat ist jeder Kalendermonat, in dem mindestens 15 Tage neutraler Zeiten liegen und der nicht Versicherungsmonat ist (Abs 3). Nach Art 20 Z 3 lit b Abk gelten als neutrale Zeiten auch solche, während derer der Versicherte einen Anspruch auf eine Pension aus dem Versicherungsfall des Alters bzw der Invalidität nach den türkischen Rechtsvorschriften hatte.

Nach der dargestellten Gesetzes- und Abkommenslage ist daher zunächst der Beobachtungszeitraum nach § 236 Abs 2 unter Berücksichtigung allfälliger neutraler Monate zu ermitteln. Dabei ist eine Verschiebung des Beobachtungszeitraumes durch neutralen Monaten entsprechenden Zeiten in der Türkei im Abk nur hinsichtlich der den neutralen Zeiten nach § 234 Abs 1 Z 2 lit a entsprechenden Zeiten vorgesehen, während deren der Versicherte Anspruch auf eine Pension aus dem Versicherungsfall des Alters bzw der Invalidität nach den türkischen Rechtsvorschriften hatte (Siedl-Spiegel, aaO Lfg 24, 83).

Das Vorliegen neutraler Monate innerhalb der letzten 360 Kalendermonate vor dem Stichtag, der diesen Zeitraum um diese Monate verlängern würde, wurde von den Vorinstanzen weder erörtert noch festgestellt, obwohl der Kläger in der Tagsatzung vom 21.2.1991 behauptet hatte, er "beziehe seit 15 Jahren in der Türkei eine Pension". Daher kann noch nicht verläßlich beurteilt werden, ob die im Beobachtungszeitraum erworbenen österreichischen und türkischen Versicherungszeiten zur Erfüllung der Wartezeit nach § 236 Abs 1 ausreichen. Dabei können allenfalls vor dem Beginn des Beobachtungszeitraumes in der Türkei zurückgelegte Versicherungszeiten zur Erfüllung der Wartezeit nach diesem Absatz ebensowenig herangezogen werden wie entsprechende österreichische Zeiten. Die im Abk vorgesehene Bestimmung, wonach die türkischen Versicherungszeiten ohne Anwendung der österreichischen Rechtsvorschriften über die Anrechenbarkeit heranzuziehen sind, gehen im Hinblick auf den Entfall der Anrechenbarkeit im Rahmen der

40. ASVGNov seit 1.1.1985 ins Leere (Siedl-Spiegel, aaO Lfg 24, 83).

Zur Erfüllung der Wartezeit von 180 Beitragsmonaten nach § 236 Abs 4 sind Versicherungszeiten in der Türkei - ohne Rücksicht auf den Beobachtungszeitraum - dann zu berücksichtigen, wenn ihnen nach dem türkischen Recht die Qualifikation als Beitragszeiten zukommt (Siedl-Spiegel, aaO Lfg 25, 85). Da das Abk diesbezüglich keine Begriffsbestimmung aufweist, wird von Beitragszeit nur dann gesprochen werden können, wenn Zeiten in einem auf Beiträgen beruhenden System der Sozialen Sicherheit erworben wurden, das heißt, wenn die Gewährung der Leistungen aus dem System in der Türkei entweder von einer unmittelbaren finanziellen Beteiligung der geschützten Person oder ihres Arbeitgebers oder von einer Erwerbstätigkeit während einer Wartezeit abhängt (sa Rundbrief des Hauptverbandes der österreichischen Sozialversicherungsträger vom 10.1.1985, 24-32.2/84 Ur/Sb, zit bei Siedl-Spiegel, aaO Lfg 25, 85, unter Bezugnahme auf Art 1 lit y des Europäischen Abkommens über Soziale Sicherheit vom 14.12.1972 BGBl 1977/428).

Zur verläßlichen Beurteilung, ob es sich bei der vom Erstgericht als "Militärdienstzeit" qualifizierten Zeit vom 26.(richtig 16.) 4. 1943 bis 14.3.1947 nach türkischem Recht um eine Beitragszeit im dargestellten Sinn handelt, fehlen nähere Feststellungen über die vom Kläger während dieses Zeitraumes ausgeübte Tätigkeit, die dafür allenfalls geleisteten Beiträge und die türkische Rechtslage.

In diesem Zusammenhang sei bemerkt, daß das Formular Ö/T 15 (Stücke 7 und 8 des den Kläger betreffenden Pensionsaktes der Beklagten) nicht entsprechend den Anmerkungen ausgefüllt wurde und daher nicht unbedenklich erscheint und bisher auch nicht ausreichend in die deutsche Gerichtssprache übersetzt wurde. Von wem die im Akt erliegende, von der Beklagten vorgelegte und vom Erstgericht bei der Abfassung seines Urteils benützte, jedoch erst nach Schluß der Verhandlung nicht beglaubigte veranlaßte Übersetzung der Bescheinigung in türkischer Sprache vom 9.4.1990, in der auch der Zeitraum vom 16.4.1943 bis 14.3.1947 aufscheint, stammt, ist nicht ersichtlich.

Wegen der aufgezeigten wesentlichen Erörterungs- und Feststellungsmängel waren die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben; die Rechtssache war zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen (§§ 496, 499, 503 Z 4, 510, 511 und 513 ZPO).

Im fortgesetzten Verfahren dürfen die Parteien auch neue Tatumstände und Beweise vorbringen, die wegen des Neuerungsverbotes im Berufungsverfahren (§ 482 Abs 2 ZPO) und in der Revision (§ 504 Abs 2 leg cit) unzulässig waren. Sämtliche notwendig erscheinenden Beweise werden gemäß § 87 Abs 1 ASGG von Amts wegen aufzunehmen sein.

Der Vorbehalt der Entscheidung über den Ersatz der Kosten des Berufungsverfahrens und der Revision beruht auf dem gem § 2 Abs 1 ASGG auch in Sozialrechtssachen anzuwendenden § 52 Abs 1 ZPO.

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